Название | Der Jüngling |
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Автор произведения | Fjodor Dostojewski |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783750208926 |
»Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind«, sagte Krafft. »Ich habe einen Brief, der Sie angeht. Wir wollen hier noch ein Weilchen sitzen, und dann lassen Sie uns zu mir gehen.«
Dergatschew war von mittlerer Größe, breitschultrig, kräftig, brünett und trug einen großen Bart; in seinem Blick lag eine schnelle Auffassungsgabe und in seinem ganzen Wesen eine große Zurückhaltung, eine gewisse stete Behutsamkeit; obgleich er meist schwieg, war er doch offenbar derjenige, der das Gespräch leitete. Wassins Physiognomie machte mir keinen starken Eindruck, obgleich ich über ihn gehört hatte, daß er ein außerordentlich kluger Mensch sei: er war blond, hatte große, hellgraue Augen, ein sehr offenes Gesicht, in dem aber gleichzeitig eine außerordentliche Festigkeit ausgeprägt war; man konnte sich vorher sagen, daß er wohl sehr wenig mitteilsam war, aber sein Blick war klug, klüger als der Dergatschews, tiefer und klüger als der aller im Zimmer Anwesenden; indes übertreibe ich vielleicht jetzt alles. Von den übrigen erinnere ich mich nur noch an zwei Persönlichkeiten aus dieser ganzen jugendlichen Gesellschaft: der eine war ein hochgewachsener Mann mit bräunlichem Teint und schwarzem Backenbart; er redete viel, mochte etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein und war wohl Lehrer oder so etwas Ähnliches, und dann war da noch ein junger Bursche in meinem Alter, in einem altrussischen Überrock, mit faltigem Gesicht; er verhielt sich schweigsam und hörte nur zu. Später erfuhr ich, daß er ein Bauer war.
»Nein, das darf man nicht behaupten«, begann, offenbar in Fortsetzung der vorherigen Debatte, der Lehrer mit dem schwarzen Backenbart, der hitzigste von allen. »Von mathematisch zwingenden Beweisen will ich gar nicht reden, aber diese Idee, die ich auch ohne mathematisch zwingende Beweise zu glauben bereit bin ...«
»Warte einen Augenblick, Tichomirow!« unterbrach ihn Dergatschew laut. »Die soeben eingetretenen Herren können das nicht verstehen. Sehen Sie, dies hier«, wandte er sich plötzlich an mich allein (und ich muß gestehen, wenn er beabsichtigte, mir als einem Neuling auf den Zahn zu fühlen oder mich zum Sprechen zu bringen, so war das ein sehr geschicktes Verfahren; ich merkte das sofort und bereitete mich vor), »sehen Sie, dies hier ist Herr Krafft, der uns allen durch die Festigkeit seines Charakters und seiner Ansichten schon hinreichend bekannt ist. Er ist infolge einer sehr gewöhnlichen Tatsache zu einer sehr ungewöhnlichen Schlußfolgerung gelangt, durch die er uns alle in Erstaunen versetzt hat. Sein Resultat ist, daß das russische Volk ein Volk zweiten Ranges sei ...«
»Dritten Ranges«, rief jemand.
»... zweiten Ranges sei, das dazu prädestiniert sei, als Material für einen edleren Volksstamm zu dienen, nicht aber eine eigene selbständige Rolle in den Geschicken der Menschheit zu spielen. Auf Grund dieses seines vielleicht richtigen Schlusses ist Herr Krafft zu der weiteren Folgerung gelangt, daß durch diese Idee jede fernere Tätigkeit eines jeden Russen gelähmt werden müsse, daß alle sozusagen die Arme müßten sinken lassen und ...«
»Erlaube mal, Dergatschew, das kann man nicht so behaupten«, fiel Tichomirow wieder ungeduldig ein, und Dergatschew überließ ihm sofort das Wort. »In Anbetracht dessen, daß Krafft ernste Studien gemacht, seine Schlüsse, denen er eine mathematische Sicherheit zuerkennt, auf physiologischen Tatsachen aufgebaut und vielleicht zwei Jahre auf seine Idee verwandt hat (die ich in aller Seelenruhe a priori annehmen würde), in Anbetracht dessen, das heißt in Anbetracht der ernsten seelischen Erregung Kraffts, stellt sich diese Sache geradezu als ein Phänomen dar. Aus alledem resultiert eine Frage, die Krafft nicht verstehen kann, und eben mit dieser müssen wir uns beschäftigen, das heißt mit Kraffts Verständnislosigkeit, denn das ist das Phänomen. Es muß entschieden werden, ob dieses Phänomen als Einzelfall in die Klinik gehört oder eine Eigenschaft ist, die sich bei anderen auf normalem Wege wiederholen kann; das ist interessant im Hinblick auf die gemeinsame Sache. Kraffts Ansicht über Rußland halte ich für richtig und möchte sogar sagen, daß ich mich darüber freue; wenn sich alle diese Ansicht zu eigen machten, so würde sie vielen die Hände losbinden und sie von patriotischen Vorurteilen befreien ...«
»Ich habe mich dabei nicht von Patriotismus leiten lassen«, sagte Krafft wie mit Überwindung. Alle diese Debatten schienen ihm unangenehm zu sein.
