Die Geisterbande Dekalogie. Dennis Weis

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Название Die Geisterbande Dekalogie
Автор произведения Dennis Weis
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750213913



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müsste im Lager sein“, antwortete Karl und blickte nach hinten.

      Da kam sie auch schon herausgelaufen, denn sie hatte Ludwigs Stimme gehört.

      „Hallo Onkel Ludwig“, begrüßte sie ihn freudestrahlend und umarmte ihn.

      Natürlich war Ludwig nicht ihr richtiger Onkel, aber es fühlte sich beinahe so an.

      „Ich hätte gerne ein Laib Brot“, sagte Ludwig dann, „und für die junge Dame ein paar geröstete Maronen.“

      „Aber Ludwig“, wollte Karl ihn beratschlagen, aber Ludwig winkte ab.

      „Ich möchte es so“, sagte er nur und nahm sein Laib Brot entgegen.

      Ludwig kam etwa alle drei Tage, wenn es der Geldbeutel zuließ. Und der Ablauf war fast immer gleich. Ab und zu kaufte er Gebäck, aber nur zu Weihnachten oder anderen Festtagen.

      Eines Tages im Winter, kurz vor Weihnachten kam er den dritten Tag nicht. Dann verging auch der vierte Tag. Noch war es nicht ungewöhnlich, dass der alte Mann nicht kam, denn im Winter musste das Geld auch noch für eine Unterkunft herhalten und da kam er auch mal alle fünf Tage.

      „Vater“, sprach Hanna am achten Tage“, war Ludwig schon hier?“

      „Nein, mein Schatz“, antwortete er, „bisher nicht.“

      Hanna zog eine traurige Miene, denn es ging ihr bei den Besuchen von Onkel Ludwig nicht um die Süßigkeiten, die er ihr bei all der Geldknappheit gab, sondern sie mochte ihn, da er bei all seiner Trauer, ein fröhlicher Mensch geblieben war.

      So fragte Hanna auch am neunten, am zehnten und am elften Tag nach und jedes Mal war die Antwort des Vaters: „Nein.“

      „Kann ich schauen, ob er an seinem Platz ist?“ fragte Hanna schließlich, denn sie wollte sich nicht mit einem wartenden „Nein“ zufriedengeben.

      „Aber Hanna“, sagte der Vater, „vielleicht ist er auch in einem Wirtshaus, so wie vor zwei Jahren.“

      „Und was ist, wenn er gerade friert?“ wollte Hanna von ihrem Vater wissen und traf damit genau sein Herz.

      „Nun, gut, mein Kind, gehe zu seiner Stelle, aber mache schnell und kehre rasch um, denn deine Mutter will nicht, dass du allein dort herumziehst.“

      „Ich passe schon auf mich auf“, sagte sie, denn Hanna war schon ein großes Mädchen.

      „Gut, aber beeile dich, ja?“ stimmte ihr Vater zu, „und sag‘ Mama nichts?“

      „Nein, mache ich nicht, versprochen“, versicherte Hanna und ging aus der Tür hinaus.

      Die Klingel läutete und dann war sie weg. Hanna schaute sich um, damit sie die Richtung erkennen konnte. Sie war nicht oft dort, am anderen Ende, gleich hinter der Vicelinkirche. Es begann zu regnen, aber das störte Hanna nicht. Sie war ja nicht aus Zucker, und wäre sie es, dann wäre wahnsinnig teuer.

      Auf dem Kleinflecken befand sich der große Markt und er war, wie jeden Tag, voll mit Menschen, die sich allerlei Dinge kauften. In erster Linie natürlich Eier, Kartoffeln und Gemüse, aber ach Fisch und Fleisch. Überall roch es nach Fisch. Hanna mochte diesen Geruch nicht. Fisch hatte immer etwas Verdorbenes, fand sie.

      Nun schlängelte Hanna sich durch die Menschenmenge, um am Ende vor der großen Kirche zu stehen. Die Uhr schlug in diesem Moment zwölf. Dafür blieb sie stehen, denn den Klang der Glocken waren wie Töne von Engeln. Hanna war ein verträumtes Mädchen. Sie genoss diesen kurzen Augenblick, bevor sie and der Kirche entlangschritt, um auf die andere Seite zu kommen.

      Dort waren viele Streuner, Schmarotzer und Bettler, denn die Kirche gab ihnen zeitweilig Unterschlupf oder etwas zu Essen und Wasser. Es waren nicht wenige, die dies in Anspruch nahmen. Meist waren es Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren hatten und nun keine Einkünfte mehr hatten. Sie waren arm, bitterarm.

