Gewachsen im Schatten. Annemarie Regensburger

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      Annemarie Regensburger

      Gewachsen

      im Schatten

      Geschichte einer Befreiung

      Die Drucklegung dieses Werkes wurde unterstützt durch die Abteilung Kultur im Amt der Tiroler Landesregierung, sowie durch das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Abt. V, Kunstsektion).

      2013

      © Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

      Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck, unter Verwendung

      eines Bildes von Brigitte Schalhaas

      Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag

      Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

      ISBN: 978-3-7022-3301-3 (gedrucktes Buch) ISBN: 978-3-7022-3312-9 (E-Book) E-Mail: [email protected] Internet: www.tyrolia-verlag.at

       Gewidmet meinem Heimatdorf Stams

KAPITEL 1

      Von Anfang an ist sie da, die Angst.

      Das Kind liegt im Bett, hat Hunger.

      Alle sind auf dem Feld. Es darf sogar in Mamas Kammer liegen, denn es ist krank, hat Gelbsucht. Das Kind malt sich aus, wie gut das Brot schmecken würde, wenn es sich getraute, in die Küche zu gehen. Es kann nicht. Warum? Es weiß es nicht. Es liegt wie gelähmt im Bett, spürt den Hunger und traut sich nicht, aus der Kammer zu gehen. Die Mama hat dem Kind auf alle Fälle einen Nachttopf unter das Bett gestellt. Für diese Not ist vorgesorgt. Doch das Brot hat sie vergessen.

      Der Hunger wird größer. Das Kind beginnt sich auszumalen: „Ih kannt aus’n Bett hupfn, bis zur Tür giahn, die Kammertür aumachn, schaugn, ob niemed daußn isch, i’ den langen, hoachn, unhuemling Hausgang bis zur Kuchetür springen, aumachn, zur Broutschublad giahn, aumachn, a Stuck ochebrechn und gach zruggspringen.“ Das Herz schlägt dem Kind bis zum Hals.

      Es ist sieben, geht zur Schule, weiß, dass niemand im Haus ist. Es liegt schweißgebadet im Bett, wagt nicht, sich zu bewegen. Es ist starr vor Schreck. Das Kind schläft ein.

      Irgendwann hört es die Mama: „Ja, hasch dir kue Brout kholt? Ih han dir extra uas mit Butter und Marmelad auf’n Tisch gschtellt.“

      „Ih han mih nit traut.“

      „Was bisch’n fiar a Hosnscheißer, siesch bisch ouh gscheid.“

      Doch das weiß das Kind bereits.

      Einmal, das Kind ist sechs, geht noch in den Kindergarten, sitzt es am Boden im Hexenhaus und wartet. Es hat überhaupt keine Angst. Seine Hauptrolle kann es auswendig und die anderen Rollen noch dazu. Es dauert dem Kind nun schon viel zu lang. Es will zeigen, was es kann. Es hat Hunger, sieht das Lebkuchenherz im hinteren Fenster des Hexenhauses. Das Herz des Kindes beginnt laut zu klopfen. Die Kindergartenschwester hat verboten, etwas vom Hexenhaus wegzunaschen. Draußen hört das Kind Hänsel und Gretel kommen. Es murmelt deren Sätze vor sich hin. „Ja, dejs dertue ih nouh“, sagt das Kind halblaut, reißt das Lebkuchenherz herunter, steckt ein Stück davon in den Mund. Da, sein Einsatz! Das Stück ausspucken, eine Kugel formen, hinlegen. Mit dem süßen Geschmack im Mund steht das Kind vor den Menschen. In der zweiten Reihe sitzen die Mama und die beiden Schwestern. Das Kind sagt seinen Text als Hexe wie geschmiert. Alle lachen, klatschen mit den Händen. Im Bauch hat das Kind ein kribbelndes Gefühl. Das schmeckt besser als das Lebkuchenherz. Zurück im Hexenhaus, isst das Kind den Rest auf.

      Die beiden Schwestern sitzen am See.

      „Du willst wissen, wann ich mich das erste Mal an dich erinnere? Ich war gerade sieben. Jeden Tag gegen Abend hab ich für dich die Milch zu einer alten Frau bringen müssen. Eine halbe Stunde am Waldrand entlang hin und eine halbe Stunde zurück. Bevor du auf die Welt kamst, sind unsere zwei Brüder gestorben. Deshalb hat dich die Mama, obwohl du erst zwei Monate alt warst, zu dieser Frau gegeben. Sie wollte, dass wenigstens du am Leben bleibst. Unsere Mama hat für zwei arbeiten müssen, dein Vater war damals schon sehr verstört und ist den ganzen Tag im Bett gelegen. Ich hab mir oft gewünscht, dass du auch stirbst, denn ich hab mich sehr gefürchtet, am Abend so nah am dunklen Wald die Milch zu tragen.“

      Die Schwestern blicken auf den See hinaus. Die Sonne wirft die letzten Strahlen über das Wasser. Es glitzert wie tausend Sterntaler.

