Lücken im Regal. Elisa Scheer

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Название Lücken im Regal
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746748634



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und versuchte, ihre etwas überladene Eistüte so zu verspeisen, dass sie sich nicht bekleckerte. Lecker war das Eis wirklich – Grapefruit, Birne und Haselnuss. Nahezu gesund, wenn man mal von dem astronomischen Zuckeranteil absah. Aber der Mensch war ja schließlich auf Süßes konditioniert, nicht wahr?

      Und die Einzige war sie auch nicht – jeder zweite schleckte Eis und betrachtete die Schaufenster von Läden, die er mit der Eistüte ohnehin nicht betreten durfte. Sie selbst wandte sich der Rathausbuchhandlung zu und betrachtete ohne großes Interesse, was die Schaufenster zu bieten hatten – Reisen nach Burgund? Nun gut, auf den Spuren der Geschichte direkt ganz interessant. Im nächsten Sommer vielleicht.

      Leichte Küche? Salate konnte sie auch so, Fleisch mochte sie nicht besonders.

      Luxushäuser? Tolle Aufnahmen, bestimmt – aber musste ein einzelner (oder auch eine einzelne Familie) wirklich mehrere hundert Quadratmeter Wohnfläche verbrauchen? Das war ja fast schon obszön!

      Abrupt wandte sie sich ab, bremste mitten im Schwung, um die Birneneiskugel nicht zu verlieren, und stand vor dem schüchternen Assistenten, Teubner. Hatte der eigentlich auch einen Vornamen?

      Er lächelte vorsichtig. „Frau Eversbach?“

      „Herr Teubner, Grüß Gott. Schrecklich, was heute geschehen ist, nicht wahr?“

      „Bitte? Ich habe heute noch keine Zeitung gelesen… was ist denn passiert?“

      „Aber Herr Teubner, der Mord in der Bibliothek?“

      „W-was? Es ist ein Mord - ? Das kann doch gar nicht – Ich war heute nicht in der Bibliothek, es tut mir Leid…“

      „Herr Teubner, Sie haben doch keine Anwesenheitspflicht! Und wären Sie dagewesen, hätten Sie ohnehin bald wieder gehen müssen, denn die Polizei hat die Bibliothek für das Publikum gesperrt.“

      „Aha. Ja, natürlich – oh, meinen Sie, morgen auch noch?“ Er sah sie regelrecht verzweifelt an. Elli war leicht erstaunt: War es denn so tragisch, wenn er einmal ein paar Tage nicht in die Bibliothek konnte?

      Das sagte sie ihm auch: „Sie könnten doch auch in die Unibibliothek gehen. Oder ihre Ausbeute zu Hause in Ruhe auswerten!“

      „Ach, ja – aber das verstehen Sie nicht…“

      „Nein?“, fragte Elli nicht ohne Schärfe, „Glauben Sie, ich arbeite nicht wissenschaftlich? Man kann doch nicht immer recherchieren, ohne das Gefundene zu verarbeiten – irgendwann beginnt man Dingen nachzuforschen, die mit der eigentlichen Arbeit nur noch am Rande oder gar nichts mehr zu tun haben.“

      „Vielleicht haben Sie da nicht ganz Unrecht…“, überlegte Teubner und Elli wollte sich schon wieder über dieses mehr als maue Lob ärgern, aber da lächelte Teubner sie so zutraulich an und sah dabei so verblüffend niedlich aus, dass ihr Ärger sofort verrauchte.

      „Ich werde es versuchen“, versprach er dann. „Es bleibt mir ja auch nichts anderes übrig, nicht wahr?“

      „Das sehe ich genauso. Worüber arbeiten Sie im Moment eigentlich genau?“

      „Naja, genau… es geht mir um das Verhältnis von Otto I zu seinen Söhnen.“

      „Ah ja – mir war gar nicht bewusst, dass es da neues Material geben könnte… Sie meinen Liudolf und Otto II?“

      „Und die Rolle Adelheids bei diesem Bruderzwist.“

      „Zwist? Ich bin keine Spezialistin, aber hat Liudolf sich aus Angst um sein Erbe nicht gegen den Vater erhoben, als der kleine Otto noch in den Windeln lag?“

      „Im Großen und Ganzen stimmt das wohl, aber es gibt da durchaus einige Aspekte, die eine Neuinterpretation der Situation möglich machen.“

      „Und darüber habilitieren Sie sich also?“

      „Ja. Ich hoffe natürlich, eines Tages eine Professur zu bekommen. Nicht hier, versteht sich. In München vielleicht – oder Tübingen… Heidelberg… Marburg…“

      „Berlin?“

      „Ach, ich weiß nicht – die Interpretationen an der FU sind ja doch öfter etwas ideologisch verfärbt, nicht wahr?“

      „Es gäbe ja auch noch die Humboldt-Universität...“

      Teubner seufzte und sah wieder drein wie das wandelnde Kindchenschema. Dann sah er auf seine Uhr, riss die Augen erschrocken auf und verabschiedete sich hastig.

