Die Geschichte von Wilhelm Andere. Tarius Toxditis

Читать онлайн.
Название Die Geschichte von Wilhelm Andere
Автор произведения Tarius Toxditis
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742795731



Скачать книгу

alles andere wie ein Wunder, als ihn eines Tages und nach nur wenigen Jahren auf hoher See das Kapitänspatent verliehen wurde. Ja, und längst waren es die sieben Meere, die ihm zur Heimat geworden waren, und stets eilte ihm sein Ruf voraus, in den Häfen überall auf der Welt, in den Kneipen an den Docks, wo in den seltensten Fällen die Nächte einsam verbracht wurden, ganz im Gegenteil. Zu Shantys spielte er mit der Ziehharmonika auf, und etwas Besonderes war es für Wilhelm Anderer, als nach etlicher Zeit auch mal wieder vor Hamburg der Anker von einen seiner Schiffe geworfen wurde.

      Ja, ja, viele, viele Jahre waren ins Land gegangen, als tatsächlich mal wieder hanseatischer Boden betreten wurde, und sogleich suchte er die von Marie - eine seiner Lieblingsdirnen - betriebene Hafenkneipe auf. Und umso größer die Wiedersehensfreude, umso kleinlauter stahl Wilhelm Andere am nächsten Morgen sich von ihrer Bettkante hinfort, um sich an den Docks von einem Fischkutter bis nach Liverpool überbringen zu lassen.

      Nachdem man sich vor mittlerweile über einem Jahrzehnt aus den Augen verloren hatte, sahen er und Johnny sich zum ersten Mal wieder. In einem Pub versanken die beiden Seeleute in Nostalgischem. Bei Tabak und Rum.

      Johnny, der Steuermann Weißt du noch? Damals, im Hafen von Rotterdam?

      ßilberling Von Johnny erfuhr Wilhelm zum Beispiel auch, dass Toshack sein Kapitänsamt längst an den Nagel gehängt und sich zur Ruhe gesetzt hatte. In den darauffolgenden Tagen und Wochen war kein Lokal vor ihnen sicher, mit oder ohne Ziehharmonika, kein Pub, mit oder ohne Dirnen auf dem Schoß, bis Wilhelm irgendwann dann doch zurück nach Hamburg hatte müssen. An den Docks dort wurde sein nächstes Schiff, welches er nach Buenos Aires überführen sollte, bereits tüchtig beladen. Doch in der Lieblingskneipe eröffnet ihm Marie andere Umstände, in welchen sie sich befand.

      Marie Ach, Wilhelm. Bitte lass mich jetzt nicht im Stich!“

      ßilberling Etwas, was für Wilhelm Andere völlig außer Frage stand. Hoch und heilig versprach er es, er war sowieso nicht unbedingt einer gewesen, der sich von einer jeglichen Verantwortung gedrückt hätte. Und das womöglich auch noch hemmungslos, zudem konnte er locker auf über die Meeresjahre üppig Zurückgelegtes zurückgreifen, um Marie ausreichend Unterstützung zu gewähren – Marie und dem künftigen Kind. Die total unerwarteten Vatervorfreuden hatten in dem Seebären Glücksgefühle der ganzen Art und Weise ausgelöst, so wie er davon in seinem bisherigen Leben bestenfalls geträumt hatte. Zudem mochte er die Marie auch noch, am selben Tag, an welchem er es von ihr erfuhr, gab er bei der Reederei den Kapitänsauftrag nach Argentinien zurück. Schweren Herzens, denn zu sehr war er Seefahrer gewesen – hach. Auf der anderen Seite, mit Leib und Seele, seinem exzellenten Ruf hatte er es schließlich zu verdanken, beziehungsweise außerordentliche Beliebtheit, dass innerhalb der Reederei niemand so richtig böse mit ihm war. Beziehungsweise nachtragend, ganz im Gegenteil, jawohl, auf viel Verständnis stieß er für das persönliche ernst nehmen väterlicher Pflichten.

      Mitarbeiter der Reederei Ach, Herr Andere, wenn nur alle Väter so wären!

      ßilberling Ja, ja, jawohl, so war er wirklich, Bewunderung, die ihm entgegen schnappte, und so gewährten sie ihm einen kleinen, stupiden Schreibtischjob in einem der Büros an den Docks. Für die Archivierung von ausrangierten Frachtbriefen und anderen Kram, auf dem Standesamt fungierte Johnny als Trauzeuge. Freilich, freilich, wer sonst auch, und natürlich nutzte man die Gelegenheit für die Nächte zum Tage machen ausgiebig. Und Marie sollte sich mehr wie einmal beschwert haben, weil Wilhelm mehr Zeit mit Johnny verbrachte. Am Stammtisch ihrer Hafenkneipe. Anstatt mit ihr im schmucken Zweizimmerappartement. Die sich oberhalb des Lokales befand, und Wilhelm Andere großzügig und nach Maries Wünschen mit funkelnagelneuen Eichenmöbeln ausstatten ließ. Zum neuen Job kam es allerdings zunächst nicht, denn kaum, dass sich Wilhelm nach Johnnys Verabschiedung aus Hamburg zu Marie zurückbegeben hatte, wedelte sie ein frisch eingetrudeltes Schreiben unter die Nase. Vom Kreiswehrersatzamt wohlgemerkt, denn die Zeit war heran gebrochen, in welcher sein kaiserlicher Namensvetter am Aussenden von Soldaten gewesen war. Natürlich wurde Wilhelm Andere zur Marine herangezogen, selbstverständlich, selbstverständlich, bei einen der ersten Ausritte auf dem nun militärischen Seeweg wurde man von einem englischen Kriegsschiff beschossen. Die Restbestände der Mannschaft irrten tagelang in einem hoffnungslos überladenen Rettungsboot umher, bis sie von einem deutschen Kreuzer aufgefischt werden konnten. Der schwer am Bein verwundete Wilhelm Andere wäre um Haaresbreite verblutet, von irgendeinem Lazarett hinkte er etliche Monate später zurück in den Krieg, wo er von nun an in einer Schreibstube irgendwo an der Westfront dienen durfte.

