Die Kestel Regression. Jürgen Ruhr

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Название Die Kestel Regression
Автор произведения Jürgen Ruhr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750222342



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Der neue Job

      Tobias Kestel blickte dem davonfahrenden Wagen hinterher. Dieser dämliche Dr. Friesgart hatte ihn das ganze Wochenende nicht aus den Augen gelassen. Doch das konnte Tobias Kestel ertragen. Alles konnte er ertragen, wenn es um seine Freiheit ging. Und eine kurze Zeit der Überwachung noch, dann war er diesen Aufpasser auch wieder los. So hatte Dr. Barters es ihm erklärt.

      Auch so ein Idiot. Ein eingebildeter Schnösel, der nur dank des Geldes seines Vaters den Posten in der Klinik bekommen hatte. Durch Zufall hörte Tobias Kestel das Gespräch zwischen einem Arzt und einer Schwester mit und es entsprach in etwa seinen Einschätzungen, was er da vernahm. Diese angebliche Therapie war schlechthin ein Witz gewesen. Schon nach kurzer Zeit wurde Tobias klar, dass es diese unsäglichen Pflaster waren, die ihn so müde und antriebslos machten. Anfangs konnte er keinen klaren Gedanken fassen.

      Dr. Barters klebte ihm die Pflaster - nein, er klebte nicht selbst, er ließ durch seinen Assistenten kleben - zunächst auf den Rücken. Die Stellen wechselten, um die Haut nicht zu sehr zu reizen, wie ihm Barters erklärte. Und das brachte Tobias Kestel auf eine Idee. Er rieb seinen Rücken so lange am Türrahmen, bis sich eine leichte Rötung zeigte. Dann beklagte er sich beim Arzt über eine allergische Reaktion. Nach einiger Zeit erreichte er, dass das Pflaster schließlich auf seiner Brust aufgeklebt wurde. Zwar rasierte ihm der Assistent Dr. Friesgart die Haare dort ab, doch das störte Tobias nicht. Jetzt war er in der Lage, das Pflaster selbst zu entfernen und nur wieder aufzukleben, wenn durch die Ärzte Kontrollen oder Wechsel stattfanden. Leider hielten die einmal entfernten Pflaster nur noch schlecht, doch Dr. Friesgart zuckte lediglich mit den Achseln und fixierte sie mit weiteren Klebepflastern. Die ewige Benommenheit und Antriebslosigkeit verschwanden nach und nach und auch das Denken fiel Tobias wieder leichter.

      Und so weilten seine Gedanken schon seit einiger Zeit bei den Kindern, die er auf dem Spielplatz in der Nähe seiner neuen Wohnung gesehen hatte. Als wenn er nicht gemerkt hätte, wie Friesgart ihn beobachtete, als sie an den Kindern vorbeifuhren!

      Kestel warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war noch ein wenig Zeit, bevor er sich bei dieser Schwester Rosi melden musste und er hatte nicht vor, dies auch nur eine Sekunde früher, als unbedingt erforderlich, zu tun. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er wieder in einem Schlachthof zu arbeiten begonnen. Tobias Kestel sog die morgendliche Luft tief ein und vermeinte fast den metallischen Geruch des Blutes vom Schlachthof zu spüren. All die Jahre in der Klinik hatte er davon geträumt. Und von seinem ‚Atelier‘ in dem alten Bauernhof. Die Gedanken gaben ihm Mut und ließen die lange Gefangenschaft erträglicher werden. Und als dann dieser Dr. Barters ihm gegenüber von ‚Heilung‘ und einer möglichen Entlassung aus der Klinik gesprochen hatte, wurden Kestels Phantasien gewagter. Manchmal vermeinte er, die Stimmen und das Jammern der Kinder zu vernehmen und wohlige Schauer krochen über seinen Rücken.

      Zunächst stand er den Aussagen Barters skeptisch gegenüber. Hatten ihn die Richter doch für den Rest seines Lebens in diese Klinik verbannt. Doch letztlich hielt der Arzt sein Wort und entließ ihn, den Patienten, in die Freiheit. Schließlich stand Tobias Kestel ja jetzt hier.

      Es wurde Zeit, zu dieser Schwester Rosi zu gehen. Friesgart wollte ihn zunächst eigentlich bis auf die Station begleiten, doch Tobias konnte dem Arzt klarmachen, dass er lieber alleine dort hineingehen würde. Schließlich war er ein Mann von mittlerweile siebenundvierzig Jahren und kein kleines Kind mehr. Immerhin neun Jahre älter, als zu dem Zeitpunkt, da man ihn eingesperrt hatte. Aber immer noch in bester Verfassung. Gut, die Haare gingen ständig weiter zurück und in absehbarer Zeit dürfte er eine Glatze bekommen, doch sein Körper war immer noch schlank und einigermaßen fit.

