Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

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Название Die wichtigsten Werke von Richard Voß
Автор произведения Richard Voß
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027223008



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und da sie trotz der warmen Nachtluft zu frieren begann, löste sie ihr Haar und hüllte sich darin ein.

      Welche Schmach! war alles, was sie zu denken vermochte.

      Sie hörte unten den Fluß rauschen und lauschte darauf. Warum hatte sie sich nicht über die Brüstung geschwungen? Gern hätte sie es noch jetzt getan; aber sie konnte sich nicht regen. Es war ihr, als müßte sie einen Gedanken fassen, der ihr so lange fern gelegen, einen Entschluß ausführen, auf den sie nicht vorbereitet war. Was mochte es sein?

      Sie mußte sich aus der Erniedrigung erheben, sie mußte sich reinigen oder ihr Leben beenden. Aber wie sich erheben, wodurch sich reinigen?

      Durch wahre Liebe! Sie mußte wahrhaft geliebt werden. Sie kannte manche, denen sie Leidenschaft einflößte; aber das war es ja eben, was ihr diese Männer abscheulich machte, was sie erniedrigte. Sie mußte wahrhaft geliebt werden! Wer aber liebte sie wahrhaft? Sie dachte nach und fand keinen. Ach, Sascha – –

      War sie von Sinnen, daß sie an diesen denken konnte, gerade an diesen?! Sie strengte sich an, es nicht zu tun, aber es gelang ihr nicht, ihre Gedanken von ihm zu wenden. Sie bemühte sich, ihn lächerlich zu finden, grob und plebejisch. Aber unablässig verfolgten sie sein frischer, roter Mund, seine traurigen Kinderaugen, Und diese Augen leuchteten auf in dem heiligen Feuer seiner Liebe zu ihr! Dieser Mund stammelte wirre Worte: sein Entzücken für sie! Ohne Abscheu zu empfinden, konnte sie denken, daß sie von diesen Lippen geküßt wurde wie ein Heiligenbild von einem Gläubigen, einem Verzückten.

      Wie, wenn sie sich von ihrer Schmach befreite, dadurch, daß sie die Liebe, die Verehrung, die Anbetung dieses Guten und Reinen gestattete?

      Wenn sie es recht bedachte, so mußte sie sich gestehen, daß sie noch keinen beglückt hatte, keinen Menschen wirklich beglückt, auch nicht für eine Stunde! Sie hatte Wohltaten gespendet und es war ihr gedankt worden; aber Glück bereitet hatte sie niemals. Hier konnte sie es, hier war ihr Gelegenheit gegeben, mit vollen Händen auszustreuen, zu verschwenden: Glück, Glückseligkeit!

      Der neue Tag, der über Rußland aufging, beseelte die Menschen mit neuen Gefühlen, der Mann aus dem Volke stand gleichberechtigt neben der Frau aus der Gesellschaft, die sich nicht länger zu ihm herabwürdigte, sondern ihn und mit ihm sich selbst erhob durch die hohe Empfindung, die sie einflößte und der sie sich hingab.

      Welch eine Phantasie!

      Eine neue Welt, darin Volk und Gesellschaft sich geschwisterlich verschmolzen; als erstes Menschenpaar der Mann aus dem Volke und die Frau aus der Gesellschaft: der Bauernstudent Sascha und die Prinzessin Anna Pawlowna – – –

      Es würde ein Opfer ihres ganzen Selbst sein, aber ihr Entschluß war gefaßt.

      Der Himmel lichtete sich, der Morgen dämmerte. Sie stand auf, warf ihre Haare zurück und hob das Gesicht dem anbrechenden Tage entgegen. Ihr war, als hätte allein schon ihr Vorsatz sie gereinigt von der Schande dieser Nacht.

      Neubelebt schritt sie ihrem Schlafzimmer zu.

      Vierunddreißigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Am nächsten Tag brachte Wladimir Wera zur Prinzessin. Er hatte ihr strenge Instruktionen erteilt und war ihres Gehorsams gewiß. Denn mehr und mehr begriff die Nihilistin, daß sie der Sache am meisten durch ihre blinde Unterwerfung dienen könnte, daß diese Unterwerfung alles sei, was man von ihr erwarte, alles, was sie zu tun vermochte. Sie bemühte sich, ihr rebellisches Gewissen durch allerlei Vorspiegelungen einzuschläfern, sich vorzureden, daß sie ein störrisches Gemüt hätte, und daß es lediglich an ihrer Unwissenheit läge, wenn sie nicht voller Glauben und Überzeugung war.

