900 MINUTEN. S. Johnathan Davis

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Название 900 MINUTEN
Автор произведения S. Johnathan Davis
Жанр Языкознание
Серия 900
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958350557



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recht schnell.

      Richard schritt im Raum umher und inspizierte den Schaden. Nicht ein Wort kam über seine dicken, spröden Lippen, aber ich konnte sehen, wie sein Verstand alle Optionen ausarbeitete. Seine Augen huschten von dem verkohlten Schrank zu dem verbogenen Sprinklerkopf, der seitlich auf dem glatten, nassen Boden lag. Vor dem Ausbruch hatte er auf dem Hill in Washington gearbeitet. Er klopfte, kurz nachdem Kyle und ich zurückgekehrt waren, an die Türen von Avalon.

      Der Typ war klug, so viel war klar. Er schien immer zu wissen, woher der Wind blies. Dadurch wurde er schnell in Jarvis Führungszirkel aufgenommen. In gewisser Weise war er ein geborener Anführer. Er hatte die Art von Lächeln, das dich jedes Wort glauben ließ, dass er sagte. Ich habe mal gehört, dass man es Charisma nennt.

      Im Laufe der Geschichte wurde allgemein angenommen, dass die Anführer, die am meisten Schaden angerichtet hatten, sowie die meisten guten, in unserer Welt diese magische Gabe besessen hatten. Die seltene Eigenschaft von magnetischem Charme war oftmals nicht mehr als eine Fassade, die verwendet wurde, um andere zu verfolgen. Bei Menschen ist vorprogrammiert, dass sie Unsicherheit nicht mögen. Also gibt es eine starke Tendenz, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, der keine zeigt. Die richtigen Personen, die das Richtige predigten, mit der richtigen Art von Ich-weiß-wovon-ich-spreche-Charme konnten und hatten eine tiefgreifende Wirkung auf die Welt. Martin Luther King Jr. und JFK waren angeblich charismatische Menschen. Auf der anderen Seite waren Hitler und Charles Manson das auch.

      Nun, ich sage nicht, dass Richards irgendeine Art von Monster war, aber ich konnte nicht so recht einordnen, weswegen ich ihm anfangs nicht vertraute. Vielleicht, weil ich Politik nicht leiden konnte und dadurch mochte ich auch automatisch keine Politiker. Aber aus irgendeinem Grund verkrampften sich meine Eingeweide immer etwas, wenn ich ihn um mich hatte. Sein Verhalten erinnerte mich an das von x-beliebigen charismatischen Angebern, die in die amerikanischen Konzerne strömten und wieder hinaus, und so taten, als würden sie die Interessen vertreten und dabei keine realen Probleme lösten.

      Ich habe oft geglaubt, dass Organisationen manchmal trotz ihrer Führung Erfolg hatten … nicht wegen dieser.

      Etwas durchbrach die Stille. Das Geräusch von Schritten, die den Flur hinunterrannten, erregte unsere Aufmerksamkeit. Es waren leichte Schritte, selbst als sie näherkamen. Eine unbekannte Frau stürzte voller Panik durch die offene Tür. Sie richtete ihre Augen direkt auf das Kind in meinen Armen. Sie trug Jeans und eine schwarze Jacke. Ihr kurzes, blondes Haar hüpfte bei jedem Schritt, den sie auf mich zuging.

      Mit Tränen in den Augen brach es aus ihr hervor: »Ist mein Baby okay?«

      Sie sprang mit ausgestreckten Armen auf mich zu, um mir das Kind abzunehmen. Zuerst sah sie mir nicht in die Augen. Ihr Blick war starr auf ihre Tochter gerichtet, während sie mit einer Hand über deren Rücken und durch das goldene, blonde Haar fuhr.

       »Sie ist etwas mitgenommen, aber am Leben. Wenn sie sich ausruht, wird es ihr wieder gut gehen«, sagte ich, als ich es endlich geschafft hatte, das kleine Mädchen sanft in die Arme ihrer Mutter zu geben.

      »Oh Baby. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn du …« Sie sprach immer leiser, bis sie schließlich vollkommen verstummte.

      Ich sah, wie eine Träne ihre weiche, runde Wange herunterlief, und legte eine Hand auf die Schulter der Frau. »Es wird alles gut. Es wird ihr bald wieder gut gehen.«

      Ich bin nicht sicher, ob ich meinen eigenen Worten Glauben schenkte, aber es muss ehrlich genug rübergekommen sein, denn sie drückte sich fest an meine Brust. Wir waren einander vollkommen fremd. Dennoch ertappte ich mich dabei, wie ich sie und das kleine Kind ungewollt umarmte. Ich denke, manchmal müssen Menschen einfach gehalten werden.

      »Danke. Vielen Dank dafür, dass Sie mein Baby gerettet haben«, flüsterte sie. Dabei überschlug sich ihre Stimme. Sie schaute mit diesen Augen von der Brust zu mir hinauf.

