Im Bauch des Wals. Annemarie Bauer

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Название Im Bauch des Wals
Автор произведения Annemarie Bauer
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783940112866



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brüchiges Selbstgefühl festigt. Diese Stabilität ist aber sehr brüchig, sie kann nicht aufrechterhalten werden, wenn sich das stabilisierende Selbstobjekt verändert oder ein Dritter – unter Umständen sogar das bewusst ersehnte eigene Kind – die Bühne betritt.

       Die Zweierbeziehung als Brückenschlag

      Noch in einem anderen Punkt unterscheidet sich die Zweierbeziehung von allen anderen: Sie ist die wichtigste Brücke zwischen Kulturen. Die Mutter nährt das Kind nicht nur mit Milch, sondern mit ebenso lebenswichtigen kulturellen Symbolen: sie vermittelt ihm die „richtigen“ Gesten, Worte, Redeformen, Haltungen zumindest so weit, dass sich das Kind notdürftig orientieren und sich weitere kulturelle Formen aneignen kann.

      Diese Brückenfunktion erbt die sexuelle Beziehung: Wenn Texte wie Die weiße Massai zu Bestsellern werden, zeigt das die ungebrochene Faszination der Vertiefung in das Fremde, der Aneignung des Fremden, die nur in einer Zweierbeziehung möglich ist. Die Zweierbeziehung vermischt zwei Personen; daher auch das Misstrauen aller Kolonisatoren und Missionare gegen das going native, gegen die sexuellen Kontakte zwischen verschiedenen Kulturen, Religionen, Schichten, in denen sich die klaren Orientierungen beider auflösen.

      Die Mischung wird im Faschismus und Nationalsozialismus dämonisiert. Wider alles genetische Wissen heißt es, dass sich im „Halbblut“ die schlechten Eigenschaften beider Rassen zusammentun, obwohl ganze Kontinente vorwiegend von solchen Mischungen besiedelt sind und die Dynamik der modernen Gesellschaft von einer ebenso von Intoleranz wie vom Ringen um Toleranz geprägten Mischkultur – jener der USA – vorangetrieben wird.

      Es ist gut möglich, dass diese Bedeutung der Zweierbeziehung eine neurologische Entsprechung hat. Das menschliche Gehirn funktioniert durch das Zusammenspiel zweier Hirnhälften, die unterschiedliche Aufgaben haben: In der einen werden schnell und vorläufig Bilder erzeugt und ganzheitliche Handlungsmöglichkeiten entworfen; in der anderen werden dann diese Entwürfe kritisch geprüft und mit analytischen Wahrnehmungen verknüpft. Ähnlich kommt es in Zweierbeziehungen zu Entwicklungen, in denen eine Seite die andere prägt, verändert und sich zu ihr in eine dialektische Spannung setzt. Heinrich von Kleist hat beschrieben, wie er durch seine eigene Verschwendung und Gleichgültigkeit gegenüber Geld die eigene Schwester, eine an sich großzügige Frau, durch einige Monate gemeinsamen Wirtschaftens in einen Geizhals verwandelte.

      Das Sozialverhalten der urtümlichsten Kulturen gleicht dem der gruppenlebenden Primaten in vielen Einzelheiten – kleine Gruppen mit intensivem sozialen Austausch. Es unterscheidet sich von den Menschenaffen in drei Details: Werkzeugherstellung, Sprache und die Paarbindung.

      Das Sexualleben der Menschenaffen ist vorwiegend promiskuös; bei Gorillas und Schimpansen paaren sich die Weibchen im Östrus mit allen ranghohen und mit einigen rangniedrigen Männchen. Bindungen von vergleichbarer Intensität sind bei den Primaten nur die zwischen der Mutter und ihren Kindern. Es gibt keine Väter in unserem Sinn; die dominanten Männer spielen diese Rolle für alle weiblichen Tiere und alle Kinder. Man könnte nun annehmen, dass die Ehe entstanden ist, als der Mensch Viehhaltung und Ackerbau entdeckte und es daher notwendig wurde, rechtmäßige Erben für diese Besitztümer zu finden. Aber diese Hypothese ist falsch; es gibt auch in den Jäger- und Sammlerkulturen die Institution der Zweierbeziehung, des festen Partners einer Frau und der Elternschaft von Mann und Frau.

      Im Anschluss an Vernon Reynolds vermute ich, dass die Paarbindung bereits in der frühen Altsteinzeit entstand, als Protohominiden die offene Savanne besiedelten und unsere Vorfahren von Pflanzenessern zu Jägern wurden. Die Jagd wurde eine Tätigkeit der Männer, während die Frauen mit den Kindern an einem Lagerplatz blieben, in dessen Umgebung sie Pflanzen suchten. Diese verglichen mit den Primatengruppen sehr viel höhere Mobilität hätte die Gefahr mit sich gebracht, dass die Männer überhaupt nicht mehr zurückgekehrt wären. Solange die sexuelle Erregung ausschließlich über den Geruch gesteuert wurde, galt „aus der Nase, aus dem Sinn!“ Die gesteigerte, nicht an den Östrus gebundene, sondern in erster Linie durch optische Reize („Liebe auf den ersten Blick“) ausgelöste sexuelle Aktivität des Menschen wurde ein verlässliches Band, um die Männer zu bewegen, von ihren Jagdzügen zu den Frauen heimzukehren und mit ihnen die Beute zu teilen.

