Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band. Hugo Friedländer

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Название Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band
Автор произведения Hugo Friedländer
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Год выпуска 0
isbn 9783754958056



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daß im Jahre 1873 die Kgl. Strafanstalt zu Aachen das Direktorium in Brauweiler um Übersendung des Modells der Mundbinde ersuchte. Das Brauweiler Direktorium lehnte jedoch dieses Gesuch, mit dem Hinweis auf das erwähnte Ministerialreskript, ab. Nach dieser Zeit sei aber das Ministerialreskript weder in Brauweiler noch bei der Düsseldorfer Provinzialverwaltung bekannt gewesen. Erst im Frühjahr dieses Jahres sei das Reskript bei dem Oberpräsidium zu Koblenz aufgefunden worden.

      Vert.: Wie werden wohl Ministerialreskripte, Regierungsverfügung usw. den Aufsichtsbeamten bekanntgemacht?

      Zeuge: Ob letzteres geschieht, weiß ich nicht, jedenfalls werden alle Ministerialreskripte den der Provinzialverwaltung unterstehenden Anstalten abschriftlich mitgeteilt.

      Direktor Schellmann bekundete darauf als Zeuge: Der Häusling Widdor sei im Januar d.J. von einem Polizeibeamten aus Stolberg eingeliefert worden. Der Polizeibeamte habe ihm, unter Übergabe des gerichtlichen Urteils, wonach Widdor wegen Arbeitsscheu, Vernachlässigung seiner Familie usw. zur Unterbringung in eine Besserungsanstalt verurteilt war, mitgeteilt, daß Widdor Simulant sei. Er sei zunächst zwei Tage in eine Beobachtungszelle gebracht und vom Anstaltsarzte Dr. Bodel untersucht worden. Da letzterer ihn für gesund und arbeitsfähig erklärte, wurde er zur Arbeit kommandiert. Er habe sich aber geweigert, zu arbeiten, deshalb wurde er in eine Arrestzelle gesperrt. Am folgenden Nachmittage sei ihm mitgeteilt worden, daß Widdor in der Zelle erkrankt sei. Er (Schellmann) habe sich sofort in die Zelle begeben und dort den Widdor auf dem Strohsack liegen sehen. Es habe ihm geschienen, daß der Mann an epileptischen Krämpfen leide. Er habe sofort angeordnet, dem Manne ein Kopfkissen zu bringen, und Dr. Bodet benachrichtigt. Letzterer ordnete sofort die Überführung des Mannes in das Lazarett an. Diese erfolgte auch noch am selben Abend. Am folgenden Tage nachmittags sei ihm mitgeteilt worden, daß Widdor gestorben sei.

      Polizeisergeant Graf: Widdor sei ein notorischer Trunkenbold gewesen, der wiederholt wegen Arbeitsscheu bestraft wurde. Als er den Auftrag erhielt, Widdor nach Brauweiler zu transportieren, habe dieser den größten Widerstand entgegengesetzt. Da sich der Mann entschieden weigerte, nach Brauweiler zu gehen, habe er ihn schließlich auf einer Karre nach Brauweiler fahren müssen.

      Stadtsekretär Burger (Stolberg): Widdor sei ihm seit langer Zeit als Trunkenbold bekannt gewesen.

      Gefängnisarzt Dr. Thelen: Ich hatte den Widdor zu untersuchen, ob seine Körperkonstitution die Überführung nach Brauweiler gestattete. Ich stellte fest, daß Widdor wohl ein notorischer Säufer, aber arbeitsfähig war. Widdor beteuerte, daß er zu schwach zum Arbeiten sei. Um eine Probe zu machen, sagte ich mit lauter Stimme: »Der Mann kann nicht nach Brauweiler geschickt werden, machen Sie, daß Sie rauskommen.« Widdor lief darauf eiligst aus dem Zimmer. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

      Dr. Bodet hatte bei seiner kommissarischen Vernehmung bekundet: Widdor sei am Delirium patatorum und Herzlähmung gestorben. Der Mann habe an chronischem Alkoholismus gelitten. Auch haben sich bei dem Manne Spuren einer Rippenfellentzündung vorgefunden. Der Mann hatte sich beklagt, daß er von dem Polizeibeamten auf dem Transport einen Tritt in den hinteren Körperteil erhalten habe. Der objektive Befund habe aber dafür keinen Anhalt ergeben.

      Sanitätsrat Dr. Thelen, als Sachverständiger vernommen, bekundete: Es scheine ihm nicht, daß der Transport, das Einsperren in die Zelle usw. den Tod des Widdor herbeigeführt bzw. wesentlich gefördert habe. Eher habe es den Anschein, daß der Mann am Delirium tremens gestorben sei. Es sei ja bekannt, daß das Delirium tremens bei Gewohnheitstrinkern auch auftrete ohne unmittelbar vorhergehenden starken Schnapsgenuß. Auch große Erregung könne bei Gewohnheitstrinkern das Delirium tremens herbeiführen und es sei wohl nicht zweifelhaft, daß der Transport nach Brauweiler Widdor sehr aufgeregt habe.

      Auf Befragen des Verteidigers verneinte Schellmann, daß er gesehen, wie Widdor auf dem Hofe, als er ihm vorgeführt wurde, geschlagen worden sei.