      Sie waren sanft, ein fast durchsichtiges Blau. Die Art, die dir von einem Magazincover einer dieser alten Promizeitschriften entgegenstarrte. Zunächst war ich erstaunt deswegen. Hier im Untergrund sahen die meisten Augen braun-grün im Licht aus. Nicht jedoch ihre.

      So traf ich Claire.

      Später sollte ich erfahren, dass Claire außerhalb von Philadelphia aufgewachsen war. Obwohl ihr Äußeres sanft anmutete, konnte man sehen, dass sie ein Überlebenskünstler war. Sie musste es sein. Immerhin war es ein verdammter langer Weg, wenn man mit einem kleinen Kind im Schlepptau runter nach Avalon marschierte. Es war die Art von Reise, die nur die Erbittertsten schafften oder diejenigen, die am meisten Glück hatten – und sie sah nicht so aus, als wäre sie der Typ, der Glück gehabt hat. Eine Mutter würde alles tun, um ihr Baby zu beschützen. Ich war sicher, dass sie an ihre Grenzen gestoßen war. Das waren wir alle.

      Vielleicht lag es daran, dass ich seit langer Zeit niemanden mehr gehalten hatte oder weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, jedenfalls ließ ich sie nicht los. In diesem Moment herrschte Stille. Diese Art von Stille, die alle Geräusche von außen verschwinden lässt. Keiner von uns beiden rührte sich. Manchmal kann eine Verbindung ohne Worte oder Text entstehen. Es reicht eine Berührung. Ich spürte es und ich möchte sagen, dass sie es auch tat. Vielleicht ersetzten wir beide einander mit den nahestehenden Personen, die wir verloren hatten. Vielleicht auch nicht.

      Jarvis machte den Mund auf. »Lasst uns hier aufräumen. Richard, würdest du Claire und ihre Tochter zu ihren Wohnräumen begleiten und dafür sorgen, dass sich jemand das Kind ansieht?«

      Ich öffnete meine Hände. Es war, als wären sie durch die plötzliche Bitte aufgebrochen worden. Ich senkte langsam die Arme, während ich den Ehering zwischen den Fingern drehte, als Claire sich Richards ausgestreckter Hand zuwandte. »Lasst uns sicherstellen, dass mit diesem kleinen Schatz alles in Ordnung ist«, lächelte sie.

      Ich stand da und sah sie langsam weggehen. Da platzte ein »Hey!« aus mir heraus.

      Claire sah sich um. Ich zögerte, weil ich plötzlich unsicher war. Mein Verstand stotterte.

      »Wie ist ihr Name? Wie heißt das kleine Mädchen?«, gelang es mir, hervorzubringen.

      »Olivia«, sagte sie und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Dann drehte sie sich wieder zu Richard um und ging weiter.

      »Olivia«, flüsterte ich. »Wir haben die kleine Olivia gerettet.«

      Als sie durch die Tür gingen, bemerkte ich mehrere Menschen im Flur. Sie alle spähten in der Hoffnung hinein, dass sie keine Angehörigen oder Freunde verloren hatten.

      Claire hatte Glück. Es würde viele andere geben, die es nicht hatten.

      Jarvis brach schließlich das Schweigen. »Das kann ein Problem sein«, sagte er, während er mit dem Finger über die Ascheschicht fuhr, die den Medizinschrank bedeckte.

       Das erregte unsere Aufmerksamkeit, und Kyle riss seinen Blick von Rodgers los, der seinen Helm weiterhin sorgfältig am Kittel des toten Mannes abputzte.

      Wir alle hatten ein bisschen Menschlichkeit verloren.

      »Können wir es nicht mit dem ersetzen, was wir noch auf Lager haben?«, fragte ich in einer Weise, die implizierte, dass dies kein großes Problem sein konnte.

      »Das war es, John. Wir haben alles verbraucht … hier unten müssen wir uns um fast siebzig Menschen kümmern«, sagte Jarvis gelassen.

      Mein Mund wurde trocken und meine Schultern spannten sich an. Es war fast so, als ob mein Körper schon realisierte, was das bedeutete, bevor es mein Hirn tat. Kein Wort glitt über meine Lippen, während ich sofort an den kleinen Jungen in meinem Zimmer denken musste, der eine tägliche Dosis brauchte.

      Weniger als dreißig Minuten zuvor hatte ich ihm die letzte Arznei verabreicht, die ich in unseren Wohnräumen versteckt hatte. Als er die Diagnose bekam, hatte der Doc mich darüber unterrichtet, dass er zu jeder Zeit einen Anfall bekommen könnte. Wenn er die Medikamente regelmäßig nahm, würde es die Krankheit größtenteils in Schach halten. Regelmäßig bedeutete alle vierundzwanzig Stunden oder so …

      Aber das war größtenteils