Gewachsen im Schatten. Annemarie Regensburger

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Wandlung kein Huster in der Kirche. Der Abt flüstert einige unverständliche Worte, hebt die große Hostie, dann den Kelch hoch. Ab jetzt ist Jesus im Brot und im Wein, sagt beim Religionsunterricht der Pater. Deshalb müssen ab jetzt die Leute in der Kirche besonders still sein. Auf die Frage, ob der Abt ein Zauberer sei, sagt die Mama: „Ma woaß dejs nie aso genau.“

      Alle schlagen sich auf die Brust. Der Abt bricht die große Hostie auseinander und beginnt sie zu zerkauen. Die Kälte knirscht in der Kirche. Er trinkt aus dem goldverzierten Kelch, den ihm ein Pater hält. Die Patres, die Novizen, die Ministranten knien vor dem Abt nieder, strecken die Zunge heraus und bekommen eine Hostie. Die Leute knien beim „Speisgitter“ nieder. Der Reihe nach strecken sie die Zunge heraus. Das Kind darf daheim nicht die Zunge herausstrecken. Die Mama sagt, das sei frech. Ein Ministrant hält sogar einen goldenen Teller unter die Zunge. Kein Stück der Hostie darf auf den Boden fallen, das wäre eine große Sünde. Die Mama kommt, streckt dem Abt die Zunge heraus. Der Abt legt die Hostie darauf. Die Mama muss ein wenig lächeln, denn sie hat den Abt seit ihrem Schreiausbruch nicht mehr gesehen. Auf dem Heimweg fragt das Kind die Mama: „Warum sein alls lei Buebm Minischtrantn?“

      „Dejs woaß ih ouh nit. Denk nit so viel nach, siesch geaht’s dir wie dein Vater.“

      „Mama, wenn du nit mit’n Prälat gschriern hasch, hattn mir ouh lei an Stall kejt.“

      Die Mama lächelt beim Betreten der warmen Stube. Vor dem Schlafengehen wird der Weihnachtszelten angeschnitten. Er schmeckt dem Kind gut.

      Für das neue Jahr lernt die Mama mit dem Kind einen Neujahrsvers mit einem besonderen Wunsch an die Nachbarinnen:

      Ih wünsch dir a guets nuijs Jahr

      ’s Christkindl auf’n Altar

      zwoa Engelen, weswegn?

      Dass die Hennen recht guet legn!

      Die Nachbarinnen freuen sich über Mamas guten Einfall. Das Eiergeld ist oft genug das einzige Bargeld, über das die Frauen verfügen. Ein Gedicht kann sonst kein Kind beim „Nuijahrsabgwinnen“ aufsagen. Das Kind bekommt deshalb Anerkennung und hat ein paar Groschen mehr als die anderen Kinder im Beutel.

      Die Mama gewinnt dem beschwerlichen Leben meistens eine heitere Seite ab. Sie verkleidet das Kind als Tirolerbub zum „Maschgern“ gehen und lehrt ihm auch wieder einen neuen Reim:

      Bin a lustiger Bue

      lass in Teixl kue Rueh

      und die Engelen in Himml

      dia lachn darzue.

      Bin a lustiger Bue

      brauch gar oft a Paar Schueh

      und a trauriger Narr

      hat oft lang an uan Paar.

      Wie lang wird das Kind von diesen ersten Erfahrungen mit Himmel und Engeln und Fröhlichkeit zehren? Die Mama hat nicht einmal vor dem „Teixl“ Angst und vermittelt dies auch ihren Kindern.

      Die große Schwester darf zum ersten Mal zum Faschingsball ins Dorfwirtshaus gehen, denn sie ist im Jänner sechzehn geworden. Auch die Mama überkommt die Verkleidungslust. Sie leiht sich von der Klosterküche den größten Kochlöffel aus und kommt als Koch „vermaschgert“ ins Wirtshaus. Die große Schwester wundert sich den ganzen Abend, warum ihr immer ein Koch nachspioniert. Beim geringsten Annäherungsversuch eines Dorfburschen bekommt dieser den Kochlöffel zu spüren. Der Mama entgeht einfach nichts.

      Im Mai kommt das Hannele weinend vom Religionsunterricht nach Hause.

      „Mama, niemed will fiar d’ Rosi Firmgotl machen!“

      „Warum nit?“

      „Die Kinder habm ihr ‚Kommunistnfratz‘ nachgschriern. Mama, was isch a Kommunist?“

      „Hear lei zun plearn au, Hannele. Ih mach der Rosi Firmgotl. Dejs war decht nouh schiander. Lei weil der Alte Kommunist isch, weard ’s Madl woll decht gfirmt wearn kennen. Wo kam’ mir denn da hin!“

      „Mama, was isch a Kommunist?“

      „Dia verhoaßn ’s Paradies auf dear Walt. War nit aso schlecht, weil wer woaß schue, ob’s wahr isch, was ins die Kleaschterer fiar a Paradies verhoaßn. Amol auf dear Walt han ih’s nouh nit gfundn. In gscheideschtn war, wenn’s in Paradies kuene Manderleit gab, weil dia bringen lei ’s Unglück in d’ Walt.“

      Die Mama lässt dem Hannele zur Firmung ein wunderschönes, rotes Kleid mit Plisseerock beim Dorfschneider nähen. Auch für die Rosi bezahlt die Mama den Schneider. Vier Jahre später trägt das Kind dieses Kleid beim Tor zum Rosengitter in der Stiftskirche. Es darf für den Neupriester vom Dorf das Festgedicht aufsagen. Das Kind betont beim Satz „Du bist am Ziel“ das „Du“ anstatt das „Ziel“. Die Don-Bosco-Schwester kann es dem Kind trotz ihres Einsatzes nicht mehr abgewöhnen.