»Patriotismus oder nicht, das kann man beiseite lassen«, bemerkte der sehr schweigsame Wassin.
»Aber sagen Sie nur, inwiefern könnte denn Kraffts Schlußfolgerung den Eifer für die Sache der ganzen Menschheit abschwächen?« schrie der Lehrer (er war der einzige, welcher schrie; alle übrigen sprachen leise). »Mag auch Rußland zu einer Stellung zweiten Ranges verurteilt sein; man kann doch auch noch andere Arbeit leisten als nur für Rußland. Und außerdem, wie kann denn Krafft ein Patriot sein, wenn er nicht mehr an Rußland glaubt?«
»Dafür ist er eben ein Deutscher«, ließ sich wieder eine Stimme vernehmen.
»Ich bin Russe«, sagte Krafft.
»Das ist eine Frage, die nicht in direkter Beziehung zur Sache steht«, bemerkte Dergatschew auf den Zwischenruf.
»Treten Sie aus der Enge Ihrer Idee heraus«, fuhr Tichomirow, ohne auf etwas hinzuhören, fort. »Wenn Rußland nur Material für edlere Volksstämme ist, warum soll es dann nicht als solches Material dienen? Das ist doch eine ganz achtbare Rolle. Warum soll man sich im Hinblick auf die Erweiterung der Aufgaben nicht mit dieser Idee zufriedengeben? Die Menschheit steht am Vorabend ihrer Wiedergeburt, die bereits begonnen hat. Nur Blinde können die uns bevorstehende Aufgabe ableugnen. Laßt Rußland fahren, wenn ihr an seine Zukunft nicht mehr glaubt, und arbeitet für ein zukünftiges, für ein noch unbekanntes Volk, das aber aus der ganzen Menschheit ohne Unterschied der Volksstämme bestehen wird. Auch ohne das würde Rußland irgendwann sterben; die Völker, selbst die begabtesten, leben nur anderthalb, höchstens zwei Jahrtausende; ist es da nicht ganz gleich, ob es zweitausend oder zweihundert Jahre sind? Die Römer haben nicht einmal anderthalb Jahrtausende wahrhaft gelebt und sich dann ebenfalls in Material verwandelt. Sie existieren schon längst nicht mehr, aber sie haben eine Idee hinterlassen, die als Element des Künftigen in die Geschicke der Menschheit eingegangen ist. Wie kann jemand nur sagen, es sei zwecklos, etwas zu tun! Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der es jemals zwecklos wäre, etwas zu tun! Arbeitet für die Menschheit und macht euch um alles übrige keine Sorgen! Arbeit gibt es so viel, daß unser ganzes Leben dazu nicht ausreicht, wenn man sich nur aufmerksam umsieht.«
»Man muß nach dem Gesetz der Natur und der Wahrheit leben«, sagte hinter der Tür Frau Dergatschewa. Die Tür war ein wenig geöffnet; und man konnte sehen, daß sie, das Kind an der Brust haltend, mit zugedeckter Brust dastand und eifrig zuhörte.
Krafft hatte alles mit leisem Lächeln angehört und sagte nun endlich mit etwas gequältem Gesichtsausdruck, aber mit voller Aufrichtigkeit:
»Ich verstehe nicht, wie jemand, der unter der Einwirkung eines beherrschenden Gedankens steht, dem sich Verstand und Herz völlig unterordnen, wie ein solcher für irgend etwas außerhalb dieses Gedankens Liegendes leben kann.«
»Aber wenn man Ihnen logisch und mathematisch beweist, daß Ihr Schluß irrig ist, daß der ganze Gedanke irrig ist, daß Sie nicht das geringste Recht haben, sich von der gemeinsamen nützlichen Tätigkeit nur deswegen auszuschließen, weil Rußland zu einer Stellung zweiten Ranges prädestiniert ist; wenn man Ihnen zeigt, daß sich Ihnen statt des engen Horizonts die Unendlichkeit erschließt, daß statt der engen Idee des Patriotismus ...«
»Ach!« unterbrach ihn Krafft mit einer leise abwehrenden Handbewegung, »ich habe Ihnen ja gesagt, daß es sich dabei nicht um Patriotismus handelt.«
»Hier liegt offenbar ein Mißverständnis vor«, mischte sich plötzlich Wassin in das Gespräch. »Der Fehler besteht darin, daß Kraffts Schluß nicht lediglich ein logischer Schluß ist, sondern sozusagen ein Schluß, der sich in ein Gefühl verwandelt hat. Nicht alle Naturen sind von gleicher Art; bei vielen Menschen verwandelt sich ein logischer Schluß manchmal in ein sehr starkes Gefühl, welches das ganze Wesen ergreift und welches zu vertreiben oder umzugestalten sehr schwer ist. Will man einen solchen Menschen kurieren, so muß man in einem derartigen Fall das Gefühl selbst