Название | Status Quo |
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Автор произведения | Thorsten Reichert |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847618287 |
„Johannsen?“
„Hans-Gerhard hier. Sag mal, Martin, der Chef sagte mir, dass ich Deine Sachen für die nächsten zwei Wochen übernehmen soll, hat das mit der BKA-Sache zu tun?“
„Ehrlich gesagt, es gibt da im Moment nicht viel zu übernehmen. Meine Leute arbeiten an kleineren Sachen, und das ziemlich selbstständig. Wichtig ist vor allem die Donnerstags- und Montagsrunde, da können wir uns vielleicht vorher zusammen setzen.“
Er wollte nicht allzu viel über die NSA-Daten sprechen, schon gar nicht am Telefon, nachdem Furtwängler ihm so ins Gewissen geredet hatte.
„Sag mal, was findet man denn so in den Abhördaten? Wusste der Kohl jetzt von den Schwarzgeldkonten oder nicht?“
Der ironische Unterton war nicht zu überhören. Hans-Gerhard Leitner war ein durch und durch bodenständiger Mensch. Zwar war er genauso golfverrückt wie sein Chef Furtwängler, aber er machte sich nicht viel aus Geheimdiensten und Verschwörungstheorien. Nur was auf den Tisch kam, war auch relevant. Wenn sich herausstellen sollte, dass die Bundeskanzlerin in Wirklichkeit ein Transvestit sein sollte, dann würde er sagen: „Solange sie sich nicht im Bundestag auszieht, ist mir das sowas von egal.“ Diese Nüchternheit machte ihn zu einem hervorragenden Ermittler, kein Wunder, dass er in den letzten Jahren einige außerordentliche Fahndungserfolge errungen hatte und auf den Fluren des LKA als einer heißesten Kandidaten für die Furtwängler-Nachfolge galt. Für Martin Johannsen spielte das keine Rolle. Er kannte seinen Kollegen schon seit bald 20 Jahren und hatte mit ihm ein mehr als kollegiales Verhältnis. Ihre Jungs gingen in die gleiche Klasse, ihre Ehefrauen hatten sich seinerzeit im Schwangerschaftskurs kennen gelernt. Seitdem waren beide Familien freundschaftlich verbunden und hatten sogar schon ein paar Urlaube zusammen verbracht. Immer wenn Johannsen ihn brauchte, war Leitner da, um ihm den Rücken freizuhalten oder mit ihm einen besonders kniffligen Fall zu bearbeiten. Er kannte Johannsens Team sehr gut, daher war er für die Vertretung der nächsten zwei bis drei Wochen die naheliegende Wahl gewesen. Im Augenblick wollte sich Martin Johannsen ganz auf seine Aufgabe konzentrieren und selbst einen engen Vertrauten wie Leitner nicht zu tief in die Sache hinein ziehen.
„Wir besprechen das am besten morgen oder Mittwoch mal in Ruhe, aber es sieht nicht so aus als würden diese Daten unser Weltbild im Innersten erschüttern.“
„Viel Lärm um nichts, wie üblich.“
Damit hatte er wohl den Nagel auf den Kopf getroffen.
Nach Ende des Telefonats fiel Johannsens Blick auf die Uhr, und er stellte erschrocken fest, dass es bereits kurz nach vier war. Seine Frau würde wohl bereits auf dem Weg zum Arzt sein, daher tippte er eine Kurznachricht in sein Smartphone: „Wird wohl später, tut mir leid. VG“
Er war kein Experte in Sachen Neue Medien, daher war ihm die 160-Zeichen-Sprache des 21. Jahrhunderts fremd, aber er lernte insbesondere durch seine Tochter Julia mehr und mehr die Vorzüge von Dingen wie SMS, MMS oder Skype wert zu schätzen. Nachdem er auf „senden“ gedrückt hatte, legte er das Smartphone weg und sah auf seinem Laptop, dass eine neue Email eingetroffen war. Da beim LKA viel über das interne Netz lief, waren Emails relativ selten. Er bekam meist nicht mehr als eine handvoll neue Mails am Tag, meistens lagen sie morgens im Posteingang, weil besonders die jungen, kinderlosen Kollegen gern bis tief in die Nacht arbeiteten. Kontakt nach außen lief häufig über sein Team, daher waren die Absenderadressen in seinem Posteingang meistens aus Kreisen von LKA oder BKA. Die neue Nachricht war vom BKA Wiesbaden, von einer Stefanie Wohlfahrt, von der er noch nie etwas gehört hatte. Offenbar war sie die Kontaktperson in der NSA-Sache. Da Furtwängler ihm lediglich die Festplatte ohne weitere Angaben gegeben hatte, konnte er diese Tatsache nur dem Inhalt der Email entnehmen. Er las die Email zweimal durch und konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. Bis Ende der Woche möge er mitteilen, ob er auf „Kriminalistisch relevante Daten“ gestoßen sei.