      Zwischen „Heimahd“ und „Gruemet“, dem zweiten Heuschnitt, geht die Mama mit großen Gummistiefeln in die Klosteräcker Unkraut jäten. Davon kann sie den Schneider bezahlen. Am Morgen schafft sie den Kindern die Arbeit an. Die Johannisbeeren müssen gepflückt werden. Das ist Kinderarbeit. Den Kindern der „Summerfrischler“ aus Wien füllt die Mama einen Zuber mit Wasser ein. Seit Jahren vermietet sie die leer stehenden Kammern an eine Wiener Großfamilie.

      Die große Schwester übernimmt das Kommando bei der Arbeit. Das Kind organisiert sich zum Johannisbeerenpflücken Nachbarskinder. „Noche, wenn mir toun habm, was die Mama ougschaffn hat, kennen mir ouh spielen.“ Ein Gewitter kommt. Alle Kinder, auch die „Summerfrischler“, laufen in den Heustadel. Normalerweise ist es verboten, in den Heustadel zu gehen. Die Kinder klettern auf den Heustock und balgen sich. Die Regentropfen klatschen auf die Dachziegel. Wohlig warm ist es im Heu. Die Kinder bauen sich zwei Kammern. Eine Heuwand ist die Mauer. Die Kleineren spielen „krank sein“. Das Kind hat Fieber. Der Doktor muss das Kind untersuchen. Aus einem Heubuschen formt der „Summerfrischlerbub“ ein Abhörgerät. Das Kind muss die Bluse aufknöpfen. Das Heu kitzelt auf der Brust. „Die Lunge ist in Ordnung.“ Vielleicht hat das Kind Blinddarmentzündung? Der Bub tastet den Bauch ab. Irgendwie kommt er dabei zwischen die Beine des Kindes. Er beginnt es abzutasten, zu streicheln. Es kitzelt eigenartig. Ein Schauer läuft über den Rücken des Kindes, es kribbelt im Bauch.

      Plötzlich das Gesicht vom Hannele über der Heuwand. „Was tiets denn ejs da? Ziech dir gach die Unterhose auche und oche von Heistock!“ Das Kind wird rot, schämt sich, nicht nur, weil die Mama den Heustadel verboten hat.

      In der Beichtvorbereitung hört das Kind das erste Mal das Wort „berühren“. Es ist eine Sünde, sich selbst zu berühren. Ebenfalls darf man sich von niemandem „berühren“ lassen. Das Kind traut sich nicht zu fragen, was berühren eigentlich ist. Wenn das Kind mit seiner Schwester rauft, berühren sie einander auch, doch dazu sagt man „angreifen“. Wenn die Mama erregt ist, kommt ihr die Hand aus, dazu sagt man „watschen“. Wenn sich das Kind in der Nacht fürchtet, greift es nach der Hand der Schwester, dazu sagt man „Hand hebm“. Wenn der alte Rentner, dem die Mama Kost und Kammer gibt, auf der Hausbank sitzt und über das Knie des Kindes hochstreicht, sagt er, das sei „Kinder streichlen“. Das hätten die Kinder gern. Das Kind mag es trotzdem nicht. Bei der Erstbeichte lässt das Kind „berühren“ einfach aus.

      Zur Erstkommunion macht eine Südtiroler Aussiedlerin, die seit dem Krieg im Haus wohnt, dem Kind mit der Brennschere Stopsellocken. Um ein Haar verbrennt sie dem Kind dabei die Haut. Das Kind bekommt um ein Haar einen Wutanfall. Es kribbelt im Bauch. Es treibt dem Kind die Tränen in die Augen. Doch heute darf das Kind nicht zornig werden, denn Jesus mag keine schwarze Seele. Zur Erstkommunion morgen muss es ohne Sünde sein, sagt die Don-Bosco-Schwester. Es gelingt dem Kind, den Zorn zu verdrücken. Die Locken fallen wunderschön. Für die Nacht setzt die Mama dem Kind ein Haarnetz auf.

      Am Erstkommuniontag trägt das Kind das weiße Erstkommunionkleid vom Hannele. Die Mama hat weiße Strümpfe gekauft, für weiße Schuhe hat das Geld nicht gereicht. Das Kind schämt sich mit den schwarzen Schuhen. Hauptsache, keine schwarze Seele!

      Die Musikkapelle spielt zum Einzug in die Pfarrkirche. Die Hostie