§4253. Nathalie D. Plume

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Название §4253
Автор произведения Nathalie D. Plume
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754188163



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bitte in die Leitung“, bevor sie die Glastür hinter ihr schließt.

      Das Gespräch mit einem Herrn Kron ist für Jalmas ohnehin schon erregtes Gemüt wenig zutunlich. Der Mann am anderen Ende der Leitung scheint unter einem enormen emotionalen Druck zu stehen und es ist sehr schwer seine Erläuterungen zu verstehen, da immer wieder Leute in sein Büro stürmen. Vermutlich ist das in Anbetracht der Tatsache, was da gerade vor sich geht, keine Besonderheit. Marcel Kron, der stellvertretende Geschäftsführer von Dukjon, bestätigt Jalmas schlimmste Vermutungen. Nach einer Viertelstunde angespannten Gesprächs wirkt es, als würde in ihm eine Reißleine bersten und alles, was er noch sagen kann, bevor es in der Leitung piept, ist, dass er dringend mit irgendeinem Paul Barens reden muss und er jetzt leider, so unhöflich das auch wäre, dieses Gespräch beenden müsse. Er entschuldigt sich noch ein paar Mal, dann wird die Verbindung unterbrochen, ob durch Marcel Kron oder eine andere Person, das kann Jalma nur vermuten.

      Jalmas Vorfreude, die vor zwanzig Minuten noch ihren ganzen Körper in Vibration versetzt hat, ist verschwunden. Das Einzige, was sie nun bis in die Tiefe ihrer Knochen spüren kann, ist Angst. Angst davor, dass sich alles ändern würde, sie hat schon vor einigen Wochen davon gehört, dass es eine neue Abstimmung geben soll, aber genau wie all die anderen Menschen um sie herum, die morgens einen Kaffee beim Bäcker holen oder im Supermarkt die Lebensmittel auf die Kasse heben, hat auch sie abgewunken und laut über die Banalität einer Weltpartei gelacht. Wie man sich doch irren kann. In Trance landet die zweite Zigarette des Tages in ihrem Mundwinkel. Nachdem sie einige schnappartige Züge genommen hat, springt sie auf, eilt mit der Zigarette im Mund um ihren Schreibtisch, zieht an der schweren Glastür und stolpert in den Vorraum ihres Büros. Die Anwaltsgehilfin lugt verdattert über ihren Computerbildschirm und reißt schockiert die Augen auf. Jalma ignoriert die empörten Rufe und eilt durch die zweite Glastür. Ihr Partner, der mit dem Hörer am Ohr zum Fenster gerichtet steht, schnellt herum und sieht verwundert auf die schnell atmende Jalma. Für einen Moment glaubt sie zu hören, wie am anderen Ende der Leitung jemand Hindi spricht, verwirft den Gedanken jedoch wieder. Entsetzt über die Respektlosigkeit des unaufgeforderten Eindringens bedeutet er ihr mit hektischen Bewegungen seiner freien Hand den Raum umgehend wieder zu verlassen. Jalma, die ihm nur einen rebellischen Blick entgegnet, nimmt ihre Zigarette aus dem Mundwinkel, fixiert ihren Partner mit den Augen und drückt seinen Anruf auf dem Gerät weg. Noch bevor der Mann seiner Wut Luft machen kann, kommt Jalma dem mit aufgeblasenen Wangen hochrot werdenden Mann zuvor. „Sie haben den ersten Absatz veröffentlicht, es scheint, als hätte sich die Weltpartei wirklich gebildet und du und ich wissen beide, dass da mehr als nur ein Absatz auf uns zukommt.“ Der Mann entlässt die Luft aus seinen Wangen und starrt konsterniert in Jalmas braune Augen. Dann beugt er sich über den großen Schreibtisch, nimmt ihr die Zigarette aus der Hand, lässt sich rückwärts in den klobigen Schreibtischstuhl fallen, lockert die Krawatte seines Maßanzuges und inhaliert den Rauch. Lange hält er den Rauch in seinen Lungen und stößt ihn erst nach einiger Zeit über den Schreibtisch hinweg. Starr und ohne eine Regung sieht er dem in Schleiern durch den Raum wabernden Rauch hinterher. Jalma wagt es nicht sich von der Stelle zu bewegen, angespannt beobachtet sie ihren sonst so gefassten Kollegen. Herr Kaiser, der das wohl als Aufforderung versteht, erhebt sich aus dem knarzenden Stuhl, zieht seine Krawatte wieder an seinen Platz, fährt sich durch die gegelten Haare und räuspert sich noch, bevor er sein Wort erhebt. „Jalma, ich danke dir sehr für diese Information, aber ich weiß nicht, was ich deiner Meinung nach jetzt damit anfangen soll.“ Mit dieser Reaktion hat Jalma nicht gerechnet. „Herrgott Nikolas, das ist deine Antwort? Wach auf und komm auf den Boden der Tatsachen zurück, wir wissen beide, dass der erste Absatz nur der Anfang ist, denk doch mal an den zweiten Absatz oder noch schlimmer den dritten oder vierten, wenn das alles so in Kraft tritt, wie es geplant wurde, ist das das Ende unser modernen Welt, vielleicht sogar das Ende dieser Epoche.“ Einen Moment sieht es so aus, als würde Jalmas Partner einen Neustart in seinem Gehirn vornehmen. „Jalma, dass eines mal klar ist, dass wir den § 4253 bereits lesen durften, ist ein Privileg gewesen, dass wir im jetzigen Augenblick wohl eher als ein Geheimnis handhaben sollten. Nicht vorstellbar, wenn die Bevölkerung zu früh davon erfährt. Im Augenblick sollten wir erst einmal die Füße stillhalten und in Erfahrung bringen, ob das hier nicht alles ein riesiges Missverständnis ist. Ich werde versuchen den Bundespräsidenten zu erreichen oder den Kanzler, ich denke ich habe hier noch irgendwo die Nummern. Entweder du wartest hier oder du gehst dich irgendwo einmal abregen; wenn du dich für hier entscheidest, bitte ich dich aber den Mund zu halten.“ Mit diesen Worten nimmt der attraktive Mann den Hörer vom Schreibtisch, tippt einige Zahlen hinein und hält sich den Finger vor den Mund, um Jalma noch einmal Ruhe zu gebieten. Während er mit einer Sekretärin nach der anderen redet, spürt Jalma ihre Knie, die allmählich unter ihrem Gewicht zusammenbrechen wollen. Mit einem tiefen, aber leisen Seufzer lässt sie sich auf das harte Sofa vor dem Bücherregal fallen und schließt die müden Augen. Für einen Moment versucht sie sich vorzustellen immer noch bei ihrer ersten Zigarette im Büro zu sitzen, dass sie eingeschlafen sein muss und dass alles nur ein kurzer, aber sehr realistischer Albtraum ist.

