Gewachsen im Schatten. Annemarie Regensburger

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in der Vorratskammer heraus, steigt hinaus, läuft schreiend bis zum Dorfplatz.

      Er wird zum zweiten Mal mit der Rettung nach Hall gebracht.

      Er bekommt viele Elektroschocks zur Ruhigstellung. Nach drei Wochen, Mitte Juni, hat die Mama unterschrieben, dass er, wenn er will, wieder mit dem Zug heimkommen kann.

      Es ist Heumahd und es hat eine große Hitze. Die Mama ist mit den Kindern auf dem Feld. ’s Hansele ist bereits dreizehn, seine Halbschwester zehn Jahre alt. Sie müssen der Mama wie Knecht und Magd bei der Arbeit helfen. Sogar das Hannele ist mit auf dem Feld, denn es muss mit einem Zweig die Bremsen bei den Kühen vertreiben. Schon von weitem erkennt die Mama ihren Mann. Er trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und einen schwarzen Hut. Er lobt seinen Sohn und streicht sogar seiner Stieftochter über den Kopf. ’s Hannele hebt er auf und gibt ihm einen Kuss.

      Dann bittet er vor den Kindern seine Frau um Verzeihung und verspricht, dass er ab jetzt mit allen gut sein werde. Auch verspricht er seiner Frau, ab jetzt nicht mehr gewalttätig zu sein. Er zieht seine Anzugjacke aus und beginnt, Heu aufzuladen.

      Zwei Wochen geht alles gut. „Mamele hie, Mamele hea“, sagt er zu seiner Frau und folgt ihr wie ein kleines Lämmchen.

      Von einem Tag zum andern wird er wieder rebellisch. Er schmeißt alle Leitern beim Heustock um, lässt alle Heuwägen über die Tennenbrücke auf die Wiese hinunter, und die Schubkarren zieht er alle aus dem Wagenschuppen auf den Weg hinaus.

      Der Tate beginnt wieder beim Sonntagsgottesdienst zu weinen, blickt immer wieder zum Chor hinauf, wo seine Frau singt. In der darauffolgenden Nacht läuft er Stiege auf, Stiege ab und schlägt alle Türen zu. In den folgenden Tagen wird er immer unruhiger. Am dritten Tag läuft er einige Male am Tag zum Bürgermeister, einmal mit seinem selbst geschriebenen Lebenslauf, den er pathetisch vorliest. Dann wieder bringt er ihm den Stadelschlüssel und sagt: „Jetzt musst du weitermachen.“ Am selben Abend alarmiert die Mama den Bürgermeister und die Gendarmerie. Schon von weitem hören sie Hilferufe und ein wüstes Geschrei. Vor dem Haus ist ein großer Auflauf der Nachbarn. Der Tate steht splitternackt auf der Gasse, deklamiert und gestikuliert zum Gaudium der Zuschauer. Später sagt er auf die Frage des hinzugekommenen Arztes, weshalb er sich ausgezogen habe: „Ich bin unschuldig, ich bin noch nicht geboren!“ Mit Mühe wird er vom Bürgermeister, dem Sprengelarzt und dem Gendarmeriebeamten ins Auto geschoben.

      Das Kind ist drei Jahre und drei Monate alt.

      Vor dem Haus beim Gartenzaun liegen Baumstämme, das Holz für den nächsten Winter. Ein Auto kommt, Männer stecken den Vater hinein. Die Mama hält das Kind auf dem Arm. Die Nale schluckt: „Joseph, Joseph“, die Tür zum Gendarmerieauto geht zu. Die Mama stellt das Kind auf den Boden und fährt mit nach Hall. Es ist der 28. Juni 1951.

      Jahre später wird das Kind das Gedicht wahrnehmen, das der Tate geschrieben und an die Tür beim Wagenschuppen gehängt hat:

      Pflug und Wagen unter Dach.

      Schütze alles vor Schnee und Regen,

      dann kannst du dich ruhig

      schlafen legen.

      Zum Namenstag schreibt der Vater der Mama jedes Jahr eine Karte von der Landesheil- und Pflegeanstalt. „Liebste Hanni“ steht darauf.

      Obwohl sich sein abnormes Verhalten über Jahre hingezogen hat und 1951 eskaliert, geben seine Mutter und seine Schwester der Mama die Schuld daran. Auch der Bürgermeister sagt bei einer Unterredung beim Arzt, dass die zweite Ehe von Anfang an unglücklich gewesen sei, weil beide Charaktere einfach nicht zusammenpassen würden, seine Frau wegen ihrer Unordnung und Schlampigkeit bekannt und er als Ordnungsfanatiker und Pedant verschrien sei. Doch die Mama musste immer wieder vom Tate Schläge erdulden, und bei ihrer letzten Entbindung 1949 fallen dem Arzt ihre vielen blauen Flecken auf. Dies teilt er auch dem Bürgermeister mit.

      Auf Anraten des Bürgermeisters holt ihn die Mama nicht mehr auf eigene Verantwortung heraus. Die Nale und Vaters Schwester sehen es nicht gern. Ein so gescheiter Mann im „Narrnhaus“. Es ist eine Schande für die ganze Verwandtschaft. Die Nale besucht den Vater alle zwei Wochen. Zweimal im Jahr nimmt sie abwechselnd seine Kinder mit. Trotz allem Durchgestandenen besucht auch die Mama den Tate immer wieder.

