Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер

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Название Gesammelte Werke von Gottfried Keller
Автор произведения Готфрид Келлер
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027225873



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und er fand sich bei Tisch ein; aber er war nun ganz verschüchtert, und weil, wie man in den Wald ruft, es widertönt, so fing Dortchen auch an, sich zurückzuhalten, und schien sich nicht viel mehr daraus zu machen, mit Heinrich zu verkehren. Stracks verzog er sich wieder in die Wälder und blieb drei Tage dort, während welcher er nur in der Nacht zurückkehrte. Das Holz fing sachte an zu knospen, und der braune Boden bedeckte sich schon vielfältig mit Blumen. Heinrich verkroch sich an einem wilden steinigen Abhange, der den ganzen Tag an der Sonne lag, unter ein hohes Gebüsch, durch welches eine klare Quelle rieselte. Dort hockte er im verborgenen, stierte über die duftigen Gehölze und Felder weg nach dem glänzenden Dache des Landhauses in weiter Ferne und grübelte unaufhörlich über sein Unheil. Er fing an, sich zu vergessen und sich nicht mehr zu beherrschen; bisher hatte er, als ein wohlgeschlossener junger Mensch, noch nie laut gedacht oder vor sich hingesprochen; jetzt zwitscherte und flüsterte er unaufhörlich, wo er ging und stand, und als er dies endlich entdeckte, war es ihm schon zur unentbehrlichen Gewohnheit geworden und schaffte ihm einige Erleichterung, weil die stille Luft wenigstens seine Gedanken hören konnte, da sonst niemand auf der Welt dieselben zu ahnen und zu erraten schien. Selbst der Graf befragte ihn gar nicht, was er hätte, und tat, als ob er gar nichts bemerkte von Heinrichs verändertem Wesen.

      »Oh«, sagte dieser unter den Bäumen, »was für ein ungeschickter und gefrorner Christ bin ich gewesen, da ich keine Ahnung hatte von diesem leidvollen und süßen Leben! Ist diese Teufelei also die Liebe? Habe ich nur ein Stückchen Brot weniger gegessen, als Anna krank war? Nein! Habe ich eine Träne vergossen, als sie starb? Nein! Und doch tat ich so schön mit meinen Gefühlen! Ich schwur, der Toten ewig treu zu sein; hier aber wäre es mir nicht einmal möglich, dieser Treue zu schwören, solange sie lebt und jung und schön ist, da dies sich ja von selbst versteht und ich mir nichts anderes denken kann! Wäre es hier möglich, daß meine Neigung und mein Wesen in zwei verschiedene Teile auseinanderfiele, daß neben dieser mich ein anderes Weib auch nur rühren könnte? Nein! Diese ist die Welt, alle Weiber stecken in ihr beisammen, ausgenommen die häßlichen und schlechten!

      Wenn diese schwer erkranken oder gar sterben sollte, würde ich alsdann imstande sein, dem traurigen Ereignis so künstlerisch zuzusehen und es zu beschreiben? O nein, ich fahle es! Es würde mich brechen wie einen Halm, und die Welt würde sich mir verfinstern, selbst wenn ich bestimmt wüßte, daß sie mich gar nicht leiden mag! Und dennoch, welch ein praktischer Kerl bin ich gewesen, als ich so theoretisch, so ganz nach dem Schema liebte und ein grünes Bürschchen war! Wie unverschämt hab ich da geküßt, die Kleine und die Große, zum Morgen- und Abendbrot! Und jetzt, da ich so manches Jahr älter bin und diese schöne und gute Person liebe, wird es mir schon katzangst, wenn ich nur daran denke, sie in unbestimmter Zeit irgendeinmal küssen zu dürfen, o weh, und doch möchte ich lieber den Kopf in das Grab stecken, wenn dieses mir nicht geschehen kann! Nicht einmal weiß ich mehr es anzufangen, ein Sterbenswörtchen gegen sie hervorzubringen!«

      Dann starrte er wieder über das Land hinaus; doch kaum waren einige Minuten vergangen, während welcher er neugierig eine Wolke oder einen Gegenstand am Horizonte betrachtet oder auch ein schwankendes Gras zu seinen Füßen, so kehrten die Gedanken wieder zu ihrer alten Last zurück; denn Dortchens goldenes hartes Bild lag so schwer in seinem Herzen, daß es ein Loch in selbes zu reißen drohte und nicht erlaubte, daß die Gedanken länger anderswo spazierengingen.

      Obgleich er im Grunde dies gern litt und geschehen ließ, so gedachte er doch nicht, sich daran aufzureiben, und begann andere Saiten aufzuziehen, indem er endlich bestimmt und deutlich festzustellen suchte, daß Dorothea gewiß nichts für ihn fühlte und daß ja auch gar kein vernünftiger Grund vorhanden sei, das etwa sich einzubilden. Er musterte ihr Betragen durch und bestärkte sich schmerzlich in dieser unerbaulichen Ansicht, da er ganz mürbe und demütig geworden war und jetzt nicht das geringste Liebenswürdige an sich fand. So bitter dieser selbstgemischte Trank anfangs zu trinken war, so brachte er doch einige Ruhe zurück, infolge derer die eingeschlafene Vernunft auch wieder auftauchte und den Aufgeregten in ihre kühlenden Arme nahm.

