Platzspitzbaby. Franziska K. Müller

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Doch sie fürchtete die soziale Kontrolle, denen das zunehmend seltsame Verhalten der dunkelhäutigen Nachbarin nicht entging. Das winzige Dorf befand sich im Berner Oberland: Nur wenige Höfe lagen verstreut in grüner Landschaft, Molkerei, Gartenwirtschaft, der kleine Einkaufsladen säumten den Hauptplatz. Kein Postauto existierte, das Fremde hierher- oder die Einheimischen aus dem Dorf wegführte. Das uralte Bauernhaus stand in ländlicher Idylle in einem kleinen Weiler. Um zwei Wohneinheiten zu gestalten, hatten die Besitzer eine Holzwand durch das verschachtelte und nun geteilte Gebäude mit den vielen kleinen Zimmern gezogen, die sich über mehrere Stockwerke verteilten.

      Anfänglich waren uns die Nachbarn freundlich gesinnt, doch im Verlauf der folgenden Jahren wurden sie Zeugen von unglaublichen Szenen und damit verbundenen Polizeieinsätzen, die sie in Schrecken und Unmut versetzten. Zwei Tage nach unserem Einzug strich Mutter die Küche gelb. Es blieb in meiner Wahrnehmung die einzige häusliche Intervention dieser Jahre. Anfänglich gab es noch Routinen und einige Regeln, der Fernsehkonsum war beschränkt, ich trug saubere Kleidung, musste mir die Zähne putzen. Vater und Mutter achteten darauf, dass ich mich im Umgang mit anderen manierlich verhielt, jedoch – daran erinnere ich mich jetzt – hielt es Mama für wichtig, dass Erwachsene nicht unhinterfragt als Autoritätspersonen akzeptiert werden, auch Kinder ein Recht auf Widerspruch und eigene Gedanken haben und in diesem Sinn auch Kritik äußern dürfen.

      In dieser Haltung ermutigte sie mich, bei anderen Gelegenheiten wies sie mich scharf zurecht: Einmal riss ich einer Fliege die Flügel aus. Mutter nahm mich entsetzt zur Seite, zupfte mich an den feinen Härchen meiner Schläfe und fragte, ob sie ein Haar ausreißen solle, damit ich den Schmerz der malträtierten Fliege nachempfinden könne. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf und beherzigte ihre Worte, künftig allen Lebewesen mit dem gleichen Respekt zu begegnen. Solche Erinnerungen lösen eine brennende Sehnsucht in mir aus, weil sie die Persönlichkeit meiner Mutter offenbaren und ihren damaligen Wunsch, mir Werte zu vermitteln.

      Ihr späterer Lebenswandel trug nicht zur Verbesserung der Toleranz einer Dorfgemeinschaft bei, in der keine anderen Ausländer lebten und familiäre Probleme hinter den urchigen Haustüren ausgetragen wurden. Aber bereits bevor die Dinge zu Hause außer Rand und Band gerieten, sorgten die Zugezogenen für Geschwätz. Welche unfreundlichen Vermutungen und Urteile man zu den beiden exotisch anmutenden weiblichen Familienmitgliedern anstellte, wurde mir ungefiltert durch den Nachwuchs vermittelt, und bereits im Kindergarten blieb ich – zusammen mit dem zweiten Außenseiter, einem Jungen, der sich am liebsten in der Puppenecke aufhielt – immer allein. Schließlich weigerten sich die anderen Kinder, mich zu berühren. Das Argument lautete, ich sei schmutzig. Der Beweis? Meine dunkle Hautfarbe.

      Diesen Vorfall erzählte ich Mutter, und bei dieser Gelegenheit verteidigte sie mich sogar, indem sie am nächsten Tag im Kindergarten vorstellig wurde, alle zum Lavabo zitierte und ihre eigenen Hände mit Seife einschäumte. Die Mädchen und Buben taten nun, was ihnen die fremde Frau befahl. Sie versuchten, Mutters Hautoberfläche vom Schmutz zu befreien, und stellten dabei fest: Der vermeintliche Dreck war offenbar auch mit viel Seife nicht abwaschbar, der Grund für die dunkle Hautfarbe musste also ein anderer sein. Der so erbrachte Beweis für meine Sauberkeit führte dazu, dass die anderen nun manchmal mit mir spielten. Die Abneigung einiger Dorfbewohner blieb intakt, und den später stattfindenden Attacken von manchen Mitschülern blieb ich bald ohne mütterlichen Schutz ausgeliefert.

      Vater arbeitete zehn Stunden pro Tag. Mutter blieb fordernd und anmaßend in ihren Wünschen nach einem Mann, der viel Zeit mit der Familie verbringt, andererseits genügend Geld verdient, ein sorgloses Leben zu ermöglichen. Im zweiten Jahr auf dem Land erinnere ich mich nur bruchstückhaft an ihre Präsenz im Alltag und sehe sie mehrheitlich schlafend vor mir; in einem ewigen Dämmerzustand, zu keiner Handlung mehr fähig, trank sie nun regelmäßig Sirup aus einem winzigen Becher. Es handelte sich um die Ersatzdroge Methadon, ein synthetisch hergestelltes Opioid, das auch viele andere Süchtige nicht davon abhalten konnte, weiterhin oder erneut harte Drogen zu konsumieren, wie ich heute weiß. Die Bewegungen wie in Zeitlupe, die Sprache unklar und der bisher so scharfe Blick aus schwarzen Kirschaugen verschwommen, schlief Mutter nun während einer Tätigkeit mitten in der Bewegung ein. Wenn ich sie weckte, mit der kindlichen Forderung nach Beschäftigung, weil ich hungrig oder durstig war, reagierte sie ungehalten, und stets bestritt sie vehement, geschlafen zu haben, eine Behauptung die mit der Forderung verbunden war, Papa auf keinen Fall von ihrer Untätigkeit zu berichten. Ich wurde zur stillen Mitwisserin ihrer unendlichen Müdigkeit, die in meiner Wahrnehmung vieles weniger werden ließ: ihre Zuneigung, ihre Fürsorglichkeit, ihr Lachen, ihre Lebendigkeit und ihre Schönheit.