      Lazarettaufseher Nengroda schloß sich im wesentlichen den Bekundungen des Direktors Schellmann an. Widdor hatte wohl einen schwankenden Gang, im übrigen habe er sehr gut gehen können. Dr. Bodet habe für Widdor, als dieser ins Lazarett gebracht wurde, sofort Kognak und Wein angeordent. Darüber habe sich Widdor sehr gefreut. Er habe niemals wahrgenommen, daß Häuslinge in Brauweiler mißhandelt wurden, ebensowenig habe er an Leichen, mit Ausnahme derjenigen, die an Lungenkrankheiten gestorben waren, eine besondere Entkräftung wahrgenommen und auch nicht, daß Leichen mit Fuß- oder Handschellen gefesselt waren. Es sei ihm nicht bekannt, daß Leute aus der »Cachotte« ins Lazarett zur Auffütterung gebracht wurden, weil die Leute in der »Cachotte« zu sehr entkräftet waren. Im Winter 1894/95 seien niemals über sechs Patienten wegen erfrorener Gliedmaßen im Lazarett gewesen. Alle Verordnungen im Lazarett treffe der Anstaltsarzt; Direktor Schellmann habe niemals eine Änderung dieser Anordnungen vorgenommen. Letzterer komme alle acht bis zehn Tage ins Lazarett und spreche alsdann mit jedem einzelnen Kranken.

      Auf Befragen des Nebenklägers Direktors Schellmann bekundete der Zeuge noch: Ein Kranker habe einmal epileptische Krämpfe gehabt. Er habe ihm Priemtabak hingelegt und den Saal verlassen. Der Patient habe während dieser Zeit, trotz seiner vorgeblichen epileptischen Krämpfe, den Priemtabak sich angeeignet. Ein anderer Häusling habe ihm erzählt, daß er, um beim Betteln größere Erfolge zu haben, allerlei Gebrechen simuliere.

      Gutsverwalter Stemmler: Er habe wohl einige Male gesehen, daß Häuslinge von Aufsehern gestoßen worden seien, Mißhandlungen habe er aber niemals wahrgenommen.

      Gutsbesitzer Pauli: Er habe mehrfach mit den Häuslingen gesprochen und wahrgenommen, daß letztere Herrn Direktor Schellmann sehr zugetan waren. Schellmann sei wohl strenger, aber gerechter und wohlwollender den Häuslingen gegenüber gewesen, als sein Vorgänger.

      Vert.: Haben Ihnen Häuslinge gesagt, daß sie gern nach Brauweiler zurückgehen? (Lautes Gelächter im Zuhörerraum.)

      Vors.: Ich muß das Publikum dringend zur Ruhe ermahnen. Die Verhandlung ist wahrlich nicht dazu da, das Publikum zu amüsieren.

      Zeuge Pauli bemerkte alsdann: Eine solche Äußerung hat allerdings niemals ein Häusling getan, ich habe auch nur sagen wollen, daß es den Häuslingen, den Umständen angemessen, in Brauweiler gefallen habe.

      Direktor Zietschmann: Den Häuslingen werde bei ihrer Einlieferung die Hausordnung vorgelesen, in der das Beschwerderecht mitgeteilt sei. Letzteres werde den Häuslingen noch allmonatlich extra bekannt gemacht.

      Vors.: Es wird behauptet, daß Sie einmal Herrn Direktor Schellmann mit einem Revolver bedroht haben?

      Zeuge: Das ist vollständig unwahr.

      Vors.: Haben Sie denn mit Herrn Direktor Schellmann Differenzen gehabt?

      Zeuge: Ich hatte wohl einige Male Differenzen mit Herrn Direktor Schellmann, diese wurden jedoch sämtlich sehr bald friedlich beigelegt.

      Es erschien als Zeuge der katholische Anstaltsgeistliche von Brauweiler, Pastor Peiner. Er sei 31 Jahre Anstaltsgeistlicher in Brauweiler und habe niemals Mißhandlungen von Häuslingen wahrgenommen. Zwei Häuslinge haben sich allerdings bei ihm über Mißhandlungen von Aufsehern beklagt, er habe die Aufseher deshalb zur Anzeige gebracht. Er habe einmal der Korrigendin Zimmer wegen Ungehorsams mit einem Reitstock ein paar Schläge versetzt. Die Häuslinge haben sich niemals über schlechte Behandlung seitens des Direktors Schellmann beklagt. Er habe auch niemals wahrgenommen, daß Häuslinge an Entkräftung oder infolge von Mißhandlungen gestorben seien.

      Vors.: Haben Sie sich einmal bei dem Landesdirektorium über Direktor Schellmann beschwert?

      Zeuge: Nein, niemals.

      Vors.: Sie sollen einmal zu einem Aufseher gesagt haben: »Vor Schellmann hat kein Mensch Achtung, der Mann ist nur gefürchtet?«

      Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich, das kann ich auch nicht gesagt haben.

      Der hierauf vernommene evangelische Anstaltsgeistliche van de Loo schloß sich im wesentlichen den Bekundungen des Vorzeugen an. Direktor Schellmann sei sowohl den Häuslingen als auch den Beamten gegenüber