Gewachsen im Schatten. Annemarie Regensburger

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ist sie bereits mit dem Witwer Joseph verheiratet. Der Freund, ein Tapezierer, ist tief enttäuscht. Sie lacht laut und sagt zu ihm, dass alles längst vorbei sei. Was hätte sie sonst mit einem ledigen Kind machen sollen, außer einen Witwer mit Kind heiraten. Sie fügt noch hinzu: „Flick mir lieber die dersoachtn Stroahsäck!“ Der Freund bleibt ledig.

      Das Segelboot gleitet in der Abendsonne dahin. Fast kitschig schön zum Zusehen.

      „Weißt du, wie unsere Mama und der Tate zusammengekommen sind?“

      „Wenn unsere Mama das erzählt hat, ist bei ihr das Theaterblut durchgekommen. Sie hat deinem Vater vom Außerfern geschrieben, ob er Äpfel zum Verkauf hat. Prompt kam die Antwort: ‚Ich habe einen Sack voll Äpfel und einen Sack voll Liebe!‘ So war sein Angebot. Er hat sogar noch einen Zusatz gemacht: ‚Hanni, ich leg dir das Stampferhaus vor die Füße!‘ Sie hat zugegriffen. Im Juni 1943 haben sie geheiratet. Die Mama musste ein schwarzes Kleid anziehen, weil ich ja ein lediges Kind von ihr war. Das Kind aus erster Ehe von deinem Vater, ’s Hansele, und ich sind auch auf dem Hochzeitsbild.“

      Vaters erste Frau stirbt mit sechsunddreißig an einer Lungenentzündung. ’s Hansele, geboren 1938, ist gerade zwei Jahre alt. Die erste Frau vertraut der Hebamme auf dem Sterbebett an, dass mit ihrem Mann im Kopf nicht alles stimmt. Das will sie nicht ungesagt mit ins Grab nehmen. Doch die Hebamme schweigt wie ein Grab. Die erste Frau ist, vor allem für die Nale, eine Frau wie aus dem bäuerlichen Bilderbuch: sparsam, sauber und fleißig. Nach ihrem Tod ist der Kasten immer noch voll mit selbst gesponnenem Leinen. Polster und Tuchenten zieren ihre Initialen, gestickt mit rotem Kreuzlstich.

      Bei der zweiten Hochzeit ihres Sohnes Joseph, 1943, gibt die Nale ihrer neuen Schwiegertochter nicht einmal den Schlüssel zum Wäschekasten. Die Nale kann nicht fassen, dass ihr Sohn dieses Mal, in ihren Augen, eine halbe Schlampe und mit eigenartiger Herkunft mütterlicherseits heiratet. Einmal hört eine Nachbarin, wie sie beim Haus vorbeigeht, die Nale schreien: „Hasch nit amol a Bett zun Zuedeckn mitbracht!“ Darauf lacht die Mama und sagt: „Drum habm mir ja in Summer kheiratet, da habm mir ins nit zuedeckn brauchn.“ Die Nale überlebt ihre zweite Schwiegertochter um fünf Jahre und wird später zu den übrig gebliebenen Enkelinnen sagen: „Enkere Mama isch viel z’guet gwesn. Sie hat halt ’s Zuijg vertragn.“ Aber außer Äpfeln und Speck und toten Kindern ist vom Hof nicht viel zu vertragen.

      Zum Arzt in Hall sagt die Nale aber andere Sachen: Seiner zweiten Frau wäre am liebsten, wenn ihr Mann die Augen zutäte, damit sie dann alles allein besitze und wieder heiraten könne, denn sie sehe andere Männer nicht ungern.

      Franzele, dein Name ziert nicht den Kindergrabstein des Hofes. Den ganzen Platz hat dein Bruder Alois benötigt. Wer lässt schon Platz am Grabstein für ein womöglich zweites, totes Kind? Mitten im Hochsommer, knapp vor dem Hohen Frauentag, bist du in einem Bahnhof zur Welt gekommen. Vermutlich hat die Mama vorher noch schnell das letzte Gruemet in den Heustadel eingebracht. Franzele, ein Bahnhofskind! Wer hat der Mama geholfen, dich abgenabelt, gewaschen und in Windeln gewickelt? Wie ist die Mama wieder mit dir heimgekommen? Sie allein weiß es und hat all die unbeantworteten Fragen elf Jahre später, mitten im Hochsommer, knapp nach dem Hohen Frauentag, mit ins Grab genommen.

      Franzele, dein Name ist auf dem marmornen Familiengrabstein auf der Seite eingraviert. An der Vorderseite steht der Name unseres Großvaters und von unserem Tate. Sogar eine Fotografie vom Großvater ist angebracht. Er starb 1921 mit siebenundvierzig Jahren. Nur ein einziges Mal hat die Nale von ihrem Mann, den sie um zweiundvierzig Jahre überlebte, erzählt. Franzele, hast du deinen Namen vom Großvater oder vom Onkel Franz bekommen? Vermutlich hat die Nale ein Machtwort gesprochen. Alois, unser Bruder, wurde nach dem Bruder der Mama benannt. Und du, Franzele, nach dem feschen, jungen Bruder vom Tate. Onkel Franz hat 1935 mit fünfundzwanzig geheiratet. Sein älterer Bruder, unser Tate, hatte bereits im Dorf seiner ersten Frau ein Gasthaus ersteigert. Dorthin ist unser Onkel Franz mit seiner Frau gezogen und hat das Gasthaus von seinem Bruder gepachtet.