      „Wann ich mich das erste Mal an dich erinnere? Ich weiß es nicht mehr. Der Schock hat alles Erinnern gelöscht. Viele Jahre wusste ich nichts mehr von vorher. Alles lag wie im Nebel. Nur das Fürchten, das Verschrecktsein und die Angst vor den Männern verdeutlichten, dass es ein Vorher gab. Später kamen dann manchmal lustige Bilder durch. Einmal hat das Hannele dir eine lebende Maus in deine ärmellose Bluse gesteckt. Haben wir bei der Mama wirklich so eine Bluse anziehen dürfen?“

      „Ja, und sogar eine kurze Hose. Mit der bin ich aufgestanden, wie ich mit dem Kuhfuhrwerk beim Frauenkloster vorbeigefahren bin, damit sie es sehen. Der Pater hat am darauffolgenden Sonntag darüber gepredigt.“

      „Und weißt du, was du singen können hast? ‚Brennend heißer Wüstensand, fern, so fern dem Heimatland. Kein Herz, kein Schmerz.‘ Immer hab ich mir ausgemalt, wo dieses Land sein könnte. Du hast immer arbeiten müssen und warst böse, dass das Hannele immer gesagt hat, dass sie Hausaufgaben machen muss. Die Nale hat gegen dich und die Mama gehetzt, und manches Mal hat die Mama geschrien: ‚Hat ih decht nit den Balg.‘ Aber sie ist doch froh um dich gewesen.“

      Das Kind ist fünf. Es ist Osterzeit. Die Kindergartenschwester erzählt den Kindern von Jesus, wie viel er für die Sünden der Menschen gelitten hat. Das Kind nimmt sich vor, von nun an immer brav zu sein. Eine Ostergeschichte gefällt dem Kind besonders gut. Nach Ostern kommt zum ersten Mal eine geistliche Inspektorin in den Kindergarten. Die junge Schwester ist aufgeregt. Am Morgen gibt sie letzte Anweisungen zum Bravsein und erzählt den Kindern noch eine Don-Bosco-Geschichte.

      Es klopft. Die Inspektorin kommt mit der Schwester Oberin herein. Sie ist freundlich. Die Kinder dürfen sich setzen.

      „Was wisst ihr von Ostern?“

      Schweigen.

      Das Kind steht auf. Die Inspektorin sieht zum Kind hin.

      „Woasch, zwoa habm fescht pleart, wie der Jesus gstorbm isch. In Fald daußn habm se anonder derzählt, wie se nouh traurig sein.“

      Das Kind schluckt. Die Inspektorin wartet gespannt.

      „Noche sein se uan begegnet, dear isch mit ene gangen. Dear hat ene noche grad aso wie inser Mama ’s Brout ausanondertoalt. Da habm sen wieder kennt. Sie habm gschpiert, dass dejs lei der Jesus sein kann.“

      Die Kindergartenschwester strahlt. Die Schwester Oberin und die Inspektorin schenken der jungen Kindergartenschwester einen anerkennenden Blick. Sie sind erstaunt, was sich ein so kleines Bauernmädchen alles merken kann. Das Kind darf sich setzen. Die anderen Kinder klatschen. Das Kind verspürt ein Kribbeln im Bauch und ist glücklich.

      Langsam beruhigt sich der See. Nur noch vereinzelt glitzern Sonnensterne auf dem Wasser. Bald wird die Sonne untergehen.

      „Weißt du noch, wie uns die Tante vom Unterland Pakete geschickt hat?“

      „Ich hab diese Tante nicht mögen. Als unsere Mutter gestorben ist, haben mich Mamas Schwestern im ersten Winter im Unterland in ein Hotel zum Arbeiten gesteckt. Ich war erst sechzehn und hatte von den Männern noch keine Ahnung. Die Tante hat mich in der Freizeit nie zu sich eingeladen. Aber wenn sie ins Klosterdorf gefahren ist, hat sie den Leuten erzählt, dass ich nur auf Männer aus sei.“

      „Aber Pakete hat sie uns früher schon geschickt. Ich weiß noch gut, wie in so einem Paket eine Spielhose mit Rüschenträgern war. Aber die Mama hat gesagt, dass sie mir noch viel