      Leider ist es jedoch kein Albtraum, zumindest keiner von der Sorte, aus dem man irgendwann wieder erwacht. Eher einer, der auf einmal und vollkommen unerwartet zu einer Realität wird, der man sich auch nicht im Schlaf entziehen kann, denn als Nikolas den Hörer zurück auf den Schreibtisch senkt, macht er nicht den Eindruck, als wäre alles nur ein großes Missverständnis gewesen. Statt eines freudigen, erleichterten Gesichtsausdrucks legt sich ein dunkler Schatten auf das Gesicht des Mannes. Er schaut vom Schreibtisch auf und fixiert Jalma einen Moment, bevor auch er sich am Schreibtisch vorbei­schiebt und neben Jalma auf das Sofa fallen lässt. „Alles nur ein Missverständnis, mmh?“, bricht Jalma zuerst das Schweigen. Nikolas hebt seine Hand und legt sie sanft auf Jalmas Knie. „Nein, leider nicht“, erwidert er niedergeschlagen, ohne Jalma anzusehen. „Den Bundeskanzler konnte ich nicht erreichen und auch den Bundespräsidenten nicht, allerdings ging sein Stellvertreter ans Telefon.“ Ein Räuspern. „Er bestätigte mir die Bekanntmachung des ersten Absatzes und wird mir in der nächsten halben Stunde den genauen Wortlaut per E-Mail zuschicken.“ Langsam nimmt er seine Hand von Jalmas Knie. „Außerdem habe ich ihn unter einem Vorwand dazu bekommen mir zu berichten, was da im Landtag jetzt eigentlich vor sich geht. Die Antwort kam leider auch schon schneller, als ich mich hätte drauf einstellen können. Er sagte, er wüsste selbst nicht, warum er es noch länger verschweigen sollte, da er ja ohnehin seinen Job verloren hätte und er niemandem mehr Rechenschafft schuldig sei.“ Mit ernstem Ausdruck wendet er sich Jalma zu, die gespannt an seinen Lippen hängt. „Jalma, der Bundespräsident ist nicht erreichbar, da er sich seit vier Wochen im US-Bundesstaat Nevada aufhält. Nevada ist die politische Hauptzentrale der neuen Weltpartei GPA und wird es auch unanfechtbar bleiben.“ Jetzt muss auch Jalma ihrer Verzweiflung Luft machen und grätscht ihrem Partner ins Wort. „Moment mal Nikolas, bist du es nicht immer, der sagt für einen guten Anwalt gibt es das Wort unanfechtbar nicht?“ Ein tiefes Ausatmen. „Ja, das sage ich immer, aber Jalma, hier geht es nicht um irgendeinen Rechtsverstoß oder ein Verbrechen, hier geht es um einen weltweiten Zusammenschluss, der … wie sage ich das jetzt am besten? Einen weltweiten Zusammenschluss, der politischen Meinungen, ich meine, es gibt keine einzelnen Parteien mehr. Aus jedem Land ist unter den jeweiligen Politikern des Landes ein Kandidat gewählt worden, der sein Land vertritt. Das bedeutet, dass aus jedem Land ein Politiker und sein jeweiliger Stellvertreter dieser Weltpartei beitreten. Also egal, ob aus Japan, den USA, Deutschland, den Philippinen oder Burundi, in jedem Land werden alle Politiker entmachtet, außer den zwei gewählten Kandidaten.“ In Jalmas Kopf sprudeln die Rechtsverstöße gegen mindestens hundert Menschenrechte. Stotternd wendet sie sich Nikolas zu. „Abbb...er , wie, kkk…ann, denn so ettt…was.“ Sie stoppt, um sich zu fassen und versucht es erneut. „Aber, wie kann so etwas denn überhaupt funktionieren, ich meine wir leben doch in einer Demokratie, alleine das Bundeswahlgesetz wird hier in nahezu allen Abschnitten gebrochen, angefangen mit Abschnitt 1 § 1!“ Nikolas stoppt seine Partnerin. „Ja Jalma, das ist mir auch klar, ich habe auch Jura studiert. Viel drastischer finde ich Artikel 20 Absatz 2.“ Einen Moment muss Jalma nachdenken. „Ja, du hast recht, alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Wir müssen dagegen vorgehen.“ Nikolas springt auf, rauft sich durch seine Haare und dreht sich, nachdem er zweimal energisch in seinem Büro auf und ab gelaufen ist, abrupt zu Jalma um und schreit durch den Raum. „Ja, das ist richtig Jalma, aber