      Im Spätherbst des Jahres 1918 dann hinkte Wilhelm Andere dann wieder zurück nach Hamburg. Dort begab er sich zunächst an die Docks, um nach all den Kriegsjahren endlich wieder Seeluft atmen zu können, frei nach dem Motto „Seebär bleibt doch Seebär, selbst wenn man an der Westfront irgendwo in Frankreich am Versauern war – mehr oder minder“. Während der Zeit der Waffengänge war es ihm nicht einmal vergönnt gewesen, beziehungsweise gelungen, nach Hause zu kehren. Nicht ein einziges Mal, umso verzückter war Wilhelm Anderer, als er zum ersten Male sein im Kinderbett friedlich schlummerndes Söhnchen Heinrich in Augenschein nehmen konnte. Hingegen schwer erkrankt war Marie, am ständigen Husten, am Röcheln, eine Woche vor Heiligabend fand die Beisetzung statt. Noch am Grabe wurde geschluchzt.

      Maries Mutter Das arme Kind – was wird jetzt nur aus ihm!“

      ßilberling Bedingt durch Maries Erkrankung war das Lokal unter ihr schon vor etlicher Zeit geschlossen worden, völlig unabhängig von solchen Dingen, beziehungsweise anderen zückte er noch am Abend nach der Beerdigung, und nachdem er Heinrich zu Bette gebracht hatte, die Feder. Und unmittelbar nach den Festtagen erhielt er Antwort, von seiner Schwester Isabella nämlich, und der invalide Wilhelm, der Dank einer üppigen Seemanns - Pension mehr wie ausgesorgt hatte, seine Ersparnisse nicht zu vergessen, zögerte nicht eine Minute, packte die Koffer, nahm das Söhnchen an die Hand, und zerrte es bis zum Bahnhof. Ein gutes Vierteljahrhundert war nun wohl inzwischen verstrichen, als er mit Reimi Reißaus nahm von daheim, ein gutes Vierteljahrhundert, und mit jeder der ihm ehemals so vertrauten Fassade wurde ihm dann schummriger zumute. Und die Knie butterweich und butterweicher, als sich endlich sein Elternhaus vor ihm auftat. Auf der Schwelle warteten bereits vier oder fünf der Schwestern samt Ehemännern und einer nicht unerheblichen Schar von Kindern unterschiedlichster Größe, und nicht nur Isabella, die Älteste von ihnen, war am offenen Schluchzen.

      Isabella Sieh da, der kleine Wilhelm – ach, da bist du ja endlich wieder!

      ßilberling So dass sie sich nach fünfundzwanzig Jahren wieder in den Armen lagen, die Schwäger, Neffen und Nichten nicht zu vergessen. Isabella, die gemeinsam mit ihrem Mann das Haus hielt, überließen Wilhelm wieder das alte Jungenzimmer, welches während der Kindheit mit den Brüdern geteilt wurde; und sogar für Heinrich hatte sie ein Bettchen gerichtet.

      Die anderen Schwestern wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft, von den Brüdern lebte nicht ein einziger mehr. Am zweiten Tag des neuen Jahres begab sich Wilhelm dann allein hinter einem kleinen Kirchhof in ihrer Gegend. Einen Küster am Zipfel erwischt, veranlasste der ehemalige Seebär Wilhelm Andere noch am selben Tage, die schlichten Holzkreuze auf dem Grab seiner Eltern gegen einen marmornen Gedenkstein auszutauschen.

      Bereits wenige Wochen nach der Rückkehr an dem Orte seiner Wiege war Wilhelm Andere allerdings des Müßiggangs überdrüssig geworden. Mehr wie das, am Gehstock hinkte er durch die engen Straßen und Gassen seiner Heimat, doch sehnte er sich längst zurück nach den Hafenkneipen. Beziehungsweise der guten, alten Seeluft. Abends wurde ihm indes bei einem guten Glas Rotwein von Isabellas Ehemann in durchaus endlosen Monologen die Vorzüge der Russischen Revolution vorgekaut. In allen noch so langweiligen Einzelheiten wohlgemerkt, und nahezu jedes Mal, wenn er ihr altes Jungenzimmer betrat, hielt er vor dem Kinderbettchen inne: der kleine Heinrich, und wie friedlich er schlummerte. Wilhelm fühlte Glück so nahe wie noch nie zuvor in seinem Leben

      Doch ob gelangweilt oder nicht, irgendwie verging die Zeit dann doch, und Ostern rückte bereits