Du bist böse. Mara Dissen

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Название Du bist böse
Автор произведения Mara Dissen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750252332



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Stellen fehlt. Sie ist sich sicher, dass er nach erfolgten Berührungspunkten, seine Sichtweise zukünftig unweigerlich verändern wird.

      „Ben, verrenn dich da nicht in eine Haltung, die dir über kurz oder lang nicht gut bekommt. Du tust ihm auch ein bisschen Unrecht. Staatsanwälte tauchen fast immer auf. Das muss ich dir ja wohl nicht sagen. So neu bist du auch wieder nicht. Also stell dich nicht bewusst so blöd. Jörges ist allerdings extrem früh vor Ort. Er hat mich schon begrüßt, kam bereits unmittelbar nach der SPUSI hier an.“

      „Nichts anderes sag ich doch“, grinst Ben die Kommissarin entwaffnend an.

      „Stolpe und Jörges kennen sich, gut sogar. Sie duzen sich, habe ich vorhin mitbekommen.“

      „Na klar, vom Golfen oder aus dem Reitclub.“

      „Mensch Ben, nun lass doch mal deine Vorurteile beiseite“, fährt Hanna ihn leicht genervt an, um sich sofort beschämt an ihre eigene Einstellung bei der ersten Begegnung am Morgen zu erinnern. „Stolpe ist ein angesehener Architekt. Weißt du eigentlich welche Bauwerke hier in der Stadt alle von seinem Büro entworfen wurden? Unzählige, und ich möchte nicht wissen, was außerhalb dieser Stadt noch seine Handschrift trägt. Ich habe die Nacht mal gegoogelt. Stolpe ist im Vorstand eines Wohltätigkeitsverbandes und engagiert sich für die sportliche Jugendförderung in unserer Stadt. Da kennt man sich eben. Vielleicht golfen die beiden auch zusammen. Mein Gott sind das abgedroschene Klischees. Er war so früh hier, weil ihn der Tod des Kindes genauso betroffen macht wie uns. Jörges kennt die Familie, und da können wir mit unserem Empfinden gar nicht mithalten.“

      „Du hast in der Nacht gegoogelt? Konntest also nicht schlafen. Zieh dir das mit dem Kind hier bloß nicht so rein. Deine Tochter ist zwar genauso alt, aber sie lebt, hörst du? Das ist hier nur Arbeit, sonst nichts.“

      „Die sollen hier den ganzen Garten absuchen“, geht Hanna Butt auf Bens Bemerkungen nicht ein, dreht sich ruckartig weg. „Ach ja, sorg mal dafür, dass der Film aus der Überwachungskamera vorne am Eingang sichergestellt wird und überprüf mal, ob es noch weitere Kameras gibt. Hier nach hinten raus wäre doch ideal. Ich werde die Befragung von Stolpe fortsetzen. Bin vorhin nicht weit gekommen, hab gleich abgebrochen, als Jörges, ich meine Staatsanwalt Jörges kam“, verbessert sie sich grinsend.

      „Ich dachte, die wollen hier auch Versuche zur Fallhöhe, Geschwindigkeit und anderen physikalischen Daten durchführen.“

      „Ja, aber nicht heute Morgen. Jörges hat mir vorhin mitgeteilt, dass er einen Prof von der Uni mit hinzuziehen möchte. Das geht dann erst heute Nachmittag.“

      „Bernd hat doch schon die Schaukel abgebaut. Bringen sie eine vergleichbare an?“

      „Keine Ahnung. Vielleicht muss das ja auch gar nicht hier vor Ort geschehen. Wäre auf jeden Fall für den Vater besser. Ich stelle es mir schrecklich vor, hier die Simulation des Todes des eigenen Kindes zu verfolgen. Wenigstens bekommt die Mutter im Krankenhaus davon nichts mit. Ich fahre nachher zu ihr, und du kommst mit. Vorher schnapp dir aber die Filme aus der Kamera und schau sie dir im Büro schon mal an. Muss mich gleich noch mal bei Jörges schlaumachen.“

      Hanna Butt dreht sich noch einmal zu den Beamten der SPUSI um und hebt zum Abschied grüßend die Hand, während Kollege Bernd schnaufend mit der Kiste vor seinem Bauch auf sie zukommt.

      „Hanna, du siehst scheiße aus. Verschwinde hier aus dem Garten, starr nicht ständig diese gottverdammte Schaukel an. Geh da rein und sprich mit dem Vater. Lass uns das hier draußen machen. Du weißt, wie dich das runterzieht, wenn es um Kinder geht.“

      „Und was ist mit dir?“, ruft Hanna ihm hinterher, erntet jedoch nur ein kurzes Achselzucken.

