Der Dichter und der Tod. Joana Goede

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Название Der Dichter und der Tod
Автор произведения Joana Goede
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847606888



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leeres Glas und antwortete: „Man hat heute auf dem Westfriedhof eine Leiche gefunden.“

      Anabell nippte an ihrem Glas und meinte: „Ja, das habe ich auch gehört. Der Friedhof ist seitdem sogar gesperrt. Gehst du da nicht immer spazieren?“

      Kromnagel sah schnell auf und brummte leise: „Ich habe sie gefunden.“

      „Was?“, rief Anabell. „Was hast du gefunden?“

      „Sie.“ Kromnagel griff nun doch zur Weinflasche, während Tristan die Tüte mit dem chinesischen Essen umstrich. Es würde nicht lange dauern, bis er anfangen musste, sie zu zerpflücken. Denn Tristan liebte chinesisches Essen fast so sehr wie er Anabell liebte.

      Anabell verzog das Gesicht, Kromnagel goss sein Glas voll und erklärte etwas ausführlicher: „Ich habe sie gefunden. Die Leiche. Eine junge Frau. Sie lag da einfach so im Regen. Erst das Kaninchen und dann sie. Ich bin quasi über sie gestolpert. Den halben Tag saß ich in dem Café und musste mit der Polizei sprechen. Ein Polizist hat mich anschließend sogar hergefahren. Mehring heißt er, ein netter Bursche. Hat vor zwei Jahren seinen Hund verloren. Eine tragische Sache. Sonst hat er keine Familie.“

      Anabell stellte ihr Weinglas auf dem Tisch ab und hakte nach: „Du hast also wirklich diese Leiche gefunden? Winni, das, das ist ja furchtbar! Wie geht es dir? Du, du wirkst etwas durch den Wind.“

      „Durch den Wind?“ Kromnagel hatte sein Glas schon zur Hälfte ausgetrunken. „Ich stehe völlig neben mir! Ich weiß nicht mehr, was ich gesehen habe und was nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob...“

      Das Schrillen des Telefons unterbrach ihn. Vor Schreck fiel ihm das Glas aus der Hand. Es landete auf dem Teppich, der Wein verteilte sich. Das Glas blieb heil. Kromnagel stierte verständnislos auf das Glas.

      „Schon gut, ich mach das. Geh ran, vielleicht ist es wichtig.“ Anabell verschwand in der Küche, um einen Schwamm und Reinigungsmittel zu holen. Kromnagel kämpfte sich aus dem Sessel hoch, erreichte das Telefon und nahm ab. Er schloss die Augen vor Grauen, als er die gefürchtete Stimme vernahm.

      „Ein nettes Mädchen. Ich wusste nicht, dass du eine Tochter hast. Sie sieht dir gar nicht ähnlich.“

      Kromnagel presste zwischen den Zähnen hervor: „Sie ist nicht meine Tochter. Lass sie aus dem Spiel!“ Kromnagel wusste nicht genau, warum sie sich auf einmal mit Du ansprachen. Diese neue Stufe der Vertrautheit erweckte in ihm das unangenehme Gefühl, zu einem Komplizen des abscheulichen Verbrechens gemacht worden zu sein. Eine solche Vertrautheit war ihm nicht geheuer. Glatt erschien ihm der andere als alter Bekannter.

      Der Anrufer sagte: „Ich entscheide, wen ich aus dem Spiel lasse. Du sagst ihr nichts. Rein gar nichts, wenn du willst, dass ihr nichts passiert. Kapierst du? Ihr nicht und der Polizei nicht. Niemandem. Alles bleibt schön unter uns.“

      Kromnagel beteuerte: „Ich habe nichts gesehen. Wirklich nicht. Meine Brille...“

      „Spar dir das! Du sprichst mit ihr nicht darüber und nicht mit der Polizei. Erzähl denen sonstwas. Denk dir was aus. Meinetwegen. Wenn dir dein Leben und das von der Kleinen lieb ist.“

      Er legte auf, Kromnagel stand wieder fassungslos mit dem Hörer am Ohr, hörte auf das Tuten und bemerkte nicht Anabell, die mit dem Schwamm und dem Reinigungsmittel zurückkehrte und ihn musterte. Als sie ihn ansprach, zuckte er mächtig zusammen. „Alles klar?“

      „Sicher, sicher.“ Er legte den Hörer auf, nahm ihr alles aus den Händen und brummte: „Gib her, das brauchst du nicht machen. Nur weil ich ein Greis bin, der sein Glas nicht mehr eigenständig halten kann.“ Er schrubbte eine Weile ordentlich den Teppich, wollte gar nicht damit aufhören. Denn das Schrubben verschaffte ihm Bedenkzeit. Anabell breitete derweil sorgfältig das Essen auf dem Tisch aus, schöpfte eine Kleinigkeit von allem für den Kater ab, der ungeduldig auf dem Sofa sitzend wartete. Seine grünen Augen flackerten freudig, sie waren über der Tischkante sehr gut zu sehen.

