Rot und Schwarz. Стендаль

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Название Rot und Schwarz
Автор произведения Стендаль
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783961180882



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nicht ganz aus den Augen.

      Sie bildete sich ernstlich ein, den Verstand zu verlieren, und sagte das auch ihrem Manne. Schließlich wurde sie wirklich krank. Des Abends, als die Jungfer sie bediente, merkte sie, dass sie weinte. Frau von Rênal verabscheute Elise und hatte sie eben ungnädig behandelt. Um es wieder gutzumachen, sagte sie ihr jetzt ein paar gütige Worte, worauf das Mädchen erst recht zu weinen anfing. Wenn die gnädige Frau es ihr erlaube, schluchzte sie, so wolle sie all ihr Unglück erzählen.

      »Erzähle!« gebot Frau von Rênal.

      »Ach, gnädige Frau, er will mich nicht! Böse Menschen haben mich wohl bei ihm schlecht gemacht, und er glaubt ihnen.«

      »Wer will dich nicht?« stieß Frau von Rênal hervor.

      »Ach gnädige Frau, doch der Herr Julian! Nicht einmal der Herr Pfarrer hat bei ihm etwas ausrichten können, wo er ihm doch vorgestellt hat, dass man einem anständigen Mädchen keinen Korb geben darf, bloß weil es in Diensten steht. Herrn Julians Vater ist ja auch nur Handwerker. Und wie hat sich Herr Julian sein Brot verdient, ehe er zur gnädigen Frau ins Haus kam?«

      Frau von Rênal hörte nichts mehr. Vor übergroßem Glück vermochte sie kaum noch klar zu denken. Elise musste ihr mehrmals versichern, dass Julian ihren Antrag entschieden und ein für alle Mal abgelehnt hatte. Darauf erklärte Frau von Rênal: »Ich will trotz allem einen letzten Versuch machen und selber einmal mit Julian sprechen.«

      Am nächsten Tag, nach dem Frühstück, vertrat Frau von Rênal die Sache ihrer Nebenbuhlerin. Eine Stunde lang hörte sie zu ihrer Wonne, dass Julian Elisens Hand und Habe beharrlich zurückwies.

      Nach und nach schwand auch seine Wortkargheit, und schließlich hatten seine Einwände auf ihre klugen Vorstellungen wirklich Sinn und Verstand. Dem Glücksrausche, der ihre Seele nach so vielen Tagen der Verzweiflung überflutete, war Frau von Rênal nicht gewachsen. Nunmehr ward sie tatsächlich sehr krank. Als es ihr wieder besser ging und sie behaglich in ihrem Zimmer saß, blieb sie am liebsten allein. Sie staunte über sich selbst.

      »Liebe ich Julian?« fragte sie sich.

      Diese Entdeckung, die ihr zu jedem andern Zeitpunkte Gewissensbisse bereitet und sie erschüttert hätte, kam ihr jetzt nur wie ein merkwürdiges Spiel vor, dessen unbeteiligte Zuschauerin sie war. Durch all das überstandene Leid war ihre Seele erschöpft und ihre Sinnlichkeit eingeschläfert.

      Sie wollte arbeiten, aber sie schlummerte darüber ein. Als sie aus ihrem tiefen Schlaf erwachte, war sie nicht so erschrocken, wie sie es hätte sein müssen. Sie war viel zu glücklich, als dass sie sich irgendwelcher Sünde bezichtigt hätte. Harmlos und unschuldig, wie sie als Kleinstädterin war, hatte sie sich angesichts einer ihr neuen Stimmung oder eines Unglücks niemals gefühlvolle Momente abgerungen. Vor Julians Ankunft war sie durch die Arbeitslast, die auf dem Land eine gute Hausfrau zu bewältigen hat, vollständig in Anspruch genommen. Und in den Leidenschaften sah sie ungefähr dasselbe wie im Lotteriespiel: eine Fata Morgana, der nur die Dummen nachrennen.

      Es schellte zum Mittagessen. Als sie Julians Stimme vernahm, ward sie glutrot. Er kam mit den Knaben herein. Die Liebe hatte Frau von Rênal bereits gewitzigt, und so sagte sie, zur Entschuldigung ihrer Röte, sie habe grässliche Kopfschmerzen.

      »So sind die Weiber durch die Bank!« bemerkte der Bürgermeister und lachte rüd. »Ewig ist an ihrer Mechanik etwas nicht in Ordnung.«

      Frau von Rênal war zwar an derartige Scherze ihres Mannes gewöhnt, aber seine Art und Weise verletzte sie doch. Um sich auf andre Gedanken zu bringen, betrachtete sie Julians Gesicht. Und wenn er der hässlichste aller Menschen gewesen wäre: in diesem Augenblick hätte er ihr gefallen.

      Herr von Rênal hielt ungemein darauf, in Äußerlichkeiten den Grandseigneur zu spielen. Deshalb pflegte er an den ersten schönen Frühlingstagen seinen Haushalt nach Vergy zu verlegen, einem Dorfe, das durch das tragische Schicksal der Gabriele von Vergy allbekannt ist. Unweit der malerischen Ruinen einer alten gotischen Kirche lag das Schloss mit seinen vier Türmen, inmitten eines Parkes, der sein Vorbild in den Tuilerien-Gärten hatte, mit Buchsbaumhecken und Kastanienalleen, die jährlich zweimal verschnitten wurden. Das angrenzende Stück Land, das mit Apfelbäumen bepflanzt war, diente zum Spazierengehen. Am Ende dieses Obstgartens reckte eine Reihe prächtiger haushoher Nussbäume die massigen Wipfel.