      Als sie sich der Terrasse zuwendet, nimmt sie aus den Augenwinkeln an der Begrenzung zum Nachbargrundstück eine Bewegung wahr. Interessiert taxiert sie die dichte Hecke, bis sie zu der Auslassung für die eingebaute Gartentür kommt, die ihr vorher schon aufgefallen war. Das Tor ist gerade so hoch, dass der Kopf einer älteren Frau zu sehen ist. Mit beiden Händen scheint sie sich an der Tür in die Höhe gezogen zu haben, um neugierig das Geschehen auf dem Nachbargrundstück verfolgen zu können. Die vollen, stahlgrauen Haare umrahmen ihr Gesicht in einer Art Bubikopf-Frisur, was ihr eine jugendliche Note verleiht. Das Gesicht ist dezent geschminkt und lässt keine konkreten Angaben über das Alter der Frau zu. Als sie bemerkt, dass die Kommissarin sie entdeckt hat, löst sie blitzschnell die Hände von dem Tor und zieht ihren Kopf zurück. Die schnellen, klackenden Schritte und das Schlagen einer Haustür verraten ihren Rückzug, der einer Flucht gleichkommt.

      Hanna zieht erneut ihr Notizbuch aus der Tasche und notiert <Nachbarin>. Sie ahnt, dass diese Notiz für sie noch wichtig werden wird.

      Die Hände tief in den Taschen seiner Jogginghose vergraben, steht Frank Stolpe in der weit geöffneten Terrassentür. Die nicht zusammengehörenden Hausschuhe hat er durch ein Paar schwarze Halbschuhe ausgewechselt, das verdreckte Shirt durch ein sauberes Hemd getauscht. Staatsanwalt Jörges spricht leise und für Hanna unverständlich auf ihn ein, legt seine Hand auf Stolpes Schulter, zieht sie sofort zurück, als die Kommissarin sich der Terrasse nähert. Entschlossen befreit Stolpe seine Hände aus den Hosentaschen und macht mit baumelnden Armen einige Schritte in den Wohnbereich.

      „Frau Butt, Sie wollten vorhin mit Herrn Stolpe ein Gespräch führen. Ich habe Sie mit meiner Ankunft unterbrochen. Fahren Sie doch bitte fort. Ist es erforderlich, dass ich dabei bin? Wenn nicht, dann würde ich mich jetzt gerne verabschieden.“

      „Ich denke, Ihre Anwesenheit ist nicht unbedingt erforderlich. Vielleicht ist es Herrn Stolpe auch ganz recht, mit mir alleine ein erstes Gespräch zu führen. Sie scheinen sich privat sehr gut zu kennen und manchmal hemmt Nähe die Beteiligten.“

      Jörges hebt die Augenbrauen, scheint etwas erwidern zu wollen, schwankt zwischen Verärgerung und Verunsicherung.

      „Ja, dann bis später Frank. Ich melde mich bei dir“, wendet er sich ohne Verabschiedung von Hanna Butt zum Gehen.

      „Wo können wir uns in Ruhe unterhalten, Herr Stolpe. Lassen Sie uns in einen anderen, dem Garten abgewandten Raum gehen, bitte.“ Zu spät fällt ihr ein, den Staatsanwalt nicht nach Ort und Ablauf der Versuche gefragt zu haben.

      „Drehen Sie um! Los, schnell, nun machen Sie doch schon. Umdrehen habe ich gesagt. Warum dauert das so lange? Nein, warten Sie, fahren Sie weiter!“

      „Ja was nun? So langsam sollten Sie sich entscheiden“, fährt mich mein Taxifahrer ungehalten an. Gleich nachdem ich in seinen Wagen gestiegen war, begann er unaufhörlich auf mich einzureden, suchte förmlich zwanghaft ein Gespräch mit mir. Es dauerte eine Weile, bis ihm mein Schweigen bewusst wurde, und er sich schmollend ausschließlich auf den Verkehr konzentrierte. Jetzt, wo wir mein Ziel erreicht haben, und ich mich an ihn wende, reagiert er verärgert.

      Vor meiner Haustür stehen ein Polizeifahrzeug und mehrere Zivilfahrzeuge, die so auffällig unauffällig sind, dass sie von mir sofort als zur Polizei zugehörig erkannt werden. Warum bin ich nicht erstaunt, überrascht, dass die Polizei uns aufsucht, wundere mich nicht über das riesige Aufgebot? Ich habe es befürchtet, nicht unbedingt erwartet, aber befürchtet. Das ist wohl auch ein Grund, weshalb ich unbedingt das Krankenhaus verlassen wollte. Ich muss dabei sein, muss sehen, was hier passiert und gegebenenfalls eingreifen, weitere Dramen verhindern.

      Die Autos stehen Stoßstange an Stoßstange, was der ganzen Situation auf unserer sonst so ruhigen, beschaulichen Straße eine brachiale Wichtigkeit verleiht. Das scheinen einige der Anwohner auch so zu empfinden. Während sich die Nachbarin von schräg gegenüber, mit der ich noch nie mehr als belanglose Begrüßungsworte gewechselt habe, auf dem Bürgersteig vor meinem Haus aufhält und ungeniert versucht, durch das geöffnete Tor auf unser Grundstück zu spähen, halten sich andere dezenter, aber nicht weniger neugierig zurück. Es entgeht mir nicht, dass die Freisprechanlage zwei Häuser weiter viel zu ausgiebig und zweitaufwendig poliert wird.

      „Halten Sie bitte hier.“

      „Wenn ich hier halte,