Schatten und Licht. Gerhard Kunit

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Название Schatten und Licht
Автор произведения Gerhard Kunit
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738021592



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auf seinen abgedroschenen Charme hereinfallen. Spätestens, wenn er sie abserviert, wird sie ihn mit Freude ans Messer liefern.“

      Sybilla schwieg. Ihre Miene zeigte keinerlei Regung.

       Kann ich ihr vertrauen? Um wie viel mächtiger könnte die Gilde sein, wenn es gelänge die Kräfte der vielen brillanten Köpfe zu bündeln, anstatt ständig auf den eigenen Vorteil und die persönliche Sicherheit achten zu müssen?

      Er verwarf die unnütze Grübelei und schob Sybilla einen Beutel hin. „Einhundert Goldstücke. Borg‘ ihr das Geld für die Einschreibung und sag ihr, es käme von Dir. Dass Du an ihr Talent glaubst und das ganze Blah-Blah. Das sollte für eine erste Vertrauensbasis genügen.“

      Seine Lippen berührten routiniert ihre faltigen Wangen. Versonnen sah er ihr nach. Die schlanke Gestalt und die langen Haare, die wehende Robe, die mit ihrem elastischen Gang mitfederte, all das regte durchaus seine Phantasie an. Vielleicht sollte er die Kollegin zu einer magischen Verjüngung ihres Gesichts überreden. In seiner Vorstellung glätteten sich die Falten. Frische Haut schmiegte sich an ein Gesicht, das dennoch nie mehr als Durchschnitt wäre. An Shila Ferdons frische, jugendliche Schönheit könnte Sybilla Ternakis niemals heranreichen.

      Tioman Haranet ya Chernez klingelte. Seine Dienerin erschien in der Türe und verneigte sich. „Magistra Ferdon soll mir bei der Analyse für Stadtmeister Rilling assistieren. Eile dich.“

      Er griff nach einem Flakon aus Kristallglas und verteilte zwei Spritzer Parfum auf Brust und Nacken. Dann wandte er sich dem reich verzierten Wandspiegel zu und strich die ergrauenden Haare glatt. Er sah einen attraktiven Mann im besten Alter, und Shila war klug genug dies anzuerkennen. Die Analyse, ob Stadtmeister Rillings Amulett noch ausreichend geladen war um einen Giftanschlag zu verhindern, war wichtig und einträglich, konnte aber warten.

      Macht an sich, war etwas Schönes, Begehrenswertes, aber ihr eigentliches Geheimnis lag darin, sie zu genießen. Im Gegensatz zu Fenrik war er sich bewusst, dass seine Attraktivität primär mit seiner Stellung zusammenhing. Er ging zu dem Diwan in der Ecke und ließ sich in die weichen Polster sinken. Seine Gedanken schwelgten bereits in den sanften Berührungen von Shilas kundigen Händen. Sie würde ihm widerspruchslos zu Willen sein und ihm dabei leidenschaftliche Begeisterung vorgaukeln. Der oberste Lehrmeister der Akademie zu Marin schätzte es, wenn jeder wusste, wo sein Platz war.

       * * *

       Sybilla Ternakis, Lehrmeisterin für Wandlung zu Marin

      Semira war seit einem Jahr an der Akademie und hatte sich als äußerst gelehrig erwiesen. Mit den offenen und zugleich harten Spielregeln der schwarzen Schule, kam sie überraschend gut zurecht. Sybillas Finger strichen über das polierte Holz ihres Schreibtischs, während sie rekapitulierte.

      Fenrik ya Turdon spannte Semira tatsächlich für seine privaten Geschäfte ein und das Mädchen erlag den Avancen des erfahrenen Charmeurs mit Haut und Haaren. Von Semira erfuhr Sybilla, wie schamlos er seine Gespielinnen ausnutzte. Im ersten halben Jahr verdiente er mit ihrer Begabung und ihrem Fleiß ein kleines Vermögen, während Semira ihn mit der ganzen Hingabe und Begeisterung einer liebenden Frau verwöhnte. Ihre Verbesserungen bei den Rezepturen gab er unverblümt als seine Ideen aus und sie nahm es hin.

      Dann wurde er ihrer überdrüssig. Sybilla ballte die Fäuste, als sie daran dachte. Wenn er es einfach beendet hätte, wie die viele Beziehungen vorher. Immer ausgefallener und abartiger wurden Fenriks Wünsche, und er forderte deren Erfüllung mit Nachdruck ein. Zuletzt schien es, als wollte er sie zerstören, als gönnte er das schöne Geschöpf niemand anderem, bis sich die junge Frau unter bitteren Tränen von ihm losriss und die kranke Beziehung beendete. An jenem Abend vertraute sie sich Sybilla an und weinte sich in ihren Armen in den Schlaf. Da beschloss sie, Semira eine echte Freundin zu sein.