      Als Anabell den kleinen Teller auf den Fußboden gestellt hatte und der Kater hinterhergesprungen war, musste Kromnagel sein Schrubben aber beenden. Der Schwamm war ohnehin drauf und dran, den Geist aufzugeben. Außerdem stank das Wohnzimmer nun penetrant nach Putzmittel. Selbst der Duft des ehemals warmen chinesischen Essens war kaum noch wahrzunehmen.

      Anabell ließ sich in den Sessel zurückfallen, seufzte und sagte: „Nun ist aber mal gut. Der Teppich hat so viele Flecken, das sagst du doch immer. Da kommt es auf diesen auch nicht mehr an. Außerdem ist es nur Weißwein.“ Kromnagel erwiderte: „Da siehst du mal, warum ich niemals Roten trinke!“

      Er verschaffte sich noch mehr Zeit, indem er langsam den Schwamm und die Flasche mit dem Reinigungsmittel in die Küche brachte, den Schwamm auswusch und alles ordentlich verstaute. Dabei überlegte er sich, was er Anabell jetzt erzählen durfte und was nicht. Denn dass er eine Leiche gefunden hatte, das konnte für den Mörder kein Problem darstellen. Das einzige, was ihn zu dieser Kontaktaufnahme veranlassen konnte, war die Sorge darum, dass Kromnagel ihn gesehen hatte. Womöglich sogar erkannt. Bei diesem Gedanken wurde Kromnagel für eine Sekunde von einem mächtigen Schwall Übelkeit überwältigt, der sich allerdings genauso schnell wieder verflüchtigte, wie er gekommen war. Denn alles in Kromnagel sträubte sich gegen die Idee, mit einem Mörder tatsächlich bekannt zu sein.

      Die Tatsache, dass Kromnagel den Täter, bekannt oder nicht, gesehen hatte, ohne ihn zu sehen, ließ sich diesem offenkundig nicht vermitteln. Er wollte Kromnagel schließlich gar nicht zu Wort kommen lassen. Deshalb gab es, so schloss Kromnagel, keine Möglichkeit, den Mörder zu besänftigen oder die Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

      Und Mehring? War Mehring die Rettung? Doch mit der Polizei, so hatte der Anrufer gedroht, sollte Kromnagel auch nicht sprechen. Er sollte mit niemandem sprechen. Das war, fand Kromnagel, schwer haltbar. Zumal er der Polizei ja bereits von der unheimlichen Begegnung erzählt hatte. Immer mehr fühlte sich Kromnagel mächtig auf den Arm genommen. Aber die Sache war ja wohl kein blöder Scherz?

      „Winni!“ Anabell wurde langsam ungeduldig im Wohnzimmer. Tristan hatte mittlerweile schon seine zweite Portion eingefordert. Dabei war die Ente längst kalt und der Reis etwas pappig. Der Kater verschlang trotzdem alles restlos, das man für ihn bereitgestellt hatte, solange nur ausreichend süß-saure Soße darauf war.

      „Jaja.“ Kromnagel kam zurück ins Wohnzimmer geschlurft. Der alte Sessel knarrte, als er darin niedersank. Appetit wollte sich nicht wirklich einstellen, auch nicht bei dem Anblick des Essens. Anabell hatte die Teller schon befüllt und griff nun zum Besteck. Sie sagte: „Also, wenn du nichts essen willst, dann versteh ich das ja. Aber ich muss jetzt was essen, mir ist schon ganz schlecht vor Hunger.“

      Als Kromnagel ihr einen schnellen Blick zuwarf, erschien sie ihm plötzlich ungewöhnlich blass. Ihre Augen hatten nicht die übliche Leuchtkraft, sie wirkte irgendwie krank auf ihn. Die Wangen, welche bei ihrer Ankunft in gesunder Röte gestrahlt hatten, schimmerten mit einem Mal eher gräulich. Allerdings vertraute er darauf, dass sie ihm mitteilen würde, wenn es ihr nicht gut ging. Vielleicht hatte sie nur einfach schlecht geschlafen in letzter Zeit. Es gab ja solche Phasen.

      Kromnagel brummte: „Nur zu.“ Er selbst bohrte unsinnig seine Gabel in den Reis und stierte nachdenklich auf die Tischplatte. Anabell wollte wissen: „Wer hat denn gerade angerufen? Du warst ja ziemlich schockiert. So hat es zumindest ausgesehen.“

      Erschrocken blickte Kromnagel auf, wog mögliche Antworten und deren Glaubwürdigkeit ab, dann behauptete er rasch: „Es, es war nochmal die Polizei. Ich soll morgen auf das Präsidium kommen, für das Protokoll. Dabei weiß ich jetzt schon gar nicht mehr, was genau passiert ist. Wie auch immer ich das morgen noch geordnet erzählen soll. Keine Ahnung, warum sie das heute nicht abgehakt haben. Ich, ich sehe nur immer, wenn mich jemand darauf anspricht, diese tote junge Frau. Es ist schrecklich. Mehr ist nicht hängen geblieben.“

      „Hast du denn mit einem Psychologen gesprochen?“, erkundigte sich Anabell und erntete von Kromnagel ein wüstes: „Unsinn! Was soll das schon bringen? Ich muss schließlich allein damit fertig werden. Jemandem zu erzählen, wie ich mich gefühlt habe, als ich die Leiche sah, ist doch Quatsch. Noch nie in meinem