Der Jüngling. Fjodor Dostojewski

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Название Der Jüngling
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750208926



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und fünfundneunzig Kopeken verdient! Mein Verfahren war sinnlos gewesen, ein kindisches Spiel, das mußte ich zugeben, aber meine Idee war doch dadurch bestätigt worden, und die Sache regte mich mit Notwendigkeit sehr auf ... Übrigens hat es keinen Zweck, Gefühle zu schildern. Der Zehnrubelschein steckte in meiner Westentasche; ich schob zwei Finger hinein, um ihn zu befühlen, und ging so weiter, ohne die Hand wieder herauszuziehen. Als ich etwa hundert Schritt auf der Straße gegangen war, nahm ich ihn heraus, um ihn zu besehen, und wollte ihn küssen. Vor dem Portal eines Hauses fuhr auf einmal eine Kutsche vor; der Portier öffnete die Haustür, und heraus trat, um in die Kutsche zu steigen, eine junge, hübsche, üppige, reich in Samt und Seide gekleidete Dame mit einer zwei Arschin langen Schleppe. Plötzlich entglitt ihrer Hand eine allerliebste kleine Brieftasche und fiel auf die Erde; sie stieg ein; der Diener bückte sich, um das hübsche Ding aufzuheben, aber ich sprang schnell hinzu, hob es auf und händigte es der Dame ein, wobei ich den Hut lüftete. (Ich trug einen Zylinder und war überhaupt wie ein anständiger junger Mann gekleidet.) Die Dame sagte in gemessenem Ton, aber mit sehr freundlichem Lächeln zu mir: »Merci, m'sieur.« Der Wagen rasselte davon. Ich küßte meinen Zehnrubelschein.

      Ich mußte noch am gleichen Tage Jefim Swerjew aufsuchen, der früher auf dem Gymnasium mein Schulkamerad gewesen war, aber das Gymnasium verlassen hatte, um in Petersburg in eine höhere Fachschule einzutreten. Er selbst verdient keine nähere Beschreibung, und in eigentlich freundschaftlichen Beziehungen hatte ich mit ihm nicht gestanden; aber in Petersburg hatte ich ihn aufgesucht, weil er (infolge verschiedener Umstände, die auseinanderzusetzen sich ebenfalls nicht lohnt) imstande war, mir sogleich die Adresse eines für mich außerordentlich wichtigen Herrn Krafft mitzuteilen, sobald dieser aus Wilna zurückgekehrt sein würde. Swerjew erwartete ihn gerade an jenem oder am folgenden Tag, was er mich vor zwei Tagen hatte wissen lassen. Ich mußte nach der Petersburger Seite gehen, verspürte aber keine Müdigkeit.

      Swerjew (er war ebenfalls neunzehn Jahre alt) traf ich auf dem Hof des Hauses seiner Tante, bei der er zur Zeit wohnte. Er hatte soeben zu Mittag gegessen und ging im Hof auf Stelzen; er teilte mir sofort mit, daß Krafft schon gestern angekommen und in seiner früheren Wohnung, eben dort auf der Petersburger Seite abgestiegen sei und selbst lebhaft wünsche, so bald wie möglich mit mir zusammenzukommen, um mir eine wichtige Mitteilung zu machen.

      »Er muß wieder anderswohin reisen«, fügte Jefim hinzu.

      Da eine Zusammenkunft mit Krafft unter den vorliegenden Umständen für mich von allergrößter Wichtigkeit war, bat ich Jefim, mich sogleich nach dessen Wohnung zu führen, die seiner Angabe nach nur ein paar Schritte entfernt in einer Seitengasse lag. Aber Swerjew erklärte, er habe Krafft schon vor einer Stunde gesprochen und dieser sei zu Dergatschew gegangen.

      »Gehen wir also zu Dergatschew; warum sträubst du dich immer dagegen; hast du Angst?«

      In der Tat, es war möglich, daß Krafft sich bei Dergatschew sehr lange aufhielt, und wo sollte ich dann auf ihn warten? Vor einem Besuch bei Dergatschew hatte ich keine Angst, aber ich mochte nicht hingehen, obgleich dies schon das dritte Mal war, daß Jefim mich hinschleppen wollte. Und dabei begleitete er seine Frage: »Hast du Angst?« immer mit einem unangenehmen spöttischen Lächeln. Meinerseits lag, wie ich im voraus bemerke, keine Feigheit vor, und wenn ich mich davor fürchtete, so hatte das einen ganz andern Grund. Diesmal jedoch entschloß ich mich hinzugehen; es war ebenfalls nur ein paar Schritte weit entfernt. Unterwegs fragte ich Jefim, ob er immer noch an der Absicht, nach Amerika zu gehen, festhalte.

      »Vielleicht warte ich damit noch«, antwortete er und lachte dabei ein wenig.

      Ich mochte ihn nicht besonders gern, oder vielmehr: ich konnte ihn absolut nicht leiden. Er hatte sehr helles Haar und ein volles, gar zu weißes Gesicht, von einer geradezu unanständigen, kinderhaften Weiße; von Statur war er sogar größer als ich, aber doch konnte man ihn nur für siebzehnjährig halten. Gegenstände, über die ich mit ihm hätte sprechen können, gab es keine.