       * * *

      Der melodische Ton des magischen Chronometers erinnerte Sybilla Ternakis an ihren Termin mit Tioman. Zeit, dachte sie mit einem Seitenblick auf das Artefakt. Wir können sie messen, zählen und einteilen? Aber könnten wir auch ihren Fluss verändern? Zärtlich strich sie über den Lederrücken des Kompendiums der magischen Zweige. Hier, so hoffte sie, fände sie endlich Hinweise auf die verschollene Akademie der Zeit in Ralland.

      Sybilla Ternakis rollte eine Haarsträhne durch ihre Finger, während sie das goldene Türschild zum zehnten Mal überflog. „Tioman Haranet ya Chernez, Oberster Lehrmeister“, stand da in fein ziselierten Lettern. Ungeduldig schaute sie zu der Schreiberin an dem Stehpult, aber die zuckte nur mit den Achseln.

      Endlich öffnete sich die gepolsterte Doppeltüre und ein gut gekleideter Bürger stapfte missmutig an ihr vorbei. Gerbald, der Amtmann, schoss es ihr durch den Kopf. Dann winkte sie Tioman in sein Arbeitszimmer und kam gleich zur Sache. „Mir scheint, der gute Fenrik ist zu weit gegangen. Du hast Gerbald gesehen. Der Magistrat hat ein Schreiben abgefangen, welches Fenrik ya Turdon belastet und ein schlechtes Licht auf die Akademie wirft. Man hat mir zur Untersuchung der Vorgänge eine Abschrift überlassen. Hier, lies selbst.“

      Er reichte ihr ein Pergament und sie überflog die Zeilen:

       Werter H, wie Ihr vermutet habt, ist Stadtmeister Rillings Amulett mit einem geheimen Schlüsselwort versehen. Es lautet „Tamal“. Wird es umgekehrt ausgesprochen, also „Lamat“, hebt das die Schutzwirkung auf, und es steht Euren Plänen nicht weiter im Wege. Ich rate Euch zu einer Kombination mehrerer schnell wirkender Substanzen, da der Magistrat über eine beachtliche Vielfalt an Gegengiften verfügt. Bitte hinterlegt das Gold an der bekannten Stelle. FyT

      „Ist das Fenriks Schrift?“ Sybilla machte keinerlei Hehl um ihre Skepsis. „Noch dümmer geht’s ja kaum.“

      „Das ist nur eine Abschrift. Das Original wurde mit einer Zauberfeder verfasst, daher lässt sich die Handschrift nicht auswerten. Fenrik hatte jedenfalls Möglichkeiten an das Amulett zu kommen, während es zur Kontrolle hier war. Ansonsten käme nur noch Magistra Ferdon in Frage. Und ich natürlich. Und Du vielleicht. Warst Du es?“

      Sybilla verzichtete auf eine Antwort und Tioman fuhr fort: „Der Empfänger H ist unbekannt. Der Brief wurde sichergestellt, aber die Botin, die ihn überbringen sollte, ist entkommen. Zuvor wurde sie in Fenriks Begleitung gesehen. Der Magistrat sieht seine Schuld als erwiesen an, kann aber nicht gegen einen Akademiemagier vorgehen. Unabhängig davon ist das Amulett jetzt wertlos, und Stadtmeister Rilling fordert Ersatz. Ich habe das zugesagt, um das Ansehen der Akademie nicht weiter zu schädigen. Es ist nur angemessen, wenn die Unkosten von Fenrik bestritten werden.“

      Die Magierin zählte Eins und Eins zusammen. Tiomans Interesse an einer Aufklärung war gering. Während sie noch grübelte, ob sie selbst den Intrigen zu wenig Aufmerksamkeit widmete, sprach er weiter: „Ich werde Fenrik nicht ausliefern. Es wäre ein schlechtes Signal, wenn ich meine Lehrkräfte nicht zu schützen wüsste. Im Gegenzug fordere ich von ihm eine Entschädigung für den Schaden am Ruf der Schule ein. Seine Einkünfte sollen in der letzten Zeit gut gewesen sein. Hältst Du eintausend Goldstücke für angemessen?“

      Sybilla nickte geistesabwesend. Scheint, als wäre Fenriks Rolle bei der Stadtregierung ausgespielt, überlegte sie. Und das Ansehen von Tioman Haranet ya Chernez steigt. Mit einem schiefen Lächeln zollte sie ihm Bewunderung, während sich ihr Mitleid mit dem selbstgefälligen Fenrik in Grenzen hielt.

       * * *

      Sybilla Ternakis blätterte in einem abgegriffenen Folianten. War ihr ein entscheidender Hinweis entgangen?

      Fünfzehn Jahre ihres Lebens hatte sie der Suche nach den Formeln der Zeit und dem Standort der verschollenen Grauen Akademie gewidmet, ohne einen entscheidenden Fortschritt zu erzielen. Irgendwann waren ihre Träume verblasst und sie hatte aufgegeben, doch Semira hatte ihre Begeisterung neu entfacht. Ihr wacher Verstand gab eingefahrenen Denkmustern mit einem einzigen Wort eine andere Wendung und ersetzte gesichert scheinenden Schlüssen durch neue Interpretationen.

      Semira stürmte herein. Die ungleichen Frauen begrüßten sich mit den im Norden üblichen Wangenküssen.