Status Quo. Thorsten Reichert

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Название Status Quo
Автор произведения Thorsten Reichert
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847618287



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damit noch etwas Zeit und Ruhe für sich und seine Frau, aber leider war diese Zeit in den letzten Jahren von abnehmender Qualität gewesen. Kaum ein Montagmorgen, an dem sie sich nicht einen ähnlichen Austausch sarkastischer Sätze oder Blicke geliefert hatten wie heute. Es gehörte wohl dazu, zum typischen Familien-Alltag, doch Johannsen erwischte sich häufiger als zuvor bei dem Gedanken, auch montags gleich nach dem Frühstück zur Arbeit zu fahren. Das Einzige, was ihn letztlich noch davon abhielt, war die Tatsache, dass sich die 11-Uhr-Briefings als so effizient und erfolgreich erwiesen hatten, dass er kaum wüsste, wie er die Zeit vorher verbringen sollte. Natürlich, es gab immer genug Arbeit, auch für einen Abteilungsleiter; gerade für einen Abteilungsleiter. Aber die Woche startete eben erst so richtig mit dem Briefing am Montagmittag. So war es nun seit gut zwei Jahren, und so sollte es auch gern bleiben.

      Als Johannsen in sein Büro kam, war es kurz nach halb elf. Das Telefon klingelte. Ohne seine Tasche abzustellen griff er nach dem Hörer. Es war Furtwängler, das konnte er bereits vor dem Abnehmen an der Lampe erkennen, die bei ihren altmodischen Telefonen bestimmte interne Leitungen anzeigte. Sein Chef fragte, ob er vor seinem Briefing noch rasch zu ihm kommen könne. Er konnte. Es gab nicht viel, was er seinem Vorgesetzten ausschlagen würde. Herbert Furtwängler war nicht nur ein hervorragender Golfer, sondern ein durch und durch sympathischer und integrer Mensch. Wenn seine golferischen Fähigkeiten nicht bereits genügt hätten, ihn auf Johannsens Sympathieliste ziemlich weit nach oben zu katapultieren, dann hätte sein messerscharfer Verstand und seine Führungsqualitäten das ihre dazu getan. Dieser Mann war einfach bewundernswert, in jeglicher Hinsicht. Wenn er nicht seit zwanzig Jahren Johannsens Chef gewesen wäre, Johannsen hätte sich in den letzten Jahren vielleicht stärker darum bemüht, seine bevorstehende Nachfolge anzutreten. Furtwängler war 64, noch sieben Monate und er würde seinen wohl verdienten Ruhestand antreten und von da an wohl jeden Tag auf einem der schönen Golfplätze Schleswig-Holsteins anzutreffen sein. Sein Nachfolger würde es unsagbar schwer haben, die Fußstapfen eines so korrekten und zugleich nahbaren Vorgesetzten zu füllen. Letztlich war dies der Grund, warum Johannsen schon vor fast zwei Jahren abgewunken hatte, als Furtwängler ihn auf einer Golfrunde ermutigte, sich um seine Nachfolge zu bewerben. Er hätte sich wohl der Unterstützung seines Chefs gewiss sein können, und das hätte sicherlich in der Entscheidungsfindung schwer gewogen, aber neben der Sorge, den Erwartungen in der Nachfolge eines solchen LKA-Chefs nicht gerecht werden zu können, wollte er weder seiner Frau noch seinen Kindern so eine zeitliche und nervliche Belastung zumuten. Als Leiter des LKA stand man auf der Abschussliste zahlreicher Kriminellen ziemlich weit oben, weshalb Furtwängler nicht nur eine gepanzerte Limousine mit Fahrer sondern ein gut bewachtes und umzäuntes Zuhause hatte, in dem sich seine Kinder bei allem Luxus, den sie dort genossen, bisweilen recht eingekerkert vorkamen. Johannsen wusste das, weil er nicht selten dort zu Besuch war. Neben der Kollegialität verband ihn mit Furtwängler eine Freundschaft, die über den Golfplatz hinaus ging. Sie waren nicht allerbeste Freunde – Furtwängler wusste so gut wie nichts aus seinem Privatleben – aber sie kannten sich gut genug, um einander absolut zu vertrauen. Das war in einem Beruf, in dem man sich mit den gefährlichsten Kriminellen des Landes anlegte, nicht ganz unwesentlich.

      Als er Furtwänglers Büro betrat, war dieser gerade am Telefon.

      „Kann ich sie später zurückrufen, so in fünfzehn Minuten? Wunderbar, bis später.“

      Furtwängler konnte einem auf subtile aber doch unmissverständliche Weise klar machen, wie lange ein Gespräch dauern würde oder solle. Nicht dass er kein offenes Ohr für seine Mitarbeiter hatte, doch er mochte es, wenn sein Tag effizient strukturiert war. Ein Gespräch durfte gern länger dauern als geplant, es musste aber nicht. Heute hatte er offenbar nur ein oder zwei Kleinigkeiten mit Johannsen zu besprechen, sonst wären 15 Minuten kaum ausreichend gewesen.

