Platzspitzbaby. Franziska K. Müller

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bereits in der Hüfte und dem dortigen Lymphsystem aus. Die Notfallärzte herrschten die Eltern an, ich hätte die nächste Nacht nicht überlebt. In den folgenden Tagen musste ich ohne Narkose mehrere Kniespülungen über mich ergehen lassen. Ich litt Höllenqualen, und meine Schreie führten dazu, dass Mutter vor Publikum unter Wehklagen in Ohnmacht fiel.

      Das Böse bahnte sich unaufhaltsam den Weg in unser Leben. Im Nachhinein kann ich sagen: Mutter wehrte sich nicht. Nicht für sich und nicht für uns. Sie verfügte über Erfahrungen mit harten Drogen, wusste, dass sich das Ausmaß der Katastrophe mit Verzug entfaltet, in der Schonfrist Narrenfreiheit herrscht, weil sich alles leugnen und vertuschen lässt, auch wenn das Offensichtliche bereits auf der Hand liegt. Sie wusste, dass man sich den Anfängen mit aller Kraft entgegenstellen muss, ansonsten ein Unglück droht, das alles auflösen wird: die Menschlichkeit und die Fürsorglichkeit, den Anstand und die Moral. Sie wusste es, als sie sich mit den immer gleichen Rechtfertigungen vor sich selbst und in stillen Vorwürfen, die meinen Vater schuldig sprachen, einen ersten Schuss setzte, dem tausend weitere folgten. Man kann jene, die an einen glauben und das Schreckliche nicht wahrhaben wollen, lange Zeit belügen, betrügen, bestehlen. Nicht um meinen Vater zu schonen, sondern um sich seiner Kritik zu entziehen, vertuschte Mutter die Tatsachen so lange, bis es zu spät war. Auch für mich, die sie in den Abgrund mitriss, uneinsichtig und mitleidlos.

      Heroin, das stärkste Opiat überhaupt, ist eine Droge, die so süchtig macht, dass Menschen, die ihr verfallen, ihre Kinder verhungern und verdursten lassen, für einen Schuss zu Mördern werden, sich für zehn Franken prostituieren. Die Belohnung ist ein Zustand, der als göttliche Erfüllung beschrieben wird, mit einem Aufenthalt im Mutterleib vergleichbar oder mit einem hundertmal größeren Glück, als man es jemals zuvor empfand. In Wirklichkeit entspricht diese Sucht dem Bedürfnis nach einem gefühllosen Zustand, der völligen Loslösung von der Umwelt und dem Verlust aller Wahrnehmung, die einem mit dem Leben und seinen Forderungen verbindet. Nur die Schwächsten finden dies erstrebenswert, jene, denen ein fünfminütiges Ausharren in der Wirklichkeit so unerträglich erscheint, dass sie dieser Angst ihre Existenz opfern.

      Neuere Studien besagen, dass neurologische Voraussetzungen die Suchtpersönlichkeit steuern, ein Mangel an Glückshormonen für die Abhängigkeit verantwortlich sei, die als Folge von gestörten Regulationsvorgängen im Belohnungssystem mit Auswirkungen auf Motivation, Gedächtnis und Impulskontrolle betrachtet werden müsse. In diesem Sinn bestimmte die WHO (World Health Organization), dass unter dem Abhängigkeitssyndrom leidenden Menschen keine Willensoder Charakterschwäche unterstellt werden dürfe. In meiner Logik heißt es, dass die Süchtigen keine selbstverantwortlichen Individuen sind, denen man paradoxerweise aber die Kindererziehung überlässt. Vermutlich lebten jene, die diese Definitionen ausarbeiteten, auch nicht jahrelang mit einem drogenabhängigen Menschen zusammen. In meiner Wahrnehmung opferte Mutter dem Zustand des Nichtseins – freiwillig und mit großer Entschlusskraft – alles.

       Frühe Schicksalsjahre

      Sechsjährig, machte ich einen folgenschweren Fund. Unsere Möbeleinrichtung stammte aus diversen Brockenhäusern, und manch gut erhaltene Stücke erhielten meine Eltern von Kollegen. Beim Prunkstück des gemütlichen Mobiliars handelte es sich um eine weiß lackierte Wohnwand mit stuckaturverzierten Spiegeln. Die wie aus Zuckerguss hingespritzten Ranken und Rauten begeisterten mich ebenso wie die in den einzelnen Fächern untergebrachten Errungenschaften: ein Videogerät und ein CD-Player. Als Kleinkind schuf mir ein erstes Baby-Kassettengerät mit einem pinkfarbenen Mikrofon eine musikalische Grundlage, die sich später als wertvoll erweisen sollte. Meine damals tausendfach aufgenommene und wieder abgespielte Stimme schulte mein Gehör früh, und noch heute erkenne ich den gesungenen Misston sofort. Irgendwann wurden die Batterien meines Lieblingsspielzeugs nicht mehr ersetzt, und nach Jahren, in denen ich Papas Schellackplatten aus den Plattenhüllen gezogen, heimlich auf den Plattenteller platziert und die Nadel vorsichtig daraufgesetzt hatte, um die Klänge von Led Zeppelin und Tina Turner in mich hineinsickern zu lassen, eröffneten mir die neuen, silberfarbenen Scheiben den Zugang zur rätselhaften Gefühlswelt der Erwachsenen. Hymnen wie »Stairway to Heaven« oder David Bowies »Moonage Daydream« sind für mich bis zum heutigen Tag mit dem Niedergang meiner Familie verbunden.