      Wenn Frau von Rênal von diesen alten Bäumen schwärmte, brummte ihr Mann jedes Mal: »Jedes dieser verflixten Dinger stiehlt mir den Ertrag eines halben Morgens! In ihrem Schatten gedeiht kein Halm!«

      Diesmal kam ihr der Landaufenthalt wie etwas ganz Neues vor. Ihr Entzücken stieg bis zur Ekstase. Die Stimmung, die sie belebte, machte sie erfinderisch und unternehmungslustig. Am zweiten Tag nach der Ankunft in Vergy, als Herr von Rênal nach der Stadt zurückgefahren war, um seines Amtes zu walten, ließ sie auf ihre Kosten Arbeiter kommen. Julian hatte sie auf den Gedanken gebracht, einen Kiespfad anzulegen, um den Obstgarten herum und entlang der großen Nussbäume, damit die Kinder schon am Morgen Spazierengehen könnten, ohne sich die Schuhe im Tau des Grases nass zumachen. Der Plan war keine vierundzwanzig Stunden alt, da ward er bereits zur Tat. Frau von Rênal und Julian verbrachten den ganzen Tag froh und heiter, indem sie den Wegebau leiteten.

      Als der Bürgermeister heimkehrte, sah er zu seiner höchsten Überraschung die fertige Promenade. Nicht minder überrascht war Frau von Rênal. Sie hatte die Existenz ihres Ehegemahls gänzlich vergessen. Acht Wochen lang hörte er nicht auf, die Kühnheit seiner Frau zu tadeln, dass sie, ohne ihn zu befragen, einen so beträchtlichen Umbau ins Werk gesetzt habe. Sein einziger Trost dabei war, dass sie die Kosten bestritten hatte.

      Tagtäglich war sie mit ihren Kindern im Baumgarten auf der Schmetterlingsjagd. Man hatte sich große Netze aus heller Gaze hergestellt, mit denen die Lepidopteren gefangen wurden. Diesen barbarischen Namen für die armen Tierchen brachte Julian Frau von Rênal bei. Sie hatte das schöne Buch über die Schmetterlinge von Godart aus Besançon kommen lassen. Danach erzählte ihr Julian von dem merkwürdigen Leben und Treiben dieser Geschöpfe. Sie wurden erbarmungslos auf Nadeln gespießt und in einem großen Kasten gesammelt, den Julian zusammengepappt hatte.

      Nunmehr gab es auch Gesprächsstoff zwischen ihm und seiner Gebieterin, und die schreckliche Qual der Schweigsamkeit zu zweit suchte ihn nicht mehr heim. Sie redeten unaufhörlich miteinander, und zwar mit dem größten Eifer, wenngleich immer von sehr harmlosen Dingen.

      Dieses rege heitere Leben befriedigte alle; nur Jungfer Elise klagte über zu viel Arbeit. »Nicht einmal zum Karneval«, sagte sie, »wenn in Verrières Ball war, hat die gnädige Frau so viel Sorgfalt auf ihre Kleidung verwandt. Sie zieht sich täglich zwei- bis dreimal anders an.«

      Hierzu sei ehrlicherweise bemerkt, dass Frau von Rênal, die wundervolle Haut hatte, mit Vorliebe Kleider trug, die Hals und Arme frei ließen. Da sie prächtig gewachsen war, stand ihr dies entzückend.

      Wenn die Verrièrer Freunde als Tischgäste nach Vergy kamen, sagten sie zu ihr: »Gnädige Frau, Sie sehen jünger denn je aus!« Allerdings war das eine stehende Redensart in jener Gegend.

      So seltsam es klingen mag: Frau von Rênal hatte durchaus keine besonderen Absichten, wenn sie so viel Sorgfalt auf sich verwandte. Es machte ihr Vergnügen. Das bisschen Zeit, das ihr die Schmetterlingsjagd mit den Kindern übrig ließ, arbeitete sie mit Elise an neuen Kleidern. Und das einzige Mal, wo sie nach Verrières fuhr, galt dem Kaufe eines Sommerkostüms, des Allerneuesten aus Mülhausen.

      Bei dieser Gelegenheit brachte sie eine entfernte Verwandte von sich mit nach Vergy, Frau Derville, die gleichzeitig mit ihr im Kloster zum Herzen Jesu gewesen war. Nach ihrer Heirat hatte sie sich allmählich mit ihr befreundet.

      Frau Derville hatte immer viel Spaß an den drolligen Einfallen ihrer Base.

      »Wenn ich allein wäre, käme mir derlei gar nicht in den Sinn«, meinte Frau von Rênal. Vor ihrem Mann schämte sie sich nämlich ihrer unvermittelten Anwandlungen. Sie kamen ihr kindisch vor; in Paris hätte man das Bizarrerien genannt. Aber in Frau Dervilles Gegenwart wuchs ihr Mut. Je länger sie mit ihr allein war, umso mehr ging sie aus sich heraus und desto lebhafter wurde sie. Ein ganzer Vormittag verflog den beiden lustigen Freundinnen gewöhnlich, als wäre es nur ein Augenblick. Diesmal fand die kluge Frau Derville