      „Martin, guten Morgen. Wie lief's gestern?“

      Als Golfer waren sie per du, auch außerhalb des Platzes. Und als begeisterter Golfer war Furtwängler immer an den Resultaten seiner Mitgolfer interessiert. Gestern war in ihrem Heimatclub ein Turnier gewesen, bei dem Johannsen teilgenommen hatte. Sein Resultat ließ sich vermutlich von der spontanen Veränderung seines Gesichtsausdrucks ablesen, zumindest fuhr Furtwängler fort:

      „Naja, solche Tage muss es auch geben. Ich war übers Wochenende ja in Wiesbaden, wie du weißt.“

      Er konnte ein Thema innerhalb von zwei Sätzen abschließend behandeln und zum nächsten wechseln. Diese Arbeits- und Spracheffizienz war nicht jedermanns Sache, aber sie kam Johannsen zumindest insofern entgegen, dass er reges Interesse an dem Bericht hatte, den sein Chef zu seinem Besuch beim BKA in Wiesbaden zu geben hatte.

      „Die haben alle Daten komplett geklont und auf 16 Festplatten kopiert. Knapp tausend Gigabyte an Daten.“

      Johannsen wusste spontan nicht, ob das viel oder wenig war. Dafür, dass es sich Daten aus um fünfzig Jahren Abhörpraxis handelte, war es nicht wirklich viel, aber fast ein Terabyte an Daten durchzuarbeiten konnte dennoch eine Mammutaufgabe werden.

      „Netterweise haben unsere amerikanischen Kollegen die Daten recht stringent nach Bundesländern sortiert, zumindest in großen Teilen. Das heißt, dass wir die uns betreffenden Daten nicht erst aussortieren müssen.“

      „Theoretisch.“

      Furtwängler lachte. „Ja, theoretisch. Ebenso theoretisch ist es auch lediglich unsere Aufgabe, die Daten gewissermaßen quer zu lesen und nur Akten, die von hoher krimineller Energie zeugen oder die strafrechtlich relevant sein könnten, genauer zu untersuchen.“

      Johannsens hochgezogene Augenbrauen sagten soviel wie „Was genau hat man sich darunter bitte vorzustellen?“

      „Kurz gesagt: Je weniger Anstößiges wir in den Daten finden, desto besser für alle Beteiligten“, beantwortete sein Vorgesetzter die unausgesprochene Frage.

      „Das BKA gibt uns drei Wochen Zeit, dann wollen sie die Festplatte wieder zurück haben, um sie ins Hochsicherheitsarchiv zu stellen.“

      Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte seufzend aus dem Fenster.

      „Ein halbes Leben habe ich davon geträumt, einmal Mäuschen spielen zu können und den Geheimdiensten auf ihre Festplatten zu schauen. Ich wusste immer, dass wir so manchen Schwerkriminellen und etliche Banden drangekriegt hätten, wenn wir gewusst hätten, was BND und NSA wussten. Und auf der anderen Seite war ich immer froh, nicht in diese Zwangslage zu geraten. Man stelle sich vor, wir haben ein abgehörtes Telefonat oder eine Videoaufnahme, mit denen wir einen mehrfachen Vergewaltiger überführen könnten, aber wir dürfen es nicht, weil es illegal war, den Kriminellen abzuhören. Ich war immer froh, dass ich nur diejenigen vor Gericht brachte, denen ich ihre Taten auch auf legalem Wege nachweisen konnte. Und doch habe ich mich immer gefragt, was die alles sammeln, abhören, verwanzen und was weiß ich was noch alles. Der BND, die Stasi, der KGB und natürlich die NSA, die vor allen anderen.“

      Er schüttelte resigniert den Kopf.

      „Und jetzt, da ich diese Daten in Händen halte“, er nahm eine Festplatte aus seiner Schreibtischschublade und legte sie auf den Tisch, „jetzt würde ich sie am liebsten in ein Schließfach legen und den Schüssel wegwerfen.“

      Er sah Johannsen an, mit einem Blick, der ihn alt wirken ließ, alt und amtsmüde.

      „Ich will es nicht wissen, Martin. Ich will nicht wissen, was sie uns da geschickt haben. Welche Verbrechen sie begangen haben, um an die Daten zu kommen, welche Gesetze sie gebrochen haben. Ich will nicht wissen, wen sie abgehört haben, wann, wie oft und wo sie es getan haben. Ich will nicht wissen, was die Bundeskanzlerin dem Außenminister in einer vertraulichen Email geschrieben hat oder welcher Staatssekretär heimlich auf Pornoseiten surft. Ich will nicht wissen, wie groß meine eigene Akte auf dieser Festplatte ist oder was sie über mich und meine Familie wissen. Ich will es nicht wissen, Martin.“

      Er atmete tief durch und legte seine rechte Hand auf die Festplatte, wie es die Angeklagten in amerikanischen Filmen tun, wenn sie schwören die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit, so wahr ihnen Gott helfe.

      „Wenn du mich fragst, ich halte diese Einsicht in Abhördaten weder für legal noch für sinnvoll.