      Wie so oft schob ich an diesem späten Nachmittag eine Haarspange in den Videorecorder. In der kindlichen Hoffnung, die Silhouette des Objektes möge bald auf dem schwarzen Bildschirm erscheinen, vertrieb ich mir mit diesem Spiel regelmäßig die Zeit. Das Vorhaben misslang, und da es mir eigentlich verboten war, mit den technischen Gerätschaften der Erwachsenen zu hantieren, musste die Klammer auch wieder entfernt werden, was sich diesmal als schwierig erwies. Ich zog die schwarze Box hervor, drehte, wendete und schüttelte sie so lange, bis die Klammer zu Boden fiel – und mit ihr ein mir unbekannter Gegenstand, den ich sofort als Geheimnis erkannte, das ich aus seinem Versteck befördert hatte. Zwei Stufen auf einmal erklimmend, rannte ich ins elterliche Schlafzimmer im oberen Stockwerk, weckte meinen Vater, der sich kurz hingelegt hatte, und hielt ihm meine Entdeckung vor das Gesicht. Ich sehe Papa noch heute vor mir, wie er sich mit einem gewaltigen Ruck aufsetzte, mir das Fundstück langsam aus der Hand nahm und es sekundenlang mit versteinerter Miene betrachtete: In seiner Hand lag ein Kanülendeckel. Ein durchsichtiger Plastikschutz, in dem eine Injektionsnadel steril und sicher aufbewahrt werden kann. Er schwieg. Fassungslos. Die Hoffnung auf einen Schlag zerstört, alle Beschwichtigungen als Lüge enttarnt: Schluchzend bestätigte Vater meine Befürchtung, dass etwas sehr Schlimmes geschehen war.

      Was ich bis anhin als beängstigende, für mein kindliches Verständnis aber auch als normale Zustände wahrgenommen hatte, erwies sich als Auftakt einer Katastrophe, die sich im grellen Licht der Wahrheit unbändig verhielt. Gewohnt, einen Fehler gutzumachen, indem man sein Verhalten zu ändern versucht, stellte ich fest, dass der schreckliche Fund bei meiner Mutter das Gegenteil bewirkte: Sie agierte von nun an entfesselt und wie befreit. Heute weiß ich: Sie ließ sich abermals in ein Methadonprogramm aufnehmen, aber wie die meisten Süchtigen jener Zeit verscherbelte sie die Ersatzdroge bald auf dem Zürcher Platzspitz, um an Bargeld zu gelangen, oder sie konsumierte das Methadon in einem lebensgefährlichen Mix mit anderen harten Drogen: Heroin und Kokain. Diese selbstmörderischen Cocktails trieben sie später in psychotische Zustände, an den Rand des Wahnsinns und in den folgenden Jahren unzählige Male beinahe in den Tod.

      Innerhalb weniger Monate veränderte sich ihre Persönlichkeit. Während ihr Äußeres in hübsche Kleider gehüllt blieb, die Lippen manchmal noch rot schimmerten, die Augen mit Kajal umrandet waren, wurde sie krankhaft egomanisch und zunehmend unberechenbar im Umgang mit Vater und mir. Wie die meisten Junkies schreckte sie vor keiner Lüge, keinem Diebstahl und keinem Verrat zurück, um ihre Sucht zu befriedigen. Die Ersparnisse längst heimlich für den Drogenkauf entwendet, betrog sie Vater in den folgenden Jahren um den hart erarbeiteten Lohn und meine Großmutter um Zehntausende von Franken. Oma tolerierte das längst auffällige Verhalten ihrer Schwiegertochter, damit die Verbindung zu Sohn und Enkelin nicht abbrechen möge. Sie blieb nebst meinem Vater die einzige verlässliche Bezugsperson in meinem Leben. Die wenigen verbliebenen Kontakte zu Erwachsenen brachen in den folgenden Monaten ab, sogar Mamas geliebte Schwester, die es trotz der widrigen Umstände in der Kindheit zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatte, distanzierte sich von uns. Den Kindern im Dorf wurde der Aufenthalt bei mir zu Hause bald verboten, und ich selbst war kein gern gesehener Gast mehr bei meinen Kollegen. Die desolaten Zustände im Hause Halbheer drangen immer öfter nach außen und setzten offensichtlich auch den Hartgesottenen zu, vielleicht distanzierten sie sich auch aus Angst, Faulheit oder Feigheit.

      Allein Oma hielt zu uns. Sie litt für mich und für ihren Sohn, dem das Leben ebenfalls entglitt, dessen Kraft nach arbeitsreichen Tagen kaum ausreichte, um das Kind zu versorgen, die Frau zu zähmen, die jetzt auch tagelang verschwand. Einmal reinigte Großmutter die in Chaos und Dreck versinkende Wohnung. Zehn Stunden lang. Mutter duldete diese Hilfeleistung so lange, bis die letzte Mülltüte entsorgt und die Putzeimer scheppernd verstaut waren. Danach erschien sie verschlafen und mit wirrem Haar auf dem Treppenabsatz, beschuldigte, beleidigte und bedrohte Großmutter so ausgiebig, bis diese heftig schluchzend das Haus verließ. Doch sie kam wieder. Oma blieb mein Ein und Alles. Sie entschädigte mich für vieles: Falsches Mitleid für meine Situation kannte sie nicht. Sie