„Wenn sie mich fragen, Frau, äh...“ er musste nach oben scrollen, um den Namen der Absenderin nochmals nachlesen zu können, „...Wohlfahrt, dann ist jeder heimliche Abhörvorgang eine kriminalistisch relevante Sache. Vielleicht können sie mir gelegentlich mal eine Einführung in „kriminalistische Relevanz“ geben, Frau Doktor Wohlfahrt.“
Seine gute Laune war verflogen. Das schlechte Gewissen seiner Frau gegenüber und die eher unterbewusste Enttäuschung über die Nutzlosigkeit der Daten hatten die Freude übertüncht, die er beim Durchstöbern der geheimen Dokumente gespürt hatte. Dass ihm jetzt noch eine ihm unbekannte, vermutlich blutjunge BKA-Schnüfflerin vorschreiben wollte, welche Art von Feedback sie am liebsten schon gestern in ihrem Briefkasten hätte, das wurmte ihn. Am liebsten hätte er ihr gleich eine Antwort zukommen lassen, in schönstem Beamtendeutsch, in welcher er ihr leider mitteilen müsste, dass „kriminalistisch relevante Arbeit“ sich nicht innerhalb von ein paar Tagen erledigen ließ. Aber er kannte sich selbst gut genug, um aus dem Moment heraus Nachrichten zu versenden, die man nach einer Stunde bereuen oder zumindest geschickter formulieren könnte. Wenn das BKA bis Ende der Woche um Rückmeldung bat, dann hatte er zumindest bis Mitte kommender Woche Zeit dafür. Eine Woche intensive Arbeit, das könnte tatsächlich reichen, um eine einigermaßen realistische Einschätzung abgeben zu können, was von den Daten zu erwarten sei und bis wann er seine Untersuchung der Dokumente abschließen könnte.
Spiegel-Redaktion, Hamburg, Montag 18.23 Uhr
Grit Junkermann hatte die meiste Zeit des Tages am Computer verbracht. Obwohl sie als Journalistin bei einem Magazin arbeitete, das immer auf der Höhe des politischen und wirtschaftlichen Geschehens war, entzog sie sich so gut es ging der Nachrichtenflut, las lieber Krimis als Tageszeitungen, schaute lieber Actionmovies als politische Talksendungen oder Abendnachrichten. Das hatte zur Folge, dass sie sich in neue Jobs immer grundlegend einarbeiten musste. Kurioserweise hatte sie gerade dieser vermeintlichen Untugend ihre größten Erfolge zu verdanken. Wo ihre Redaktionskollegen mitunter Fakten als „wahr“ annahmen, weil sie in allen TV-Nachrichten so berichtet worden waren, musste sie sich solche Fakten aus unterschiedlichsten Quellen zusammen suchen und lief somit weniger Gefahr, die Brille der allgemeinen Meinung aufzuhaben. Sie war wie eine Geschworene vor Gericht, die bestenfalls keinerlei Vorkenntnisse von einem Fall hatte, wenn sie im Gerichtssaal die Zeugenaussagen hört. Im Fall des NSA-Abhörskandals war sie natürlich nicht ganz unwissend. Niemand in Deutschland hatte sich in den vergangenen zwölf Monaten dem Thema entziehen können. Und doch wussten die meisten nur oberflächliche Details wie die Tatsache, dass sich die Bundesregierung erst dann ernsthaft mit dem Thema beschäftigte, als sie erfuhren hatten, dass sie selbst zu den Belauschten gehörten. Um das Wesen eines solchen Skandals zu verstehen, musste man viel tiefer ansetzen. Was genau war überhaupt die NSA? Vor zwei Jahren kannten wohl nur die wenigsten Deutschen diese amerikanische Sicherheitsbehörde. FBI und CIA kannte jeder, die kamen ja in jedem zweiten Hollywood-Film vor. Die CIA (Central Intelligence Agency) war das Pendant zum deutschen BND, der zentrale Nachrichtendienst für Auslandsangelegenheiten und Spionage. Neben dem CIA gab es aber jede Menge weiterer Nachrichten- oder Geheimdienste, zum Beispiel die Defense Intelligence Agency (DIA) und ihre Unterorganisationen (zuständig für alles, was mit dem amerikanischen Militär zu tun hatte), das National Reconnaissance Office (NRO), zuständig für die zahlreichen US-Spionagesatelliten, die National Geospatial-Intelligence Agency (NGA), welche sich um Auswertung von Karten- und Bildmaterial kümmerte, und eben die National Security Agency (NSA). Sie war die große Unbekannte, weil sie zwar Unmengen an Geld verschlang, aber niemand genau wusste, was sie damit alles anstellte. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie nicht wie die meisten anderen nationalen Einrichtungen einem einzigen Ministerium unterstellt war, sondern neben dem Verteidigungsministerium auch noch unter Aufsicht des Office of the Director of National Intelligence