Die Kestel Regression. Jürgen Ruhr

Читать онлайн.
Название Die Kestel Regression
Автор произведения Jürgen Ruhr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750222342



Скачать книгу

„Herr Kestel“, wandte er sich an den Patienten, der sofort von seinem Stuhl aufsprang und so etwas wie eine militärische Haltung annahm. ‚Übertreibe es nicht‘, warnte Barters ihn mit den Augen, doch Kestel blickte stoisch zu Boden.

      „Herr Tobias Kestel, wie geht es ihnen, wie fühlen sie sich?“

      „Gut, danke Herr Klinikleiter. Ich fühle mich ruhig und zufrieden, allerdings ein wenig unterfordert. Ich möchte arbeiten, etwas schaffen und mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Dank der Therapie meines wundervollen Arztes bin ich ein vollkommen neuer Mensch geworden. Den alten Tobias Kestel gibt es nicht mehr.“

      Osslinger nickte mit dem Kopf und Barters atmete ein wenig auf. Sie hatten Kestels Antwort zum Glück lange genug einstudiert.

      „Sehr schön, Herr Kestel.“ Dr. Osslinger wandte sich an die Sekretärin: „Bitte nehmen sie ins Protokoll auf, dass wir jetzt hier nicht alle von Dr. Barters durchgeführten Therapien und Maßnahmen erläutern wollen, sondern dem Protokoll die Therapieunterlagen anheften werden. Ich fahre nunmehr mit der Befragung fort.“

      Er wandte sich wieder dem Patienten zu, lächelte und meinte: „Herr Kestel, bitte erläutern sie mir, was sie denken, wenn sie ein Kind oder eine Gruppe Kinder sehen.“

      Kestel schwieg einen Moment, so als würde er über die Frage angestrengt nachdenken. Doch auch diese Thematik hatten Barters und er eingehend besprochen. „Herr Vorsitzender, ich habe selbst zwei Kinder und meine Gedanken kreisen lediglich darum, dass es den Kindern - allen Kindern - gut gehen möge und ich hoffe, meine eigenen eines Tages einmal wiedersehen zu können. Falls sie darauf ansprechen, ob ich jemals wieder diese falschen Sachen machen möchte, so kann ich mit einem klaren ‚Nein‘ antworten. Das war ein anderer Tobias Kestel. Ein kranker Mensch, der ich heute nicht mehr bin. Dr. Barters hat mich geheilt.“

      Wieder nickte der Klinikchef und wieder atmete Barters ein wenig auf. Kestel musste lediglich noch ein paar Fragen weiter durchhalten. Barters Reputation in Fachkreisen rückte wieder in greifbare Nähe.

      „Ich nenne ihnen jetzt einige Begriffe, auf die sie mir spontan und ohne langes Nachdenken antworten werden. Antworten sie möglichst mit nur einem Wort. Haben sie verstanden, worum es geht, Herr Kestel?“

      Der Patient Tobias Kestel nickte und Dr. Barters rieb sich im Geiste die Hände. Dieses Frage- und Antwortspiel hatten sie bis zum Erbrechen geübt. Schließlich war es Teil der Therapie und eine Möglichkeit, den Geisteszustand des Patienten zu erforschen.

      Kestel nickte.

      „Gut, beginnen wir: Fahrrad.“

      Kestel blickte unbefangen auf: „Fortbewegung.“

      „Kinderspielplatz.“

      „Sand.“

      „Messer.“

      „Brote.“

      „Skalpell.“

      „Ärzte.“

      „Schmerzen.“

      „Linderung.“

      Barters hielt die Luft an. Alle Antworten entsprachen seinen Befragungen, lediglich die auf ‚Schmerzen‘ hatte Kestel bisher mit ‚Tabletten‘ beantwortet. ‚Linderung‘ war sehr mehrdeutig, zumal in allen Polizeiprotokollen stand, dass Kestel seinen jungen Opfern damals ‚Linderung‘ verschaffen wollte.

      Aber Dr. Osslinger ging auf die letzte Antwort nicht ein. Vielleicht hatte er nicht richtig zugehört oder er akzeptierte die Antwort einfach nur so. Jedenfalls beendete er mit einem zufriedenen Nicken die Befragung und wandte sich wieder seiner Sekretärin zu: „Bitte vermerken sie: keine Auffälligkeiten.“

      Als das leise Klappern der Tasten verklang, wandte sich der Klinikchef erneut an den immer noch stehenden Tobias Kestel: „Herr Kestel, bitte machen sie jetzt zehn Kniebeugen.“

      Kestel tat wie ihm geheißen.

      Barters musste sich stark zusammenreißen, um ein Lachen zu unterdrücken, während Tobias Kestel pflichtgemäß in die Knie ging. Wollte Osslinger das Ganze jetzt ins Lächerliche ziehen? Aber vielleicht war dies ja eine kleine Retourkutsche an Dr. Meunier. Etwas, das ihm zeigte, wie unsinnig sein Ansinnen gewesen war.