      Was dem einen recht, ist dem andern billig, und Wie du mir, so ich dir, sind die zwei goldenen Sprüche auch in Liebeshändeln, wenigstens bei gesunden und normalen Menschen, und die beste Kur für ein krankes Herz ist die unzweifelhafte Gewißheit, daß sein Leiden nicht im mindesten geteilt wird. Nur eigensinnige, selbstsüchtige und krankhafte Verfassungen laufen Gefahr, sich aufzulösen, wenn sie durchaus nicht geliebt werden von denen, auf die sie ihr Auge geworfen. Aber was hätte sein können und nicht geworden ist, macht wirklich unglücklich, und kein Trost hilft, daß die Welt weit sei und hinter dem Berge auch noch Leute wohnen; denn nur das Gegenwärtige, was man kennt, ist heilig und tröstlich, und es ist jammerschade um jedes totgeborene Lebensglück.

      Da nun der verliebte Heinrich bei sich ausgemacht hatte, daß Dortchen gar nicht an ihn denke, ward er um vieles ruhiger und befand sich am sechsten Tage seines Lebens in der Wildnis schon so weit, daß er darüber ratschlagen konnte, ob er, zum Danke für ihre Liebenswürdigkeit und Schönheit, es ihr sagen wolle oder nicht. Er gedachte sich im ersten Falle wieder auf einen unbefangenen und guten Fuß mit ihr zu setzen und ihr alsdann gelegentlich, eh er abreiste und wenn sie einmal recht artig gegen ihn wäre, lachend und manierlich zu gestehen, welchen Rumor sie ihm angerichtet, und ihr zugleich zu sagen, sie sollte sich nicht im geringsten darum kümmern, er habe es ihr nur sagen wollen, um ihr vielleicht eine kleine Freude zu machen, die sie so sehr verdiene; im übrigen sei nun alles wieder gut und er wohl und munter! Vor Spott und Schadenfreude war er sicher bei ihr, jedoch tauchte ihm sogleich die Besorgnis auf, man dürfte am Ende ein solches Geständnis doch für eine verkappte ernstliche Liebeserklärung und angelegte Schlauheit ansehen. Diese Idee machte ihn sogleich wieder traurig, da er nun es doch verschweigen mußte, und wie er dies einsah, schien es ihm erst unmöglich zu sein und seine Gemütsruhe nur dann wieder erreichbar, wenn er sein bestandenes Ungewitter bekennen durfte, am liebsten der Erregerin desselben selbst. Auch schien ihr diese Kunde durchaus von Rechts wegen zu gebühren, und Heinrich war ihr so gut, daß er ihr ohne allen Eigennutz nicht das Geringste entziehen mochte, was ihr zukam. Daher rief er endlich »Ich sag es ihr doch!« Aber dann fürchtete er wieder, es möchte dennoch ein Mißverständnis hervorgerufen werden und er endlich unter einem schlimmen Eindruck aus dem Hause abziehen müssen, und er rief wieder »Nein! Ich sag es doch nicht! Was geht es sie an?« Endlich nahm er ein flaches rundes Steinchen aus dem klaren Bächlein, das auf einer Seite rosenrot und auf der anderen Seite milchweiß gefärbt war mit blauen Äderchen, und warf selbiges in die Höhe. Wenn die rote Seite oben läge, wollte er reden, wenn die weiße, wollte er schweigen. Die weiße Seite lag oben, und Heinrich war wieder ganz unglücklich, als sie da in der Sonne glänzte. »Ach«, flüsterte er, »dies ist nichts! wer wird alles auf einen Wurf wagen? Dreimal will ich werfen und dann gewiß nicht mehr!« Und er warf wieder und abermals weiß. Zögernd und seufzend warf er zum dritten Mal, da glänzte es rot, und ebenso rot ward sein Gesicht, und eine unaussprechliche Freude strahlte auf demselben. »O nun will ich es ihr sagen!« sagte er, und ein Stein fiel ihm vom Herzen, und er dachte, nun wäre alles gut.

      Der Herzenskundige wird hier wohl bemerken, daß diese Fröhlichkeit nur von der leisen Hoffnung herrührte, welche sich in Heinrichs Vorsatz mit einschlich, und daß er, ohne es zu wollen, dennoch im Begriffe war, jene Schlauheit zu begehen, welche er sich nicht zuschulden wollte kommen lassen.

      Es war gerade Sonnabend, und der Tag näherte sich seinem Ende. Er nahm sich also vor, noch bis in die Nacht umherzustreifen und am Sonntagmorgen dann guter Dinge zu sein, wieder ein unbefangenes Gesicht zu machen und, sobald sich der günstige Augenblick böte, ihr unter Scherz und Lachen sein Bekenntnis abzulegen mit der gemessensten Aufforderung, daß sie sich gar nichts daraus machen und die Sache einzig wie eine kleine Morgenerheiterung aufnehmen solle. Der arme Teufel, wie er sich selbst belog!

      Der Sonntagmorgen geriet wunderschön, der reine Himmel lachte durch alle Fenster in das helle Haus, und der Garten blühte schon an allen Enden. Heinrich war wirklich guter Dinge und putzte sich sorgfältiger heraus als gewohnt; er verlor den Mut nicht, da er sich einbildete, nichts erreichen zu wollen, sich allein wie ein Kind auf die herzliche Plauderei freuend, die er ihr vormusizieren wollte, und sich davon ein reines und ungetrübtes Glück und ein ruhiges Leben versprechend. Und es fielen ihm tausend Narrheiten in den Sinn, welche er dazwischenflechten wollte, um Dortchen