      So entstanden auch die Mächte der Erinnerung, die so eng mit Poesie und bildender Kunst verwandt sind: als das Verlangen der Männer, von ihren Streifzügen zurückzukehren, weil sie sich ihrer Frauen erinnerten.1

      In den kleinen Gruppen der Primaten des Tier-Mensch-Übergangsfeldes herrschte eine intensive genetische Auslese, die mit der Entwicklung der Sprache und damit der kulturellen Tradition durch eine Auslese symbolischer Strukturen ergänzt und überformt wurde: Die menschliche Paarbindung ist nicht genetisch bedingt und nicht erworben, sondern beides.

      Zu den zentralen Qualitäten des kindlichen Befindens gehört die Überzeugung, alleine nicht überleben zu können. Sie ist die Quelle der tiefen, irrationalen Abhängigkeit im menschlichen Leben. Wenn ein Kind auf der Straße nach seiner verlorenen Mutter schreit, beruhigt es sich sofort, wenn diese zurückkommt. Die Mutter mag eine Sadistin sein, die das Kind prügelt, sobald sie es sieht, aber dennoch zieht das Kind sie der freundlichen Passantin vor, die es gerne mit nach Hause nehmen und päppeln würde. Diese Qualität wird in unseren sexuellen Beziehungen geweckt, wenn wir ihnen den Charakter der Dauerhaftigkeit zuschreiben. Solange sie diese nicht haben, ist der Liebeskummer meist oberflächlich und wird schnell vergessen. Aber die drohende Auflösung einer Ehe weckt Ängste, kindliches Klammern oder Reaktionsbildungen (wie wütende Distanzierung, Zerstörung des Liebespartners).

       Triebkontrolle zu zweit

      Die tiefe Verankerung der Bezogenheit auf das Liebesobjekt befähigt den Menschen zu großartigen Leistungen für seinesgleichen; sie führt dazu, dass er fähig wird, in seinem eigenen Handeln immer einen anderen mitzudenken. Sie macht ihn zu Vater und Mutter, zur Priesterin und zum Staatsmann. Aber die Tatsache, dass diese Bezogenheit aus dem Material kindlicher Abhängigkeit geschmiedet ist, kann auch dazu führen, dass in Krisen eine destruktive Wut wiederkehrt, mit der früher das kleine Kind den Eltern einimpfen wollte, dass Verlassenheit unerträglich ist. Nach „normalen“ Trennungsschmerzen kann das Kind die Eltern wieder annehmen; nach traumatischen Trennungen gelingt das nicht – der Säugling, der stundenlang schreien musste, verweigert die Brust; das verletzte Kind, das im Krankenhaus eine Notoperation durchlitt, dreht das Gesicht zur Wand, wenn die alarmierte Mutter erscheint. Kleine Trennungen festigen die Bindung, große Trennungen stören, traumatische Trennungen vernichten sie.

      Die sexuellen Triebe sind so mächtig, dass ihre Stärke jeden Menschen – Kinder wie Erwachsene, Männer wie Frauen – bedroht. Das von Natur und Kultur gleichermaßen vorgesehene Gegenmittel ist ein einfühlender Partner. Ihn braucht das Kind ebenso wie der Erwachsene, um seine Libido zu regulieren. Mit seiner Hilfe kann es gelingen, diese Energie zu bändigen; ohne ihn greift das Trauma um sich; es fasst nach dem „nur“ vereinsamten Kind ebenso wie nach dem missbrauchten, das einem Erwachsenen ausgeliefert ist, der sich – ebenfalls aus Mangel an von Empathie bestimmten sozialen Bezügen – an Geschöpfen vergreift, in die er seine eigenen Bedürfnisse projiziert.

      Den vieldeutigen Untersuchungen über anatomische Unterschiede im Zentralnervensystem von Männern und Frauen lassen sich bisher nur in populären Magazinen verhaltensnahe Aussagen abgewinnen. Das gesunde Gehirn funktioniert ganzheitlich; Rückschlüsse von neurologischen Störungen auf das normale Verhalten sind daher gerade aus physiologischer Sicht bedenklich. Im Gehirn wurden stammesgeschichtlich ältere Komponenten durch die Entwicklung der Großhirnrinde überformt; diese Situation ist bei Männern und Frauen identisch. Daher gehört ein beträchtliches Maß an psychologischer Ignoranz dazu, von anatomischen Unterschieden im Althirn naiv auf genetisch angelegte Unterschiede im Verhalten zu schließen; das ist ungefähr so wissenschaftlich, wie zu behaupten, dass ein aus Stahl gefertigter Motor anders arbeitet als einer aus Aluminium. Natürlich ist Stahl etwas anderes als Aluminium, und der Metallurg kann dem Konstrukteur wertvolle Hinweise geben. Aber kein Metallurg wäre so dreist,