Platzspitzbaby. Franziska K. Müller

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das ich Mama pflückte, wurde gepresst und eingeklebt, es verschwand im Lauf der Jahre ebenfalls: Ein getrockneter Leimfleck erinnert an diese Geste meiner frühen Zuneigung, die so lange Zeit grenzenlos blieb.

      Ich liebte meine Mutter über alles, daran erinnere ich mich mit Schmerz und Wehmut. Sie roch so gut. Sie hob mich in die Luft, und ich vertraute ihr blind. Sie bedeckte mich mit Küssen, umschlang mich mit ihren Armen, maßlos in ihrer Liebe zu mir und immer auf der Suche nach dem Glück, das sie genauso wie das Unglück wie durch eine Lupe stärker und intensiver wahrzunehmen schien als andere Menschen. Die guten Erinnerungen symbolisieren für mich heute den Versuch meiner Mutter, ein normales Leben zu führen. Ein Vorsatz, der fulminanter nicht hätte scheitern können, und die lichten Momente sind heute auch ein trauriger Nachruf auf alles, was mir später abhandengekommen ist.

      Meine Eltern zogen nach der Hochzeit in eine kleine Wohnsiedlung an die Peripherie von Zürich. Vaters Wunsch nach einem geregelten und beinahe gutbürgerlichen Leben schien sich zu erfüllen. Die Rasenflächen zwischen den modernen Häusern präsentierten sich sauber und saftig, die übrigen jungen Familien, die dort mit ihren Kindern lebten, gehörten, so ähnlich wie wir, dem Mittelstand an, und die dunkelhäutige Frau mit dem putzigen Baby war ein gern gesehener Gast in den gepflegten Heimen der anderen Mütter. Ich erinnere mich an Ausflüge mit den Eltern, an einen mir endlos erscheinenden Sommer mit einem Planschbecken im Garten und einem Sandkasten, der über Nacht sorgsam abgedeckt wurde. Meine Mutter las mir Geschichten vor und brachte mir die ersten Lieder bei. Die Stimmen meiner Eltern, die sich neckten, stritten und sich später lachend küssten, bleiben mir für immer in Erinnerung.

      Vater arbeitete als Akkordmaurer, seine Frau betätigte sich ausschließlich als Hausfrau und Mutter. Sie kochte die besten Rahmschnitzel der Welt. Sie war eine talentierte Strickerin, und meine Garderobe war dementsprechend elaboriert. Einmal buken wir Kekse. Ich durfte Butter, Mehl und Eier verkneten, und zusammen stachen wir aus dem goldgelben Teig Tiere und Sterne aus, die wir allesamt aßen, bevor Papa nichts ahnend nach Hause kam. Die Wohnung, lichtdurchflutet und modern, wurde wöchentlich gereinigt, mein Zimmer war spärlich eingerichtet, jedoch stets ordentlich und sauber. Zu meinem Geburtstag lud Mutter die Kinder der Siedlung ein und servierte eine selbst gemachte Torte. In späteren Jahren sagten die Geladenen weder zu noch ab, blieben jedoch allesamt meinem Fest fern, weil ihnen der Umgang mit mir verboten und mein Zuhause zur Gefahrenzone erklärt worden war.

      Die junge Sandrine trug poppige Kleidungsstücke im New-Wave-Stil, und sie war im Besitz einer beachtlichen Sammlung von hochhackigen Schuhen in allen Farben. Die Fotografien zeigen eine hübsche, gepflegte Frau. Nur der Blick – intelligent und widerspenstig – lässt erahnen, dass bald anderes sie beschäftigt haben muss als der bloße Gedanke, wie man Mann, Kind und Nachbarn zufriedenstellt. Ob die Fassade aus bemaltem Karton war, die beim nächsten Windstoß zusammenfallen musste? Wie sah es in ihrem Innern wirklich aus? Waren die geordneten Verhältnisse ein Trugschluss, ein Ignorieren ihrer Persönlichkeit? Nährten die luftigen Gardinen, der akurat geschnittene Rasen, die Routinen und die Rechtschaffenheit den Aufruhr, beschleunigten sie den Drang, alles hinter sich zu lassen? Wie viele Stunden stand sie gelangweilt und innerlich leer mit dem Baby auf dem Arm am Fenster, mit Blick in ein Dasein, dem sie sich nicht zugehörig fühlte, und in der innigen Hoffnung, es möge endlich etwas geschehen?

      Mit dem Einverständnis meines Vaters und im Willen, eine Abwechslung vom Alltag herbeizuführen, arbeitete Mutter bald zweimal pro Woche in einer Bar. Sie habe wiederholt von rassistischen Übergriffen berichtet und sei bei ihrer Rückkehr öfters alkoholisiert gewesen, wollte aber unter keinen Umständen auf diese Tätigkeit verzichten, berichtete mir Papa später. In einer dieser Nächte ereignete sich ein dramatischer Zwischenfall: Nach wiederholten sexuellen Belästigungen durch einen Stammgast zerschlug Mutter im Bruchteil einer Sekunde ein Bierglas an der Tischkante und attackierte ihren Widersacher heftig mit dieser tödlichen Waffe. Der Schwerverletzte musste sich einer fünfstündigen Operation unterziehen und ging später rechtlich gegen Mutter vor, die allerdings in allen Instanzen freigesprochen wurde, da sie in Notwehr gehandelt hatte, wie das Gericht befand. Ob Mutters Rage durch diesen Vorfall entfacht wurde, weiß ich nicht genau, aber das gewalttätige Ereignis steht in meiner Erinnerung in Zusammenhang mit einer Zäsur im Leben meiner noch jungen Eltern, und es ist anzunehmen, dass Mutter spätestens ab diesem Zeitpunkt erneut in Kontakt mit harten Drogen geriet: Nach einer ärztlichen Untersuchung hatte man ihr eröffnet, sie sei HIV-positiv. In den späten Achtzigerjahren handelte es sich bei dieser Diagnose um ein Todesurteil, das innerhalb weniger Jahre vollstreckt werden würde.