      „Sie können sich wieder setzen, Herr Kestel.“ Dr. Osslinger wandte sich an Dr. Barters: „Herr Kollege bitte schildern sie uns, wie sich Herr Kestel auf seinen Freigängen verhalten hat.“

      „Gerne Herr Direktor.“ Barters erhob sich und blickte zu dem Klinikleiter und seiner Sekretärin, die sich dienstbeflissen über den Laptop beugte. „Der Patient Tobias Kestel erhielt regelmäßig kontrollierten Freigang, um ihn an das Leben außerhalb dieser Klinik zu gewöhnen und seine Reaktionen auf fremde Menschen, insbesondere kleine Kinder, zu verifizieren. Tobias Kestel wurde von meinem Assistenten Herrn Dr. Friesgart begleitet. Dr. Friesgart hat über jeden Freigang einen detaillierten Bericht erstellt. Diese Berichte können dem Protokoll ebenfalls angehängt werden. Ich möchte mich jetzt lediglich darauf beschränken, dass Herr Tobias Kestel sich tadellos benommen hat und selbst in Augenblicken, in denen er sich unbeobachtet fühlte, keine Unregelmäßigkeiten erkennen ließ.“ Dr. Barters verbeugte sich kurz und setzte sich mit langsamen Bewegungen auf seinen Stuhl zurück.

      Dr. Osslinger nickte allen Anwesenden freundlich zu. „Meine Herrschaften, wir kommen jetzt zu der Beschlussfassung. Um eine Pattsituation zu vermeiden, also ein eindeutiges Ergebnis zu bekommen - und dies frei jeglicher Beeinflussung - veranlasse ich, dass es zu einer Abstimmung kommt. Ich werde den Raum verlassen, um zu vermeiden, dass sich jemand von ihnen durch mich zu einem ihm nicht genehmen Entschluss gedrängt fühlt. Sobald ich durch die Tür dort verschwunden bin, stimmen sie, Dr. Barters, Dr. Friesgart und Dr. Gelsmann darüber ab, ob Herr Tobias Kestel weiter in der Klinik verbleiben soll oder auf freien Fuß gesetzt wird. Schreiben sie ihre Wahl auf einen Zettel, den ihnen Frau Vornau noch geben wird und reichen sie ihr den Zettel anschließend zusammengefaltet zurück. Enthaltungen werden nicht akzeptiert. Sie wissen also, worauf es ankommt, meine Herren. Ich erwarte eine zügige Entscheidung!“

      Osslinger stand auf und verließ den Raum, während die Sekretärin kleine Zettel an sie verteilte. Barters grinste. ‚Du alte Drecksau‘, dachte er und musste zugeben, dass er den Klinikchef doch ein wenig bewunderte. Osslinger hatte das alles im Voraus geplant und würde so jeglicher Verantwortung entgehen. Ein Fehlverhalten Tobias Kestels könnte niemand ihm, dem Klinikchef, ankreiden. Zumindest theoretisch nicht.

      Dr. Barters blickte seinen Assistenten scharf an. Der Mann würde doch jetzt keinen Fehler begehen? Dann wäre Dr. Friesgart die längste Zeit ein Teil des Teams dieser Klinik gewesen sein. Und er, Dr. Barters, wollte höchsteigen dafür sorgen, dass der Mann nur noch als Hilfskraft einen Job finden würde.

      Die kleinen Zettel waren schnell ausgefüllt und der Sekretärin zurückgegeben. Dr. Barters bedeutete seinem Assistenten, den Klinikchef wieder in den Raum zu holen.

      „Das ging ja flott, meine Herren“, sprach Dr. Osslinger während er die gefalteten Zettel von der Sekretärin entgegennahm. Er faltete den ersten auseinander. „Entlassen“, las er vor. Auch auf dem nächsten Stand ‚Entlassen‘ und damit stand das Abstimmungsergebnis fest. Trotzdem faltete er den letzten Zettel noch auseinander. „Weiter behandeln“, gab er den Text auf dem Blättchen wieder.

      „Meine Herren, sie haben entschieden: Herr Tobias Kestel wird aus unserer Klinik als geheilt entlassen. Ich bitte Herrn Dr. Barters alles Erforderliche in die Wege zu leiten. Die Anhörung ist beendet. Meine Dame, meine Herren ich danke Ihnen. Und ihnen Herr Kestel: meinen Glückwunsch. Lassen sie die sich ihnen bietende Chance nicht verstreichen!“

      Während Dr. Osslinger den Raum zufrieden lächelnd verließ, besah sich Dr. Barters die auf dem Tisch liegenden Zettel. Die Schrift, die besagte ‚weiter behandeln‘ war eindeutig nicht die seines Assistenten. Der hatte mit ‚entlassen‘ gestimmt. Barters atmete erleichtert auf. Also war ihm Gelsmann, der Neue, in den Rücken gefallen! Dr. Barters lächelte bei dem Gedanken daran, dass er schon dafür sorgen würde, dass dieser Gelsmann bald wieder aus der