      »Wie ist es denn dort? Trifft man da immer einen Haufen Menschen?« fragte ich, um mich vorher zu orientieren.

      »Warum hast du denn immer solche Angst?« spottete er wieder.

      »Scher dich zum Teufel mit deiner Angst!« erwiderte ich ärgerlich.

      »Von einem Haufen Menschen kann nicht die Rede sein. Es kommen nur Bekannte hin, lauter Gesinnungsgenossen; du kannst ganz beruhigt sein.«

      »Was kümmert das mich, ob es Gesinnungsgenossen sind oder nicht! Bin ich etwa da auch ein Gesinnungsgenosse? Was kann ihnen denn Vertrauen zu mir einflößen?«

      »Ich bringe dich mit, das genügt. Sie haben schon von dir gehört. Auch Krafft kann über dich Auskunft geben.«

      »Hör mal, wird Wassin da sein?«

      »Das weiß ich nicht.«

      »Wenn er da ist, dann stoß mich doch an, gleich wenn wir hereinkommen, und zeig ihn mir; hörst du?«

      Über Wassin hatte ich schon viel gehört und interessierte mich schon lange für ihn.

      Dergatschew wohnte in einem kleinen Nebengebäude auf dem Hof eines Holzhauses, das einer Kaufmannsfrau gehörte, hatte aber dafür auch das Nebengebäude vollständig für sich. Es waren im ganzen drei saubere Zimmer. An allen vier Fenstern waren die Rouleaus heruntergelassen. Er war Techniker und hatte in Petersburg eine Anstellung; ich hatte flüchtig gehört, daß ihm eine vorteilhafte private Stellung in der Provinz angeboten sei und er sich schon zum Umzug anschicke.

      Kaum hatten wir das winzige Vorzimmer betreten, als wir Stimmen vernahmen; es wurde, wie es schien, hitzig debattiert, und jemand rief: »Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat; quae ferrum non sanat, ignis sanat!«

      Ich befand mich tatsächlich in einiger Unruhe. Allerdings war ich nicht an Gesellschaft gewöhnt, von welcher Art auch immer sie sein mochte. Auf dem Gymnasium hatte ich mich zwar mit den Kameraden geduzt; in freundschaftlichen Beziehungen jedoch hatte ich eigentlich fast mit keinem von ihnen gestanden; ich hatte mir gleichsam meinen Winkel geschaffen und in diesem Winkel gelebt. Aber das war es nicht, was mich besorgt machte. Auf jeden Fall nahm ich mir vor, mich nicht auf Debatten einzulassen und nur das Allernotwendigste zu sprechen, so daß niemand daraus über mich irgendwelche Schlüsse ziehen könne; die Hauptsache war: nicht zu debattieren.

      In dem wirklich gar zu kleinen Zimmer befanden sich sieben Menschen, und mit den Damen zehn. Dergatschew war fünfundzwanzig Jahre alt und verheiratet. Seine Frau hatte eine Schwester und noch eine andere Verwandte; auch diese beiden wohnten bei Dergatschew. Das Zimmer war zwar etwas dürftig möbliert, aber doch ausreichend, und es war sogar sauber. An der Wand hing ein lithographiertes Porträt von sehr billiger Sorte und in der Ecke ein Heiligenbild ohne metallene Einfassung, aber mit einem brennenden Lämpchen davor. Dergatschew trat auf mich zu, drückte mir die Hand und bat mich, Platz zu nehmen.

      »Setzen Sie sich, wir sind hier lauter gute Bekannte.«

      »Seien Sie so freundlich!« fügte sofort eine recht hübsche, sehr bescheiden gekleidete junge Frau hinzu und ging dann mit einer leichten Verbeugung zu mir hin sogleich hinaus. Dies war seine Frau; wie es schien, hatte sie sich an der Debatte beteiligt und ging jetzt hinaus, um ihr Kind zu nähren. Es blieben aber noch zwei Damen im Zimmer – die eine etwa zwanzigjährig, von sehr kleinem Wuchs, ebenfalls nicht häßlich, in schwarzem Kleid; die andere ungefähr dreißig Jahre alt, mager und mit scharfblickenden Augen. Beide saßen da, hörten eifrig zu, redeten aber nicht selbst mit.

      Was die Männer anlangt, so standen sie sämtlich; es saßen außer mir nur Krafft und Wassin; diese beiden hatte mir Jefim sogleich gezeigt, da ich auch Krafft jetzt zum erstenmal im Leben sah. Ich stand auf und trat zu ihm heran, um mich mit ihm bekannt zu machen. Sein Gesicht werde ich nie vergessen: es wies keine besondere Schönheit auf, aber es lag darin außerordentlich viel Sanftmut und Zartgefühl, obgleich auch das Bewußtsein des eigenen Wertes darin stark zum Ausdruck kam. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, ziemlich hager, etwas mehr als mittelgroß, hatte helles Haar und ein ernsthaftes, aber weiches Gesicht; eine eigentümliche Stille lag in seinem ganzen Wesen. Hätte ich aber die Wahl gehabt, so hätte ich doch mein vielleicht sehr gewöhnliches Gesicht nicht mit seinem Gesicht,