      In meiner Wahrnehmung war Mutter in dieser Zeit schwanger. Die Ärzte beschieden den Eltern, das Baby würde die Geburt nicht überleben oder hätte aufgrund der großen Ansteckungsgefahr ein kurzes sowie leidvolles Leben vor sich. Da befürchtet wurde, dass die Anstrengungen von Schwangerschaft und Geburt die Aidserkrankung auslösen könnten, die Kinder bald als Halbwaisen und der Mann als Witwer weiterleben müssten, entschieden sich die Eltern – so wurde mir später erzählt – schweren Herzens für einen Abbruch: Am Geburtstag von Papa, den er seither nie mehr feierte, opferte man das Ungeborene zugunsten der Mutter und Ehefrau. Die dramatischen Details und Konsequenzen dieser Entscheidung sind mir nicht im Detail bekannt. Ich erinnere mich, dass mich Mutter nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus mit Geschenken überhäufte, eine Geste, die ich als Kleinkind nicht zu deuten wusste, aber in den folgenden Monaten bemerkte ich, wie die Eltern viel weinten und sich zunehmend in heftige Streitigkeiten verwickelten.

      Mutters Temperament, das nun auch in nüchternem Zustand explosive Züge aufwies, trat im Umgang mit mir öfters zutage. Ihr Zorn konnte durch einen zufällig fliegenden Funken entzündet werden, und eine einfache Verärgerung artete leicht in große Aggressivität aus. Sie schien in solchen Situationen wie von Sinnen, und es ließ sich erahnen, welch gewaltige Kräfte diese Frau entwickeln konnte, würde sie jemandem tatsächlich Schaden zufügen wollen.

      Das Dasein verlief in den ersten vier Lebensjahren scheinbar geordnet: Die Fotografien meiner frühen Kindheit zeigen ein Mädchen in einem bestickten Trachtenkleidchen. Ich sitze breitbeinig und sicher auf einem Dreirad. Oder ich bin artig frisiert ins Bild gerückt, halte eine Eiswaffel oder meinen Plüschbären in die Luft. Heute weiß ich, dass die Idylle bereits unsichtbare Risse aufwies, und bald produzierte Mutter mit der Kamera surreale Momentaufnahmen, die auf eine andere Wahrnehmung der Welt hindeuteten: zerfließende Zimmerpflanzen, eine überbelichtete Fratze und ein Gesicht als bunte Pfütze – ein Bild, das ich keinem Menschen zuordnen kann, den ich kenne. Und anderes hielt sie fest: Wie ich, von zwei großen Hunden verfolgt, durch den Garten renne oder wie ich in halsbrecherischer Höhe ungesichert auf einer Kletterstange sitze mit einem Gesichtsausdruck, der Angst und Unwohlsein verrät. Die Fotografien wurden mit Unterzeilen versehen, doch später strich Mutter das Geschriebene im Drogenwahn durch, beurteilte das Gewesene mit wirren Kommentaren und unzähligen Schandwörtern neu, mehrere Seiten im Album sind heute blutverschmiert.

      Während sie dünner wurde, warf ihre grazile Silhouette immer länger werdende Schatten in unser Dasein, und die Unberechenbarkeit hielt Einzug in mein Leben. Fünfjährig, sollte ich einen ersten Pass erhalten, wir fuhren zusammen in die nahe Stadt. Gekämmt und hübsch gekleidet, spazierte ich in übermütiger Vorfreude auf dieses Ereignis an ihrer Hand zum Fotoautomaten, durfte den Drehsitz hochschrauben, die Einfränkler einwerfen. Posierend und ernst dreinblickend, blendete mich das Blitzlicht. Nachdem der erste Streifen mit vier kleinen Bildern Minuten später in der dafür vorgesehenen Öffnung gelandet war, beschloss Mutter eine zweite, gemeinsame Serie, die sie »Spaßbilder« nannte.

      Zusammen saßen wir nun auf dem Hocker. Der zugezogene Vorhang schützte uns vor den neugierigen Blicken der Passanten. In dieser abgeschlossenen Intimität, auf ihren Knien sitzend, nahm ich ihren Geruch zum ersten Mal als ungewohnt wahr. Die Frau, auf deren Schoß ich saß, roch nicht wie meine Mutter. Sie schwitzte stark, zwang meine Wange gegen ihr nasses Gesicht. Reflexartig wandte ich mich ab und versuchte, mich aus der Umarmung zu befreien. Bereits wütend, befahl sie mir zu lachen und versetzte mir einen Klaps auf den Hinterkopf, eine in letzter Zeit immer häufiger vorkommende Warnung, mich so zu verhalten, wie sie es forderte. Die Passbilder zeigen Mutter und Tochter. Lachend, aneinandergeschmiegt, ein Herz und eine Seele. Ich wusste: Es ist eine Lüge.

      Mutters Wunsch, aufs Land zu ziehen, könnte