Die zweifelhafte Miss DeLancey. Carolyn Miller

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Название Die zweifelhafte Miss DeLancey
Автор произведения Carolyn Miller
Жанр Языкознание
Серия Regency-Romantik
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783775174862



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auf die Regale. Miss Burneys Romane sagten ihr immer zu, aber sie hatte sie schon mehrmals gelesen. Vielleicht konnte Donaldson auch den neuesten noch beschaffen?

      »Entschuldigung.«

      Clara drehte sich um. Die beiden Damen schauten sie an. Nach den gleichen strahlend blauen Augen und der Ähnlichkeit der Gesichtszüge zu urteilen, schienen sie Schwestern zu sein. Die Rothaarige lächelte etwas zögernder als die andere.

      »Ich habe gerade überlegt, ob Sie Waverley kennen? Mein Bruder meinte, es enthielte ein paar sehr anschauliche Schlachtszenen.«

      »Nein, ich kenne es nicht, aber ein paar von Walter Scotts Gedichten haben mir sehr gefallen.«

      »Oh, ich liebe Marmion«, rief die Blonde. »Es ist mir ganz egal, was die Kritiker sagen. Ich mag beschädigte Helden. Das macht sie so viel glaubwürdiger, finden Sie nicht?«

      »Äh …« Wer mochte diese seltsame Dame sein? Und was ihre Ansicht über beschädigte Helden betraf … »Ich … ja, ich nehme es an.«

      »Wir wissen nur zu gut, dass Helden beschädigt sein können, nicht wahr, Tessa?«, wandte sie sich an den Rotschopf, in deren leuchtendem Haar Glanzlichter funkelten, als sie nickte. »Manche verstecken ihr gutes Herz hinter dicken Schichten von Humor und Neckereien.«

      Clara dachte an den Mann, der sie vor drei Nächten gerettet hatte. »Oder Zorn.«

      »Ganz genau! Oh, entschuldigen Sie bitte.« Die Blonde streckte die Hand aus. »Ich bin Mrs McPherson und das ist meine Schwester, Miss Kemsley.«

      Clara gab ihnen die Hand. »Miss DeLancey.«

      »Nun, Miss DeLancey, ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?«

      »Ich, das heißt, meine Familie lebt erst seit einem knappen Jahr in Brighton.«

      »Aber das ist ja wunderbar! Meine auch! Na ja, eigentlich erst seit sechs Monaten. Ich bin hierhergezogen, als ich geheiratet habe.« Mrs McPherson lächelte gewinnend. »Davor habe ich bei meinem Bruder in Kent gelebt, wissen Sie.«

      Clara nickte leicht benommen, als wüsste sie es wirklich. War sie schon je einem solchen sprühenden Temperamentsbündel von Dame begegnet? Mutter würde einen Anfall bekommen! Und Vater würde Mrs McPherson zweifellos als vulgäres Gewächs bezeichnen. Doch irgendetwas ließ sie stehen bleiben und dieses keineswegs von ihr gewünschte Gespräch fortsetzen. »Ist das der Bruder, der Waverley gelesen hat?«

      »George? Nein, ich glaube, er liest leider schon seit Jahren nur noch die Rennberichte. Nein, Benjie ist derjenige, der immer gern gelesen hat, was sich gut trifft, wenn man so viel Zeit auf See verbringt, nicht wahr?«

      Benjie? Was für ein seltsamer Name; ein Name für einen Welpen. Er musste noch ziemlich jung sein. Andererseits war es recht altklug, in so jugendlichem Alter schon seine Ansichten über Scotts Romane zum Besten zu geben. Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass die beiden Damen sie neugierig ansahen und offensichtlich auf eine Antwort warteten, und sagte: »Ich glaube schon.«

      Die Blonde lachte ein warmes Lachen, das eine noch nicht lange zurückliegende Erinnerung wachrief, doch bevor Clara sich klar werden konnte, woran es sie erinnerte, sagte Mrs McPherson: »Also, Miss DeLancey, sollen wir es wagen?«

      Sie hatte sich bei ihrer Schwester eingehängt und ging langsam los, sodass Clara ihr folgen musste.

      »Was genau wagen?«, fragte Clara.

      Mrs McPherson hielt das Buch hoch. »Sollen wir uns die Mühe machen zu prüfen, ob der Roman es wert ist, gelesen zu werden?«

      »Nun, wenn er Ihnen nicht gefällt, können Sie ihn ja Ihrem Bruder zum nochmaligen Lesen geben. Vorausgesetzt, er ist nicht in der Schule.«

      »Schule?« Die beiden Damen wechselten einen überraschten Blick.

