Rebeccas Schüler. Tira Beige

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Название Rebeccas Schüler
Автор произведения Tira Beige
Жанр Языкознание
Серия Rebeccas Schüler
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752924428



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von Sven­ja fast weiß er­schei­nen. Me­cha­nisch, mit her­ab­ge­senk­ten Köp­fen lau­fen sie stur hin­ter­ein­an­der im Kreis das Ei­land der Ni­sche ab. Noch recht­zei­tig den Klas­sen­raum er­reicht. Stim­men­ge­wirr er­tönt.

      Sie öff­net die Tür und steht mit bei­den Bei­nen im Was­ser. Die Ti­sche sind wüst durch­ein­an­der an­ge­ord­net. Nack­te und halb­nack­te Schü­ler drän­gen sich in dem Raum, plan­schen in dem auf dem Bo­den be­find­li­chen Was­ser. Ro­bert liegt auf dem Rü­cken, wäh­rend Na­ta­lie in Sie­ger­po­se über ihm steht und ihm den Fuß auf sei­ne Brust drückt.

      Da sind auch Mar­tin und El­len aus der ach­ten Klas­se, die eng bei­ein­an­der ste­hen und la­chen. Ein Jun­ge aus der elf­ten Klas­se hält auf­rei­zend eine Siebt­kläss­le­rin im Arm. So viel Was­ser un­ter ih­ren Fü­ßen. Der Schul­hof ist das Meer. An die Au­ßen­wand des Ge­bäu­des schla­gen hohe Wel­len an. Paul steht mit ei­ner Ba­de­ho­se be­klei­det am Fens­ter und will nach drau­ßen sprin­gen. »Auf La Re­uni­on gibt es Haie, Paul, das weißt du doch. Schwimm’ nicht zu weit raus!« Doch er hört nicht. Ruck­ar­tig springt er vom Fens­ter­brett des Klas­sen­raums in den Oze­an hin­ein.

      Piep Piep Piep Piep Piep Piep. 5:00 Uhr mor­gens. Re­bec­ca rich­te­te sich schlaf­trun­ken im Bett auf, um den gel­len­den Ap­pa­rat auf dem Nacht­tisch aus­zu­schal­ten.

      Ihr blieb nicht viel Zeit, die wir­ren Ein­drü­cke im Kopf zu sor­tie­ren. Gäh­nend schlepp­te sie sich ins Ba­de­zim­mer, wo die kur­ze Nacht­ru­he un­auf­hör­lich ih­ren Tri­but for­der­te. Un­ter der Du­sche ste­hend über­zog sich ihr Kör­per mit Gän­se­haut. Nur müh­sam konn­te sie die Au­gen of­fen­hal­ten, wäh­rend Aus­schnit­te aus dem Traum vor­bei­zo­gen.

      Als Re­bec­ca das Schlaf­zim­mer wie­der be­trat, schlum­mer­te Paul fried­lich vor sich hin, ver­barg je­doch sein Ge­sicht un­ter der Bett­de­cke, als er das ein­ge­schal­te­te Licht be­merk­te. Ein Ge­fühl der Ei­fer­sucht durch­flu­te­te Re­bec­ca. Neid auf den Part­ner, der erst in we­ni­gen Stun­den auf­ste­hen muss­te.

      Trotz Schlaf­de­fi­zit ließ sie kei­ne Hek­tik zu: Auf­ste­hen, Du­schen, An­zie­hen, even­tu­ell Haa­re wa­schen, föh­nen, es­sen, Toi­let­te, Zäh­ne put­zen, die mit­zu­neh­men­den Schul­ma­te­ri­a­li­en kon­trol­lie­ren, Ta­sche ein­räu­men, zum Auto ge­hen. Das war an­ge­sichts der Ge­wohn­heit in we­ni­ger als ei­ner Stun­de mög­lich. Au­ßer heu­te Mor­gen.

      Um nicht zu sehr die Au­gen zu­knei­fen zu müs­sen, dimm­te Re­bec­ca die De­cken­be­leuch­tung in der Kü­che. Schumm­rig voll­zog sie die rou­ti­nier­ten Schrit­te, um halb­wegs Nor­ma­li­tät nach den zwei Wo­chen Fe­ri­en her­zu­stel­len.

      6:05 Uhr. Die über zwan­zig Ki­lo­me­ter Fahrt zwi­schen Zu­hau­se und der Ar­beits­stel­le wur­den heu­te, am ers­ten Schul­tag nach den Win­ter­fe­ri­en, zu ei­ner ge­dan­ken­ver­lo­re­nen An­ge­le­gen­heit. Gel­be und wei­ße Lich­ter ka­men auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te ent­ge­gen. Sie blie­ben an­onym und fa­rb­los, die Fah­rer hat­ten kein Ge­sicht. Hel­le Lich­ter fuh­ren in Ket­ten vor­bei und wur­den im Rück­spie­gel zu ro­ten, klei­ner wer­den­den Punk­ten. Manch­mal über­hol­te ein gel­bes Licht und wur­de zu zwei ro­ten Punk­ten vor dem Auto. Bis­wei­len fuhr eine gan­ze Ket­te ro­ter Lich­ter vor ihr her.

      Es war noch im­mer fins­ter, als Re­bec­ca wie fast je­den Mor­gen als eine der Ers­ten auf dem Park­platz der Schu­le ein­traf. Das nächs­te rou­ti­nier­te Mor­gen­pro­gramm wur­de durch­ge­zo­gen: Ko­pie­ren, Lo­chen, E-Mails che­cken und Klas­sen­buch kon­trol­lie­ren. Ko­pi­en für die Siebt­kläss­ler wa­ren an­zu­fer­ti­gen.