      Elli sah ihm, ihre Eiswaffel langsam verspeisend, nachdenklich nach. Eigentlich machte er einen recht netten Eindruck, aber etwas hatte sie doch gestört… Weiterschlendernd grübelte sie darüber nach, was das sein konnte, bis es ihr endlich einfiel: Er hatte sich überhaupt nicht danach erkundigt, wer denn in der Bibliothek umgebracht worden war! War er so empfindsam (das würde zu seinem Babyface passen, überlegte sie) oder so desinteressiert?

      Und hätte es die Höflichkeit nicht erfordert, wenigstens kurz nachzufragen, woran sie selbst gerade arbeitete? Stattdessen diese merkwürdig vage Auskunft über sein Arbeitsgebiet… ihr war eigentlich nicht bewusst, dass es zur Familiengeschichte Ottos des Großen noch irgendwelche Desiderate gab. Hausarbeiten über Widukind von Corvey, Liutprand von Cremona und andere Quellen zur Geschichte der Ottonen – okay. Aber eine Habilschrift? Da musste man doch etwas grundlegend Neues zutage fördern!

      Merkwürdiger Mensch. Sehr auf sich selbst fokussiert, jedenfalls kam es ihr so vor, aber vielleicht kannte sie ihn zu wenig, um das schon beurteilen zu können. In der Bibliothek war er stets sehr konzentriert und schien nichts von seiner Umgebung wahrzunehmen. Gestern hatte er doch hinter seinen Büchern nicht einmal aufgesehen, als Wülfert solchen Krach gemacht hatte – oder? Sie konnte sich nicht erinnern. Teubner war genauso konzentriert wie die Jehlen – wahrscheinlich interessierte die sich auch nicht für den Mord an Becky Rottenbucher, nur dafür, dass die Bibliothek umgehend wieder geöffnet wurde!

      Gab es so etwas wie Geschichtsnerds?

      Sie schlenderte nachdenklich nach Hause und überlegte dabei, ob sie andere Historiker befragen sollte. Ob wohl alle so ungerührt reagierten? Die Jehlen bestimmt! Nein, die würde sie nicht fragen, erstens wusste die es schließlich schon, zweitens würde die Antwort nur ihr Menschenbild verdüstern und drittens hatte sie gar keine Kontaktdaten.

      Kurz bevor sie zu Hause ankam, fiel ihr aber ein, wen sie fragen konnte: Josie!

      Josephine von Collnhausen war eine Kollegin – nun ja: Kollegin: Sie war bereits habilitiert und hatte eine Privatdozentur an der UL, verfügte aber über einen guten Überblick über Studierende und Lehrende.

      Was lehrte Teubner in diesem Semester überhaupt? Zu Hause warf sie ihren Schlüssel in die Schale auf der Flurkommode und eilte zu ihrem Rechner.

      Mit langer Routine klickte sie sich durch die Daten der UL, bis sie die Veranstaltungen der mittelalterlichen Geschichte einsehen konnte – sie fand Josies Vorlesung über die ersten Habsburger, ihre eigenen Übungen und Seminare (Schwerpunkt: Luxemburger und Habsburg im 14. Jahrhundert) und schließlich auch Teubner, ganz unten. Das lag aber eher am Alphabet als an seiner noch zu geringen Bedeutung in der Fakultät.

      Teubner bot ein Proseminar an, Die Italienpolitik der Ottonen und Salier, und eine Übung zum Umgang mit Geschichtsschreibern aus der Ottonischen Zeit – tatsächlich, Widukind und Liutprand. Naja, für Leute im Grundstudium mochte das angehen – ziemlich mainstream, jedenfalls nichts, wo sich noch großartig Lorbeeren ernten ließen. Sie starrte vor sich hin: Warum hatte Teubner sich einen derart ausgelutschten Schwerpunkt ausgesucht?

      Also fischte sie ihr Handy aus der Tasche und rief Josie an.

      Die klang etwas gehetzt und wurde gelegentlich von Quieken und Prusten unterbrochen.

      „Ist das deine Süße, die da mitreden will?“

      „Ja, das ist Fritzi – also, Friederike. Fritzi, du spielst jetzt mal