Die Kestel Regression. Jürgen Ruhr

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Название Die Kestel Regression
Автор произведения Jürgen Ruhr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750222342



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Meunier umso mehr und dachte jetzt schon darüber nach, wie er es ihm heimzahlen konnte. Aber zunächst galt es, die Anhörung zu seinen - und Tobias Kestels - Gunsten zu überstehen. Trotz der großzügigen Spende war sich Bernard Barters über den Ausgang der Befragung nicht mehr so sicher.

      Und zu allem Überdruss hatte ihm sein Vater klargemacht, dass er nicht ewig die Karriere seines Sohnes mit ‚Spenden‘ unterstützen würde. „Bernard“, hatte er gesagt und dabei sehr ernst geblickt, „einmal muss Schluss sein. Ich habe deinen Abschluss als Arzt mit Unsummen unterstützt und dafür gesorgt, dass du eine Anstellung in der psychiatrischen Praxis bekamst. Für die ‚Spende‘ hätte ich dir fast auch eine eigene Praxis einrichten können. Und dann der Wechsel zur Klinik. Ebenfalls eine unverschämt hohe Summe. Und nun dies hier. Was liegt dir eigentlich daran, diesen Tobias Kestel wieder in Freiheit zu sehen? Bist du wirklich sicher, dass der Mann zukünftig seine Finger von kleinen Kindern lassen wird?“

      „Vater“, Barters gab sich reumütig. Er wusste, dass er so am meisten bei seinem alten Herrn erreichen konnte. „Es ist meine Berufung. Ich will doch dir und der Familie Ehre machen, aber leider zeigen sich die Menschen allzu verbohrt. Tobias Kestel wurde durch meine Therapie geheilt und die Anerkennung der Fachwelt wird nicht nur mein Image, nein unser Image, steigern und in unermessliche Höhen befördern, sondern mir auch eine Menge Geld einbringen. Du wirst sehen, dass ich dir deine Auslagen doppelt und dreifach zurückzahlen kann.“

      Sein Vater schüttelte den Kopf, so als wollte er sagen: ‚Na, wer’s glaubt‘ und knurrte: „Das werden wir noch sehen. Bisher hast du mich lediglich eine Menge Geld gekostet und kaum etwas erreicht. Beweise mir, dass du meine Mühen auch wert bist!“

      Barters wischte einige imaginäre Stäubchen von seiner Schulter. Seine Arbeit in der Praxis war seiner Meinung nach sehr gut gewesen. Leider dachten die Kollegen dort anders und als er in die Klinik wechselte, sah Bernard Barters manch erleichtertes Gesicht. Aber auch Tränen, denn als die Sprechstundenhilfe ihn fragte, ob sie sich weiter treffen würden, schüttelte er damals nur stumm den Kopf. Dass er des Mädchens überdrüssig war und der Sex mit ihr langsam fad wurde, hatte er verschwiegen. Er wollte die Kleine ja nicht vor den Kopf stoßen und vielleicht würde er sie ja noch einmal brauchen. Jedenfalls konnte ihm niemand schlechte Arbeit vorwerfen. Zahlreiche Alkoholiker waren innerhalb kürzester Zeit von ihm geheilt worden und kamen lediglich noch regelmäßig zu ihm, um sich Tabletten verschreiben zu lassen. Besonders bewährte sich dabei in der Therapie das Mittel Fentanyl, das er als Pflaster verabreichte. Es dauerte nie lange, bis die Patienten auf ihren Alkoholkonsum verzichten konnten oder diesen wenigstens reduzierten. Eine hervorragende Therapie, die er auch bei Tobias Kestel angewendet hatte. Und der Erfolg gab ihm schließlich Recht!

      Er blickte erneut auf seine Uhr, die er günstig gekauft hatte. Eine original Chopard Imperiale, die er für zweihunderttausend Euro und damit gut fünfzigtausend günstiger, als normal, erworben hatte. Der Kampf mit seinem Vater, um das Geld zu erhalten, kostete ihn allerdings einige Nerven. Schließlich durfte er sich die Uhr zu seinem dreißigsten Geburtstag kaufen und sein Vater verlor auch nie wieder ein Wort darüber.

      Jetzt wurde es allerdings Zeit, sich der Auseinandersetzung mit der Klinikleitung zu stellen. Als er am Dienstag - direkt nach dem Pfingstwochenende - von der Eingabe dieses Dr. Meunier und seiner Kollegen erfahren hatte, musste er Tobias Kestel auf die neuerliche Befragung vorbereiten. Das war ihm in den letzten beiden Tagen gut gelungen und würde Kestel heute keinen Fehler machen und war die Spende seines Vaters entsprechend großzügig ausgefallen, dann dürfte Kestel schon Anfang der kommenden Woche in Freiheit sein. Schließlich war alles schon vorbereitet: Barters Assistent hatte eine kleine Wohnung gemietet, Zivilkleidung in Kestels Größe besorgt und sogar für einen Job in einem Altenheim gesorgt. Kestel konnte dort als Aushilfe arbeiten und würde ihm bei Bedarf zur Verfügung stehen.

      Heute war Donnerstag und der große Zeiger seiner Uhr rückte unentwegt auf die Sechs vor. Zehn Uhr dreißig und Barters durfte auf keinen Fall unpünktlich sein.