      Wäh­rend sie gäh­nend vor dem Ko­pie­rer auf des­sen Ein­satz­be­reit­schaft war­te­te, be­trat Ha­rald das Leh­rer­zim­mer und be­grüß­te sie mit ei­nem lang ge­zo­ge­nen »Gu­ten Mor­gen. Bist ja wie­der zei­tig heu­te da.« Er­neu­tes Gäh­nen.

      »Mor­gen, Ha­rald. Na, hat­test du ein paar schö­ne Fe­ri­en?« Das üb­li­che Bla Bla, wenn man sich zwei Wo­chen nicht ge­se­hen hat­te.

      Ha­rald ge­hör­te zu Re­bec­cas en­ge­rem Freun­des­kreis im Kol­le­gi­um, un­ter­rich­te­te ge­nau wie sie Deutsch. Sei­ne schloh­wei­ßen Haa­re glänz­ten in der mor­gend­li­chen Be­leuch­tung des Leh­rer­zim­mers.

      »An­ge­la und ich wa­ren zu Hau­se. Ich habe ein paar Ar­bei­ten kon­trol­liert und mich er­holt. Nichts Auf­re­gen­des.«

      Im Ge­gen­satz zu ihm war Ge­las­sen­heit für Re­bec­ca zum Fremd­wort ge­wor­den. Was auf Ar­beit pas­sier­te, muss­te mit nach Hau­se ge­nom­men und aus­la­dend er­ör­tert wer­den, selbst wenn es nichts mehr zu än­dern gab. Wenn sie im glei­chen Tem­po wie bis­her wei­ter­a­r­bei­te­te, wür­de ein Herz­in­farkt un­aus­weich­lich sein. Dass sie noch über drei­ßig Jah­re ar­bei­ten ge­hen muss­te, er­zeug­te einen Wi­der­wil­len in ihr, der ihr Angst be­rei­te­te.

      »Hast du einen an­stren­gen­den Tag vor dir? Wirkst ge­nervt«, stell­te Ha­rald fest.

      »Hm«, brumm­te Re­bec­ca vor sich hin. »Freue mich auf das Mit­tag­es­sen.«

      Ihre Mund­win­kel zo­gen sich nach oben und ein ge­küns­tel­tes Grin­sen blieb zu­rück. Der Blick muss­te ge­quält aus­se­hen, denn Ha­rald sag­te: »Das wird schon« und klopf­te ihr er­mu­ti­gend auf die Schul­ter.

      Wenn es bloß mit ein paar mo­ti­vie­ren­den Wor­ten ge­tan wäre! Da­von wur­de ihre seit Jah­ren be­ste­hen­de Un­fä­hig­keit, Kin­der ver­nünf­tig zu ver­ste­hen, nicht be­ho­ben. Heu­te wa­ren es »bloß« die Siebt­kläss­ler, bei de­nen Re­bec­ca gleich Deutsch un­ter­rich­ten wür­de. Mehr noch grau­te ihr vor ih­rer ei­ge­nen un­be­re­chen­ba­ren ach­ten Klas­se.

      Wenn sie an den lang­wei­li­gen Grund­kurs in Deutsch dach­te, bes­ser­te sich ihre Lau­ne eben­falls nicht. Da­bei soll­te er das Herz­stück ih­res Un­ter­richt­s­all­tags wer­den: Als sie vor den Som­mer­fe­ri­en er­fah­ren hat­te, dass sie zum ers­ten Mal in ih­rer Be­rufs­lauf­bahn einen Kurs be­kom­men wür­de, kann­te die Freu­de dar­über kei­ne Gren­zen: End­lich ru­hi­ger Un­ter­richt, mo­ti­vier­te Schü­ler, an­re­gen­de Dis­kus­si­o­nen über li­te­ra­ri­sche Tex­te.

      Doch dann das: schlep­pen­der Un­ter­richt, feh­len­de Mit­a­r­beit. Man konn­te nicht be­haup­ten, dass die zwölf Schü­ler stör­ten, im Ge­gen­teil. Sie be­a­r­bei­te­ten, was man ih­nen auf­trug. Sie la­sen, wenn sie le­sen soll­ten, sie schrie­ben, wenn sie schrei­ben soll­ten. Aber sie re­de­ten nicht.

      So in Ge­dan­ken ver­sun­ken, hät­te Re­bec­ca bei­nah einen neu­en Zet­tel über­se­hen, der am Schwa­r­zen Brett des Leh­rer­zim­mers aus­hing. Der Ober­stu­fen­be­ra­ter hat­te ihn ver­mut­lich kurz vor den Fe­ri­en aus­ge­hängt und am obe­ren rech­ten Rand mit ei­nem ro­ten Stift eine Art Blitz dar­auf ge­malt. Un­ter dem in Groß­buch­sta­ben ge­schrie­be­nen Na­men ELOU­AN KLA­GE er­kann­te sie sei­nen Stun­den­plan.

      »Ist das ein neu­er Schü­ler?« Ha­rald rück­te sei­ne Bril­le auf der Nase zu­recht und be­trach­te­te ein­ge­hend das Ge­schrie­be­ne.

      »Nein, ich ken­ne …«, re­de­te er lang­sam vor sich hin. »Elou­an war schon ein­mal vor ei­ni­gen Jah­ren bei uns. Ich kann dir beim Es­sen mehr über ihn er­zäh­len,