      Mit zwölf Jahren wird das Kind im ersten Gedicht, das es der toten Mama widmet, schreiben: „Sie hatte so schöne, schwarze Haare, sie waren nur ergraut vom Kummer all der Jahre …“

      Das Kind ist acht. Die Fahrt mit dem Zug in die Hauptstadt ist wunderbar. Es sieht zum ersten Mal eine Stadt. Die Nale hält es an der Hand. Zum ersten Mal steigt das Kind in eine Straßenbahn, im Volksmund heißt sie „die Haller“. Es geht quer durch die Stadt, vorbei an Feldern, bis zur nächsten Stadt. Sie steigen aus, gehen aufwärts bis zu einem großen, gelb gestrichenen Haus. Rundherum ist eine Mauer, neben dem Eingang ein Wärterhaus. Die Nale meldet sich an.

      „Heute geht es dem Sohn schlecht. Ob da die Kleine mitgehen kann?“, meint der Wärter.

      „Dejs tuet nicht, dejs Madl verschteaht dejs nouh nit“, sagt die Nale.

      Sie gehen über den Weg. Die Nale läutet an der Tür. Ein anderer Wärter sperrt von innen auf, schnell wieder hinter sich zu. Keine Türklinken! Die Tür zum Besuchszimmer steht offen. Männer mit kahlgeschorenen Köpfen sitzen an den Tischen. Einige haben Besuch. Die Männer starren das Kind an. Das Kind hat Angst, es hält sich an der Hand der Nale fest.

      „Nein, er ist nicht da. Heute ist er in der ‚Geschlossenen‘.“ Sie gehen dem Wärter durch einen schmalen, hohen, langen Gang nach. Wieder keine Türklinke. Der Wärter sperrt auf, sperrt zu. Männer gehen den Gang auf und ab. Auch sie haben die Köpfe kahlgeschoren, gestreifte Hosen und Überjacken. Aus manchen Zimmern hört das Kind Schreien, Murmeln, eigenartige Laute. Dem Kind ist unheimlich zumute. Die Angst lässt es steif werden. Da, der Tate?! Er erkennt die Nale, rennt auf sie zu, kniet vor sie hin, murmelt: „Bittschia, tue mih auße.“ Dem Kind greift ein komisches Gefühl ans Herz. Der Nale kommen die Tränen. Sie setzen sich in eine Ecke. „Schaug, ih han ’s kluene Madele mit. Kennsch es nouh?“ Der Vater murmelt einige unverständliche Worte. Die Nale hat Tabak und Zigarettenpapier mitgebracht. Der Tate lächelt. Das Kind schaut seinen Vater an. Dejs isch der Tate, denkt es sich.

      Der Wärter kommt, nimmt dem Tate Tabak und Zigarettenpapier ab. „Wenn Sie wieder in der offenen Station sind, bekommen Sie den Tabak“, sagt er. Der Vater versteht nicht, will den Tabak nicht hergeben, wird zornig. Die Nale redet ruhig auf ihn ein. Das Kind gibt ihm die Hand. Sie müssen gehen.

      Draußen kommt es dem Kind ganz hell vor. In der Straßenbahn verlässt es die Angst. In der Hauptstadt geht das Kind mit der Nale in ein Spielzeuggeschäft. Es hat noch nie so viele Spielsachen gesehen. Es zeigt auf den bunten Ball. Anschließend geht es mit der Nale über eine kleine Stiege in eine Konditorei hinunter. Das Kind darf sich etwas aussuchen. Es zeigt auf die Cremeschnitte. Noch fünfzig Jahre später wird die erwachsene Frau mit Cremeschnitte den Besuch beim Vater verbinden.

      Sie fahren mit dem Zug heim. Die Nale bringt das Kind bis vor die Haustür, hinein geht sie nicht mehr. Nales Tochter hat ihr in ihrer Nähe ein Erkerzimmer besorgt. Das Essen bekommt die Nale bei ihrer Tochter. Und einmal hört das Kind, wie die Mama zum Nachbarn sagt: „Bein Krawattl han ih se packt und über die drei Staffl oche auf’n Weg gstellt. Noche han ih zu ihr gsejt: Bei dear Tür kimmsch du mir nimme eiche, hasch ougrichtet gnueg!“

      Liesele,

       meine kleine Schwester, noch nie habe ich so bewusst an dich gedacht. Immer war ich die Kleine, der „Mulli“, die nach dem Tod der Mama niemand nehmen wollte. Liesele, von der Nale hast du deinen Namen bekommen. Vielleicht wollte die Mama doch noch einmal ein Zeichen setzen, obwohl ihr die Nale das Leben schwer genug machte. Oder hat der Tate ein Machtwort gesprochen? Doch er war mit anderen Problemen beschäftigt. 1949, am 17. März, bist du geboren, fast genau auf den Tag ein Jahr nach mir. Hat man dich nicht so wie mich gleich nach der Geburt „ausgestattet“, damit du überleben könntest? Doch vermutlich hat die Mama gleich nach der Geburt gesehen, dass du wenig Chance zum Überleben hast. Nur fünf Monate alt bist du geworden. Am Kindergrabstein kein Name von dir eingraviert.