      „Guten Morgen, meine Dame und Herren“, begrüßte er die Anwesenden, während er bewusst gutgelaunt zu seinem Stuhl trat. Sie befanden sich hier in einem kleinen Besprechungsraum, in dem um einen ovalen Tisch herum mehrere Stühle gruppiert waren. Der Klinikleiter saß mit seiner Sekretärin und einem jüngeren Kollegen an der Stirnseite des Tisches, hinter der sich auch die Leinwand für Bildprojektionen befand. Allerdings würden sie sie heute nicht benötigen und daher befand sie sich noch in dem Kasten an der Decke.

      Barters stellte mit Genugtuung fest, dass der für den neutralen, externen Arzt vorgesehene Stuhl leer war. Eins zu null für Vaters ‚Spende‘. Er verbeugte sich leicht in Richtung der drei Personen und nahm auf seinem Stuhl Platz. Der Klinikleiter, Dr. Osslinger, sah ihn prüfend an, sagte aber nichts. Seine Sekretärin spielte an dem Laptop herum, auf dem sie wohl das Protokoll führen würde. Dem anderen Arzt war die ganze Sache anscheinend recht peinlich, denn er betrachtete angelegentlich die Tischplatte und schien sich in der Situation auch nicht recht wohlzufühlen. Barters wusste, dass der Kollege erst seit kurzer Zeit im Klinikum war. Dessen Anwesenheit konnte er gut akzeptieren, denn der Mann würde mit Sicherheit keinerlei Aussage entgegen den Wünschen der Klinikleitung äußern. Sie alle wussten, dass dies mehr oder weniger eine Farce darstellte, die ein Dr. Meunier unnötigerweise initiiert hatte. Barters wurde sich seiner Sache zunehmend sicherer.

      Osslinger sah ungehalten auf seine Uhr, die nicht annähernd der Klasse von Barters Imperiale nahekam. Allerdings wurde es allmählich Zeit, dass Barters Assistent, Dr. Holger Friesgart, mit ihrem Patienten eintraf. Barters hatte beiden zuvor mehrere Male eingebläut, unbedingt pünktlich zu sein und jetzt war es schon fünf Minuten über der Zeit. Er nahm sich vor, seinen Assistenten später gehörig zusammenzuscheißen.

      Plötzlich öffnete sich die Tür und Tobias Kestel, gefolgt von Dr. Friesgart, betrat den Raum. Kestel verbeugte sich - so wie es Barters ihm eingetrichtert hatte - und blieb demütig neben der Tür stehen.

      „Guten Morgen“, begrüßte sie Dr. Friesgart, der neben Kestel stand. „Bitte entschuldigen sie unsere Verspätung, aber es gab in Abteilung fünf C einen Notfall. Es ist meine Schuld, dass wir nicht früher hier sein konnten.“

      Dr. Osslinger hob wohlwollend die Hand und winkte die beiden zu sich heran. Dann zeigte er auf zwei freie Stühle. „Nun, das entschuldigt sie natürlich“, nickte er. „Bitte nehmen sie Platz und lassen sie uns beginnen.“ Er nickte der Sekretärin zu, die sich ihrem Laptop widmete und auf der Tastatur herumhämmerte.

      „Ich gehe davon aus, dass sie alle wissen, warum wir uns heute hier zu einer außerplanmäßigen Anhörung eingefunden haben. Ich muss auf die Beweggründe trotzdem wegen des Protokolls eingehen. Zunächst einmal stelle ich die Anwesenheit fest: Im Raum befinden sich Herr Dr. Bernard Barters, sein Assistent Herr Dr. Friesgart, ferner Dr. Reinhard Gelsmann in seiner Eigenschaft als neutraler Beobachter, Frau Sabine Vornau die Sekretärin und Schriftführerin, sowie meine Wenigkeit, Dr. Dr. med. Osslinger, der Leiter der Klinik. Und zu guter Letzt befindet sich der Patient Tobias Kestel in dem Konferenzraum.“

      Osslinger machte eine kurze Pause und wartete, bis die Sekretärin alles in ihren Computer getippt hatte. Dann fuhr er fort: „Auf Anliegen des Arztes Dr. Meunier und einiger anderer Kollegen treffen wir hier heute zu einer Anhörung des Patienten Tobias Kestel in der Angelegenheit seiner durch Dr. Barters diagnostizierten Heilung und der damit einhergehenden Entlassung aus der psychiatrischen Klinik. Dr. Meunier und seine Kollegen drängen in einem durch Boten zugestellten Schreiben darauf, die geplante Entlassung zu revidieren und Herrn Tobias Kestel in der Obhut und Behandlung der Klinik zu belassen. In den angeführten Argumenten bezweifelt Dr. Meunier den Erfolg der Therapie des Herrn Dr. Barters.“

      Wieder folgte eine Pause. Barters hielt seinen Blick auf die Tischplatte gesenkt, beobachtete aber aus den Augenwinkeln abwechselnd seinen Patienten Tobias Kestel, sowie den Klinikleiter. Die Frage, die ihn beschäftigte, lautete, ob Osslinger gegen die Entlassung Kestels ebenfalls Bedenken hegte. Dr. Meunier konnte durch seinen Brief zweifellos in Osslinger eine gewisse Angst in Bezug auf das zukünftige Verhalten des Patienten geweckt haben. Dr. Osslinger befand sich in einer Zwickmühle, auf deren einen Seite das gute Geld von Barters Vater und auf der anderen