      Also war er vielleicht doch schon ein wenig älter? Ach ja, richtig, er war ja auf See. Sie lächelte ironisch. Mrs McPhersons Bruder war nicht der Einzige, der auf See war. Vielleicht hatte Vater recht und sie musste wirklich mehr darauf achten, was andere Leute erzählten. »Das Schöne an einer Leihbücherei ist ja, dass man ein Buch auch ungelesen zurückgeben kann. Also leihen Sie es ruhig aus.«

      »Was meinst du, Tessa?«

      Die kleine Rothaarige murmelte etwas Zustimmendes.

      »Dann wäre das also erledigt.« Mrs McPherson lächelte strahlend, drehte sich um und trat an den Ausleihschalter. Clara blinzelte. Wie waren sie jetzt plötzlich zum Ausleihschalter gelangt? Verzauberte diese außergewöhnliche Frau die Menschen um sich herum?

      Als sie fertig war, drehte sie sich wieder zu Clara um. »Miss DeLancey, ich hoffe sehr, dass Sie nun das andere Wagnis eingehen.«

      »Welches andere Wagnis?«

      »Dass wir Freundinnen werden.«

      Vielleicht war es der offene Blick oder das freundliche Lächeln der Schwestern. Vielleicht lag es daran, dass sie das Gefühl hatte, sich diesem eisernen Willen beugen zu müssen. Vielleicht war es der Schmerz der Sehnsucht, den sie vorhin empfunden hatte, oder das leise Ziehen, das sie jetzt empfand. Was auch immer, es gab nur eine Antwort:

      »Ja.«

Ornament

      Ben humpelte zum Pfarrhaus zurück. Die Antwort auf den Brief, den er gestern an Dr. Townsend abgeschickt hatte, konnte gar nicht früh genug kommen. Das Pochen in seinem Knie war heute Morgen stärker gewesen und die dumme Idee, eine Strandwanderung zu machen, hatte die Schmerzen noch einmal sehr verschlimmert. Warum machte Gott ihn nicht gesund? Wie für alle Angehörigen seiner Familie, bis auf seinen älteren Bruder, waren die Verheißungen der Bibel für Ben in seinem Leben so wahr wie seit Jahrhunderten. Er wappnete sich gegen die besorgten Fragen, die mit Sicherheit kommen würden, zwang sich, ganz normal zu gehen und zu lächeln, und ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen.

      »Benjie!«

      »Hallo, Matilda. Na, was hast du heute Vormittag gemacht?«

      »Ich habe es gerade David erzählt. Tessa und ich waren in der Leihbücherei. Sieh mal, was ich mir mitgebracht habe.« Sie schob ihm Waverley hin.

      »Eine gute Wahl, wenn ich mich recht erinnere.«

      »Und wir haben jemanden kennengelernt.«

      Ben sah seinen Schwager mit hochgezogenen Brauen an. »Müssen wir uns Sorgen machen?«

      Mattie lachte und strich ihrem Mann zärtlich über die Hand. »Ich glaube, mit David hat das nichts zu tun, außer vielleicht, was die Rettung ihrer Seele angeht.« Sie wandte sich wieder an Ben: »Aber mit dir …«

      Er betrachtete sie stirnrunzelnd. Die Einmischung seiner Schwester in sein nicht existierendes Privatleben war wirklich das Letzte, was er brauchte.

      »Sie war so seltsam. Sie hat mich angestarrt wie ein ausgestopftes Tier in Bullocks Museum.«

      »Das klingt durchaus nachvollziehbar. Ich nehme an, du hattest dich nicht vorgestellt?«

      Sie schnaubte. »Wir sind hier nicht in London. Hier schert man sich nicht um solche Dinge.«

      »Du könntest überrascht sein. Nicht jeder schätzt diese Ungezwungenheit.«

      »Wie George zum Beispiel.«

      George, ihr Bruder, der zum großen Amüsement seiner Geschwister nach seinem kürzlichen Aufstieg in die Baronetswürde, die er von einem entfernten Cousin geerbt hatte, urplötzlich höchsten Wert darauf legte, korrekt angeredet zu werden.

      »Sie war sehr nett«, sagte Tessa leise.

      »Wer? Ach, die Dame, die ihr kennengelernt habt. Hat sie auch einen Namen?«

      »Miss DeLancey.«

      Er