       Franzele, du solltest sicher den jungen Onkel ersetzen, der nicht mehr aus dem Krieg heimkehrte. Hast du deshalb zu schreien begonnen, weil du das Unrecht gespürt hast, das mit dem Gasthaus geschehen ist? Aber Franzele, es war unser Tate, der vor dem Krieg einen einfältigen Kuhhandel mit seinem Bruder abgeschlossen hat. Nach fünf Ehejahren war Onkel Franz immer noch kinderlos. „Wenn du von Krieg nimme zruggkimmsch, geaht ’s Gasthaus zompt Baurschaft an meine Kinder zrugg!“ Handschlag, ausgemacht, erledigt!

      Die Frau vom Onkel Franz wird am Ende des Krieges schwanger. „Det isch er aber nie auf Fronturlaub huemkemen“, munkeln die Leute. Onkel Franz hat das Kind bei seinem letzten Heimaturlaub als sein Kind anerkannt.

      Franzele, das war vor deiner Zeit. Du bist erst 1946 geboren. Trotzdem hast auch du zu schreien begonnen. Du hast den ganzen Spätherbst bis nach Weihnachten geschrien. Nach dem Dreikönigstag mussten sie für dich den gefrorenen Boden aufhacken und haben dich zu deinem Bruder Alois hineingelegt.

      Ein Segelboot kreuzt das andere. Die Menschen darauf winken einander zu. Die große Schwester blickt die jüngere an.

      „Woasch du dejs überhaupt, wie dei Tate ’s earschte Mal auf Hall kemen isch?“

      „Ih woaß es lei von Derzählen, derrinnern kann ih mih auf dejs nimme.“

      Man hat es auch vertuscht. Im Dorf hieß es nur, der Joseph sei jetzt ganz verrückt und man habe ihn ins Narrenhaus gebracht. Hinter vorgehaltener Hand erzählten sich die Leute das gegenseitig.

      Der Tate setzt sich am Palmsonntag beim Gottesdienst in die erste Bankreihe. Nach der Palmweihe überreicht ihm sein Sohn einen Ölzweig. Er beginnt laut zu weinen, es schüttelt ihn durch und durch. Er kniet sich auf den Boden, schlägt die Hände zusammen, bittet den Herrgott um Verzeihung und sagt, dass er nun Buße tun müsse.

      Er habe sich früher nicht wegen seines Verhältnisses mit der Magd geschämt, darum schäme er sich jetzt auch nicht, öffentlich Buße zu tun. Immer wieder dreht er sich um und fragt den Bürgermeister, ob es jetzt genug sei. Der Bürgermeister versucht ihn zu beruhigen, und es gelingt ihm. Auf dem Heimweg von der Kirche begrüßt der Tate alle Leute mit „Friede auf Erden!“ und schwingt dabei den Ölzweig. Nur mit Mühe kann er bewogen werden, sein Haus zu betreten.

      „Noche hat man ihn ’s earschte Mal auf Hall toun.“

      „Siehchsch, des Woart Hall least bei mir hein nouh a gschpassigs Gfühl aus, obwohl ih schue über sechzig Jahr alt bin und woaß, dass der Tate schwar krank gwesn isch.“

      Der Tate ist nach seinem ersten Aufenthalt in Hall nur fünf Tage daheim gewesen. Er hat sich in diesen Tagen zwar ruhig verhalten, ist aber nicht aufgestanden. Er hat nur nach Wasser und Brot verlangt. Zu seiner Frau sagt er: „In Narrnhaus han ih ouh nicht anders kriegt. Ih han mih schue drou gwehnt.“ Seine Mutter sitzt stundenlang an seinem Bett und schimpft über seine Frau. Am Sonntag, dem fünften Tag, will er in die Kirche gehen, doch die Mama versteckt ihm das Gewand. Vermutlich hat sie Angst, dass er wieder in der Kirche auffallen würde. Er schreit: „Lieber geah ih in Inn, aswie mit dir unter uan Dach lebm!“ Er läuft, nur mit einem Hemd bekleidet und die Mistgabel in der Hand, mit der er die Leute bedroht, in Richtung Inn. Seine Mutter holt ihn zurück. Am darauffolgenden Tag will er seine Frau erschlagen, seinen Sohn und seine Mutter vergiften. Auch droht er an, daheim alles zusammenzuschlagen und das Haus anzuzünden. Dann würde er sich zu seiner anderen Liebe an ihre neue Arbeitsstelle begeben, die bereits im siebten Monat schwanger ist.

      Das Kind sitzt mit dem Hannele in der Küche unter dem Tisch. Es hört den Vater schreien. Es drückt sich an die um vier Jahre ältere Schwester. Die Mama reißt die Küchentür auf. Der Vater kommt mit der Mistgabel hintendrein. Er will auf die Mama einschlagen. Die Nale, mit dem Weihwasser in der Hand, besprengt den Vater. „Joseph, sei riahwig, Joseph, hear au, na, isch dejs a Elend.“

      Die Mama schiebt den tobenden Vater in die Vorratskammer und sperrt die Tür zu. Die beiden Kinder unter dem Küchentisch sind starr vor Schreck. Sie hören, wie die Nale jammert: „Na, was isch denn in Joseph gfahrn, in Bua, und mih hat er wellen mit Ratzngift vergiftn!“ Ausnahmsweise ist sie mit ihrer Schwiegertochter solidarisch und sagt: „Und dih hat er