Die Geschichte von Wilhelm Andere. Tarius Toxditis

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Название Die Geschichte von Wilhelm Andere
Автор произведения Tarius Toxditis
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742795731



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Dabei spielte es beileibe keine Rolle, ob es sich um ein etwaiges Nachlassen des Arbeitstempos handelte, beziehungsweise Arbeitspensums, oder um Erschöpfungserscheinungen im Allgemeinen, schlicht und ergreifend, welche hin und wieder durch ein gelegentliches Einnicken Ausdruck verliehen wurde. Nicht selten entglitt der Pickel den kaputten Kinderhänden, doch bei all den größeren und kleineren Verfehlungen war ihm das Pflichtgefühl von Friedel von Friedrich gewiss. Mehr wie das, der Schwung mit der Peitsche wurde stets mit Worten des Aufforderns begleitet. Wurde am Ende nicht schließlich vorausgegangen? Vorbildlich? Mit gutem Beispiel?

      Friedel von Friedrich Beweg endlich deinen faulen Arsch – oder brauchst du mal wieder eine Extraeinladung!

      ßilberling Wenn man gerade in solchen Fällen in Wilhelms hoffnungslos verdrecktem Gesicht überhaupt noch was erkennen konnte, war‘ s ein verlegenes, beinahe schon peinlich berührtes Lächeln. Die Hiebe wurden ertragen mit einem leisen, leichten Winseln, halbwegs zumindest, kurzem Schlucken, schmerzhaft war es für Ihn zu allem besonders, wenn er mit den von geplatzten Blasen übersäten Handflächen den Stil seines Pickels wieder zu umklammern hatte.

      Zu Wilhelms Vater, der in einen der Nebenschächte es immerhin zum Hauptschichtführer gebracht hatte, pflegte Friedel von Friedrich ein durchaus kollegiales, freundschaftliches Verhältnis, durchaus, durchaus, was Wilhelm, dem kleinen Jungen alles andere wie zu Gute kam. Ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil, beileibe, oft schüttete von Friedrich beim gemeinsamen Feierabendschoppen sein Herz aus, über den faulen Knirps, demzufolge Wilhelm auch noch vom väterlichen Ledergürtel gemaßregelt wurde.

      Doch irgendwann hatte der viel zu Schmächtige den viel zu vielen Strapazen Tribut zu zollen, so dass er bereits im zarten Alter von sechs von Stadtpfarrer Kühnert gesalbt wurde. Doch gegen alle Erwartungen erholte er sich, von ärztlichen Prognosen ganz zu schweigen, und für wenige Wochen hatte wohl zum ersten Mal in seinem Leben das von der Mutter liebevoll gesäuberte Gesicht so etwas wie Farbe erfahren. Erleichtert konnte er nach dieser Phase der Genesung und Erholung zurück in den Schacht geschickt werden. Und natürlich begrüßte auch Friedel von Friedrich die Wiederkehr freudig, selbst Wilhelms Pickel lag noch immer an der haargenau gleichen Stelle im Stollen, wo er etliche Zeit zuvor Blut und Staub ausgespuckt hatte.

      Doch die erste Schicht nach der Unterbrechung war alsbald mit neuerlichen Verzögerungen verbunden. In der Tat klopfte Wilhelm minutenlang auf einer einzigen Stelle des Massivs vor ihm, ohne das irgendwas nur bröckelte. Bis sich endlich dann doch kleine Sprünge bildeten, kleine Risse, so dass er am Ende auf das Ursächliche der Unnachgiebigkeit stieß. Kleinste Kohleteile fielen nun aus der Wand, bis etwas mehr und mehr hervorschimmerte: ein Blechkästchen war es.

      Wilhelm Andere Oh!

      ßilberling Noch bevor Wilhelm ein weiteres Mal mit der Wimper zucken konnte, oder mit was Anderem, spürte er von Friedrichs Peitsche auf dem eigentlich endlich einmal einigermaßen ausgeheilten, kleinen Rücken.

      Friedel von Friedrich Wilhelm, du faules Miststück, genügt es nicht, dass du dich wochenlang gedrückt hast!

      ßilberling Völlig ungeachtet vom Oberschichtführer oder einem jeglichen anderen gelang es Wilhelm, das Kästchen aus den Arbeitstiefen des Arbeitsschachts bis in die Keller des elterlichen Bergarbeiterhauses zu schmuggeln, wo es hinter einem lockeren Ziegel zwischen zwei Regalen versteckt werden konnte. Sehr gut sogar, kaum emporgestiegen aus dem Keller wurde er vom Vater über einen geschmackvoll verarbeiteten Stuhl gelegt, um das kindliche Gesäß nach allen Lederregeln der Gürtelkunst zu verdreschen, nach Strich und Faden wohlgemerkt, galt es nicht immerhin, die Trödelei bei der Arbeit zu tadeln? Und das gleich am ersten Tag nach der nahezu absoluten Gesundung, und von welchem einer wie der von Friedrich aufopfernd zu berichten wusste? Vater Andere drosch während dem Akt des Ahndens so sehr ein, so dass der Stuhl samt kleinen Knaben an Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Wilhelm kroch hinterher auf allen Vieren, freilich mit einem leicht ins Verlegene neigende Grinsen, freilich, freilich, ein Winseln, ein klein wenig, und fing an zu piepen. Etwas was sich beileibe nicht zum aller ersten Mal abspielte, wenn er windelweich geprügelt worden war. Nicht mehr wie ein Anflug kindlicher Anmut, dazu auch noch in väterlicher Gegenwart, dem dies allerdings genauso viel berührte wie ein irgendwo in China umgefallener Reisbeutel. Wahlweise Mongolei oder Thailand, doch Wilhelm gelang es, sich aufzurappeln. Dann breitete er die Ärmchen aus, und fing an – gleichsam wie ein Vogel – auf – und ab zu schwirren. Oder ein Flugzeug.