      Und doch war dies mein Zuhause und die Art, wie Mutter agierte, meine Normalität und meine Wahrheit. Die Überzeugung, dass dies ein normales Familienleben sei, die Welt aller Erwachsenen so oder ähnlich funktioniere, begleitete mich lange Zeit. Es gab wenig Möglichkeiten, um zu vergleichen; wie andere Menschen lebten, welchen Regeln und Routinen sie folgten, wie sie miteinander umgingen, wusste ich nicht, da wir kaum Kontakt zu den anderen Dorfbewohnern pflegten. Was ich im Kindergarten feststellte: Die anderen trugen kleine Taschen umgehängt, in denen sich verpackte Brote oder Kuchenstücke befanden, die sie in der Pause verzehrten. Meine Umhängetasche war meist leer. Der zweite Unterschied betraf die Frisuren der Mädchen. Die glatten blonden oder braunen Haare der Mädchen, zur frühmorgendlichen Stunde gescheitelt, mit einem nassen Kamm glatt gekämmt und von den Müttern zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten, beeindruckten mich. Meine Mähne hing meist ungekämmt über die Schultern. Um dem allgemeinen Bild zu entsprechen, vielleicht auch, um eine Fürsorglichkeit vorzutäuschen, die nur noch selten existierte, begann ich mich später selbst zu frisieren. Das Resultat – ein Zickzackscheitel, schiefe Zöpfe und verschiedene Spangen, die ich mir willkürlich in das Haar geklemmt hatte – sorgte bei meiner Rückkehr am Mittag für wenig Begeisterung. An der Schwelle zu einem Wutausbruch, begann Mutter das Kunstwerk schweigend aufzulösen und ab der Kopfmitte grob durchzukämmen: bei dichter und lockiger Haarqualität handelt es sich dabei um ein schmerzhaftes Prozedere, wie sie selbst nur allzu gut wusste. Ich spürte ihre Verärgerung hinter dieser Aktion und spürte instinktiv, dass sie mich für ihre eigene Unzulänglichkeit bestrafen wollte.

      Ihre Gedankengänge und Reaktionen wurden zunehmend unberechenbar. Als kleines Kind konnte ich dies so nicht benennen, doch immer öfters ergriff mich Unsicherheit und Angst, wenn Mutter in meiner Nähe war. Unordnung und Abfall breiteten sich im Haus aus, geputzt wurde nur noch selten. Die Katzen warfen ihre Jungen am einzigen Ort, der ihnen reinlich genug erschien: in meinem Kleiderschrank. Noch wiegte sich Vater in der falschen Hoffnung, das Schreckliche möge nicht wahr sein, und konzentrierte sich auf die offensichtlichen Verfehlungen seiner Frau, die eine ausgeprägte Kaufsucht entwickelt hatte. Trotz Ermahnungen und inständiger Bitten konsumierte sie während Monaten beinahe wahllos, was die freie Warenwelt zu bieten hatte. Sie beteiligte sich an Schneeballsystemen, orderte via Teleshopping Unbrauchbares in großen Mengen: Ob der Brusteinlagen, Staubwedel, elektrischen Rührbesen und exotischen Haarteile in allen Farben quoll das Häuschen bald über, während es am Lebensnotwendigen zunehmend fehlte. Einmal entdeckte mein Vater fünfzig Flaschen Markenparfüm in einem Versteck, zwei Wochen später lieferte ein Lastwagen dreihundert Portionen Katzenfutter an.

      Papa war außer sich, vor allem, weil im Kühlschrank bis auf ein paar verschimmelte Kartoffeln nun meist gähnende Leere herrschte, er nach der Arbeit immer öfters zu Putzzeug und Pfannen greifen musste, um mir einen Teller Reis oder Teigwaren zu kochen und danach mein kindliches Bedürfnis nach Liebe und Aufmerksamkeit zu stillen. Nur noch selten fabrizierte Mutter eine Mahlzeit, mit meist ungenießbarem Resultat. Einfachste Verrichtungen, das Zusammenfalten eines Kleidungsstückes, das Einstecken des Staubsaugers oder das Streichen eines Butterbrotes, aber auch Wichtigeres erwiesen sich als Aufgaben, denen sie nicht mehr gewachsen war. Jahre später las ich von einem wissenschaftlichen Experiment in den frühen Achtzigerjahren: Einer gesunden Spinne, die bis anhin perfekte, wundervolle Netze wob, wurden winzige Mengen Heroin verabreicht, die im Mengenverhältnis dem menschlichen Konsum entsprachen. Bald wies das neu gesponnene Netz Unregelmäßigkeiten auf, war löchrig, und nach wenigen Wochen schuf das Tier nur noch ein chaotisches Fragment aus wenigen, ungeordneten Speichelfäden, ein trauriges Gebilde. Zur Nahrungsbeschaffung komplett untauglich, verursachte es den sicheren Tod der Spinne – und ihrer Nachkommen. In dieser Zeit starb ich beinahe an einer schweren