      Auch wurde ihre Seele von ganz anderen Stürmen durchtobt, mehr und mehr bemächtigte sich ihrer Phantasie die Vorstellung eines gerettetenBoris Alexeiwitsch. Mit Schaudern hatte sie seine Beichte angehört. Sie war zu rein, um sich von dem Leben und den Lastern eines solchen Mannes eine Vorstellung machen zu können. Aber mit der Intuition der Frau erkannte sie bei seinen leidenschaftlichen Ergüssen, daß es Verhältnisse gäbe, von deren Dasein sie keine Ahnung hatte. Ihre Instinkte warnten sie vor dem Wüstling, aber sie fühlte sich trotzdem von dem Wunsche durchdrungen, diesen Mann dem Volke zuzuführen. Mit seiner glühendsten Beredsamkeit hatte er ihr versichert, daß er sich schuldig fühlte, daß er seine Rettung nur in ihr sähe. Und sie glaubte ihm; weshalb hätte er sie täuschen sollen? Mit der Heftigkeit einer religiösen Schwärmerin ergriff sie die Aufgabe, an dieser verlorenen Seele ein Wunder zu tun.

      In solchem Zustande überlieferte sie sich vollständig dem Willen Wladimirs, dessen Anschauungen über die Frauen dabei einen Triumph feierten. Von dem Augenblick an, da Wera ihm mit Boris Alexeiwitsch entgegengetreten, glaubte er sein Spiel gewonnen. Die verführte Wera würde ein ganz anderes Werkzeug abgeben, als diese unbefleckte Reinheit. Um die Menschen nach Gutdünken verwenden zu können, mußte man mit ihren Leidenschaften rechnen. Dasselbe Exempel mit demselben günstigen Ergebnis hoffte Wladimir mit Anna Pawlowna und Sascha aufzustellen, ahnungslos, wie Zufall und Verhältnisse seine Plane begünstigten.

      Die Prinzessin empfing Wera sehr freundlich, ließ ihr ein Zimmer in der Nähe ihres Schlafgemachs anweisen und gab ihr, um einem etwaigen Verdacht der Polizei und Dienerschaft vorzubeugen, eine bestimmte Beschäftigung in ihrem Haushalte. Ihre nihilistischen Sympathien noch stärker zu beweisen, organisierte sie in Veras Zimmer eine wöchentliche Zusammenkunft des Komitees, der auch Natalia Arkadiewna, Boris Alexeiwitsch und Sascha beiwohnen sollten.

      Wera suchte sogleich Natalia Arkadiewna auf, die wieder sehr leidend war, aber nichts von Ruhe wissen wollte.

      »Dafür werde ich später Zeit genug haben; plagt mich nicht mit eurer Sorgfalt, Das Volk kommt durch Elend und Krankheit scharenweise um, ohne daß man sich darum kümmert. Ich will keinen Arzt haben. Gerade jetzt bin ich so glücklich, denn endlich, endlich soll es zu großen Ereignissen kommen. Wenn ich sie nur erlebe! Und dann noch eins: ich möchte dich so gern für die Sache erziehen. Du hast die besten Anlagen, aber du bist noch nicht entwickelt. Also zum Auskundschaftsdienst hat Wladimir dich bestimmt? Ich hätte ihm nicht zugetraut, daß er deine innerste Natur so verkennen könnte. Doch wer weiß, vielleicht ist es eine gute Schule für dich, übrigens finde ich dich verändert; ist dir etwas geschehen?«

      Wera begegnete dem forschenden Blick, der auf sie fiel, ruhig und offen.

      »Boris Alexeiwitsch ist zu mir gekommen.«

      »Schon?«

      »Gestern.«

      »Ich erwartete es; nur nicht so bald.«

      »Du verkennst ihn.«

      »Wäre das bei Boris Alexeiwitsch möglich? Aber ich sage dir, du steckst noch voller Einbildungen, du wirst noch vieles lernen müssen. Das kannst du allerdings nicht bald genug. Was wollte er von dir?«

      »Ich sollte ihm helfen.«

      »Du – ihm? Worin sollst du ihm helfen?«

      »Daß er aus vollem Herzen einer der Unseren würde. Er hat so gute Absichten.«

      »Du hast ihm natürlich alles zugesagt?«

      »Konnte ich anders? Bedenke doch!«

      »Er fängt es fein an. Sei versichert, er kennt dich, er weiß, wo du zu fassen bist.«

      »Du zürnst mir?«

      »Ich bedaure dich.«

      »Warum?«

      »Er wird seine Absicht nicht erreichen, aber du wirst dabei zugrunde gehen. Es ist schade um dich; doch ist dir nicht zu helfen. Würdest du mir wenigstens folgen und nach Dawidkowo gehen.«

      »Um unter den Leuten von Grischa Michailitsch Agitation gegen ihren Herrn zu machen!«

      »Um die Agitation zu verhindern. Wenn er seinen Bauern nicht mehr Land gibt – – «

      »Das