      Wilhelm Andere Piep! Piep! Piep!

      ßilberling So wie immer verließ der Vater genervt den Raum, so wie immer, nicht ohne das Zuknallen der Türe zu vergessen. Etwas total anderes hatte es freilich mit dem Kästchen auf sich, und in welchem Wilhelm von nun an seine persönlichen Habseligkeiten aufbewahrte: ein halbes DutzendGlasmurmeln, die schimmerten, sobald sie nur ein klein wenig gegen das Licht gehalten wurden; dreischäbige, abgenutzte Würfel sowie die Reststummel einiger Buntstifte. Wesentlicher Bestandteil seiner Sammlung drei zusammengefaltete Zeichnungen, und auf einer hatte er einen übergroßen blauen Vogel gestrichelt, den er einfach nur „Piep“ nannte. Sowie ein orangefarbener Fisch, der einfach nur „Blubb“ hieß.

      Die anderen beiden Bilder hatte er geschenkt bekommen, eine davon von Reimi, seinem Freund, doch handelt es sich hierbei um nicht mehr wie ein hoffnungslos krakeliges Kindergekrakel. Ein wildes in Grün gehaltenes Meer aus Strichen, rauf und runter, hin und her, nicht mehr. Auf einem uralten, hoffnungslos verschrammten Schemel gehockt beschaute Wilhelm das dritte der Bilder, stundenlang, das er von Paula, einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft gekriegt hatte. Die Paula mochte er sehr, und sie ihn, auf einem Tisch war ein übergroßer Apfel dargestellt. Eingerahmt von zwei Stühlen, auf einem saß sie selbst, auf dem anderen er. Und während Wilhelm das Bild betrachtete, betrachtete und betrachtete, immer wieder betrachtete, immer und immer wieder, träumte er mit offenen Augen, wie es werden hätte werden können. Wenn sie groß genug und dann heiraten hätten können. Was für ihn so sicher war, wie das Amen in der Kirche. Und alles, was er in der Grube verdiente, würde er dann immer nur ihr geben, so dass sie immer genügend zu essen hätte.

      Nichtsdestotrotz gedieh Wilhelm weiter kärglich heran, und mit fünfzehn spuckte er Staub und Blut wie nie zuvor. Und wieder Mal war es Stadtpfarrer Kühnert, der sich bis vor das Krankenbett begab, in welchem im Laufe der Jahre zwei seiner Brüder auf durchaus vergleichbare Art und Weise eingegangen waren. Zu nachtschlafender Zeit hatte sich Reimi dann bis zu Wilhelm herangeschlichen, ihn aus dem Haus geschleppt, an einem kleinen Fenster gegenüber war Paulas Silhouette zu erkennen.

      In kurzer Zeit hatten sich die Beiden bis nach Rotterdam durchgeschlagen, wo sie vom liebenswürdigen Frachtkapitän Henry Toshack an Bord genommen wurden. Übelkeit waren kein Ausdruck, eine nach der anderen, die ersten Stunden auf See verbrachte Wilhelm mehr an der Reling denn in der Kombüse, wo ihm im Gegensatz zur Grube wenigstens die einen oder anderen Sonnenstrahlen gewiss waren. Beim tagtäglichen Kartoffel schälen. Beziehungsweise Gemüse putzen – hach!

      Abends an Deck jedoch schaute er sehnsüchtig in die Weiten des Atlantiks, entfernte man sich doch mehr und mehr von der Heimat, Stunde für Stunde, ganz traurig blickte er zu den hell erleuchteten Sternen am Firmament auf, und spätestens dann konnten Tränen nicht mehr zurückgehalten werden, wenn Johnny, der Steuermann, die Ziehharmonika zur Hand genommen hatte.

      Johnny, der Steuermann My Bonnie!

      ßilberling Und Johnny war es unterm Strich auch, von dem Wilhelm das Binden von Seemannsknoten erlernte, ganz zu schweigen von den einen oder anderen Geheimnissen der Navigation, dass Teilen von Tabak und Rum nicht zu vergessen. Zudem wurden ihm und Reimi sogar etwas Schreiben und Lesen beigebracht; ach, was sag ich überhaupt, in den darauffolgenden Jahren entwickelte sich aus dem ewig kränkelnden, stets viel zu blassen Bergarbeiterjungen Wilhelm der Seebär von einem Mann, dessen Gestalt durchaus mit den eines eineinhalbfachen Gewehrschrankes hätte verglichen werden können. Das große und kleine Einmaleins der Seefahrerei angeeignet, jawohl, vom ABC ganz zu schweigen. Fleiß und Ausdauer