      Hanna sah, wie die Menschen in Tüchern oder Laken eingedeckt auf dem Boden lagen und sich bei dem Anblick des kleinen Mädchens beschämt wegdrehten. Hanna blickte zu jedem, um herauszufinden, ob Ludwig dort lag. Am Ende stand sie vor seinem Platz. Dort lag ein Mann. Hanna konnte nicht entdecken, ob es sich um Onkel Ludwig handelte.

      „Ludwig?“ fragte sie leicht verunsichert.

      Die Person bewegte sich nicht. Der Nachbar aber regte sich und drehte sich zu Hanna um.

      „Oh, was willst du denn hier?“ fragte er etwas unwirsch.

      „Nach Ludwig schauen“, antwortete sie.

      „Ludwig?“ fragte der Mann nach.

      „Ja“, sagte sie, „wenn er es ist.“

      Sie zeigte auf den Mann, von dem sie vermutete und hoffte, dass es Ludwig war, aber es eben nicht wusste.

      „Der schläft“, sprach der Unbekannte, „schon eine Weile.“

      „Er ruht sich aus?“ wollte Hanna wissen, denn sie empfand, dass der Mann sich merkwürdig ausdrückte.

      „Kann man so sagen“, antwortete er und wandte sich wieder von ihr ab, um weiterzuschlafen.

      Jetzt bekam sie Panik, denn es klag als wäre er… sie konnte es nicht einmal denken. Plötzlich nahm sie all ihren Mut zusammen und berührte den Mann, um ihn anzustupsen.

      „Ludwig“, sagte sie etwas lauter.

      Er rührte sich noch immer nicht. Hanna blieb keine andere Wahl, als die Laken wegzuziehen. Dann würde der Mann entweder sehr wütend werden und sie müsste dann rennen, wie sie noch nie gerannt ist oder es war Ludwig und er würde sich, wie er es stets getan hat, über sie freuen.

      Sie ergriff langsam, fast wie in Zeitlupe die Decke und packte mit voller Kraft zu.

      „Bei drei“, flüsterte Hanna und führte dabei ein Selbstgespräch. „Eins…, zwei…, drei:“

      Sie zog das Laken weg und ließ es los. Es fiel zu Boden. Sie erkannte zwei Dinge. Es war Ludwig! Aber er lag dort in seiner eigenen Blutlache. Hanna war wie angewurzelt. In ihr brach eine ganze Welt zusammen, aber sie konnte jetzt einfach nicht weinen. Sie stand einfach nur da, als wäre die Zeit angehalten.

      „Ich hab doch gesagt, er ist tot“, sprach der Nachbar, ohne sich umzudrehen, „ich muss bald umziehen, denn er fängt an zu stinken und dann kommen die Ratten.“

      „Wie herzlos können Sie sein?“ fragte Hanna den Mann, ohne über irgendwelche Konsequenzen nachzudenken.

      „Herzlos?“ entgegnete der Mann und wandte sich nun doch wieder dem Mädchen zu, denn er fand, sie sei frech.

      „Ja, Ludwig war ein Freund und sie lassen ihn hier liegen“, warf sie dem Mann vor, „sie hätten ihn retten können.“

      „Ha, das ist lächerlich“, sagte der Mann, „wenn du sein Freund warst, warum hast du ihn denn sterben lassen.“

      Das traf Hanna mitten ins Herz. Der Bettler hatte recht, aber das interessierte sie nicht, denn er behandelte ihren toten Onkel Ludwig als wäre er nicht dieser liebenswerte Mensch, der er war.

      „Vielleicht waren Sie es!“ brüllte sie auf einmal.

      „War ich was?“ fragte er und verstand es im nächsten Augenblick, „nein, Mädchen, da irrst du.“

      Aber Hanna ließ nicht ab. Sie zeigte mit dem Finger auf den Herrn und schrie:

      „Mörder!“

      Der Bettler geriet in Panik, denn er hatte tatsächlich nicht den Ludwig ermordet, aber das interessierte wahrscheinlich die Wachmänner nicht, wenn ein kleines Mädchen auf einen von der Gesellschaft ausgesetzten Bettler zeigte. Dann wollten die Leute Blut sehen!

      „Halt dein Maul!“ brüllte er und stand auf.

      „Mörder!“ wiederholte sie.

      Die anderen Obdachlosen standen auf und entfernten sich langsam, denn sie wollten nicht auch noch die Aufmerksamkeit