      Tobias Kestel stieg die Treppe im Gebäude hoch. Die Anmeldung gegenüber der Eingangstüre war nicht besetzt, aber er wusste ja, wohin er musste. Das Dienstzimmer lag im ersten Stock links im Gang, er würde es nicht verfehlen können. Er hätte den Raum auch mit verbundenen Augen gefunden, denn von dort schallte ihm eine Reibeisenstimme entgegen. Er konnte nicht genau verstehen, worum es ging, lediglich die Begriffe ‚dreckige Wäsche‘, ‚Boden‘ und ‚Schweinerei im Zimmer‘ verstand er. Dann brach das Geschrei plötzlich ab und eine junge Pflegerin mit Tränen in den Augen stürmte aus dem Dienstzimmer. Fast hätte sie ihn umgerannt und sprang erschrocken zur Seite. Sie entschuldigte sich leise und kaum verständlich, wobei sie den Blick fest auf den Boden gerichtet hielt.

      Tobias klopfte an die offenstehende Tür und trat in den Raum. Eine dicke Frau, vielleicht um die fünfzig Jahre alt, mit einem verlebten Gesicht und eindeutig blond gefärbten, extrem kurzen Haaren, blickte ihn feindselig an.

      „Zu wem wollen sie? So früh ist noch keine Besuchszeit, die Bewohner schlafen noch alle“, fuhr sie Tobias ohne irgendeine Begrüßung an.

      Kestel blickte zu Boden und gab sich bescheiden: „Guten Morgen. Mein Name ist Tobias Kestel und ich soll mich bei Schwester Rosi melden.“

      „Ach, du bist das! Sag das doch gleich. Ich bin die Rosi, das kommt von Roswitha. Wie sagt man zu dir? Tobi?“

      Tobias hätte am liebsten geantwortet: ‚Herr Kestel‘, doch er schluckte die Antwort herunter und meinte stattdessen kleinlaut: „Tobias, einfach nur Tobias.“

      „Na gut, Tobias“, krakeelte die Blonde mit ihrer unangenehmen Stimme. „Du musst allerdings hier etwas lauter sprechen. Die meisten Leute sind schwerhörig oder tragen Hörgeräte. Aber glaube mir, damit können die auch nicht besser hören. Oder sie wollen nicht, was aber auf das Gleiche hinauskommt.“

      Sie watschelte zu einer Kaffeemaschine und goss sich einen Becher ein. Dann kramte sie ein Brötchen hervor und biss herzhaft hinein. „Die Arbeit für Hilfskräfte beginnt um sieben Uhr und endet um fünfzehn Uhr. Fünfundvierzig Minuten Pause, keine Raucherpausen zwischendurch. Oder du gehst dreimal fünfzehn Minuten, dann kannste rauchen. Aber nicht einfach abhauen, sondern mich vorher fragen“, nuschelte sie mit vollem Mund und nahm einen tiefen Schluck Kaffee. „Du warst im Knast, nicht?“

      Tobias schüttelte den Kopf: „Nein, ich war in einer Klinik. Aber jetzt bin ich geheilt und entlassen.“

      „Klinik?“ Rosi sah ihn fragend an. „Doch nicht etwa inner Klapse?“

      „Psychiatrische Klinik. Ich bin - oder war - nicht verrückt.“

      „Na hoffentlich. Psychos können wir hier nicht gebrauchen. Aber das war ja auch wieder irgend so eine ‚Unter-der-Hand-Sache‘ zwischen den Chefs. Na mir soll’s recht sein, wir können hier jede helfende Hand gebrauchen. Ich sage nur ‚Pflegenotstand‘. Den Job will ja kaum noch jemand machen und die Politik kümmert sich um nichts. Die versauen alles nur immer mehr, wenn du weißt was ich meine.“

      Tobias nickte: „Ja.“

      Doch Rosi schien gar keine Antwort erwartet zu haben, denn sie fuhr, ohne sich unterbrechen zu lassen, einfach fort: „Nur noch Ausländer, aber ich habe ja nichts gegen Ausländer. Polen, Russen, sogar Asiaten. Und kein Schwein spricht vernünftig Deutsch. Ist doch richtig schön, dann mal wieder einen Deutschen hier zu sehen. Wenn auch nur als Aushilfe.“ Sie trank erneut, verschluckte sich und hustete ausgiebig. Dann musterte sie Tobias eingehend. „Du bist doch Deutscher, oder? Nicht, dass ich was gegen Ausländer hätte, aber ...“

      Tobias nickte erneut: „Ja.“

      „Na umso besser. Dann verstehste wenigstens, was ich sage.“

      Tobias hätte ihr am liebsten erklärt, dass er nicht alles verstanden hatte, als sie mit vollem Mund zu ihm sprach, doch er dachte an das junge Mädchen von eben und hütete sich davor, etwas Falsches zu sagen. Mit der Frau wollte er lieber keinen Ärger bekommen.

      Wieder blickte sie ihn an und schüttelte leicht den Kopf: „In den Klamotten kannste aber hier nicht arbeiten. Da biste ein bisschen overdressed!“

      Tobias sah an sich herunter. Er hatte heute Morgen extra einen dunkelblauen Anzug angezogen, um einen möglichst guten Eindruck zu machen. „Was muss ich denn hier tragen?“, fragte er.

      „Normale Kleidung. Jeans, T-Shirt und feste Schuhe. Aber sauber müssen die Sachen sein. Für heute kannste aber in deinem Anzug hier rumrennen.