Schatten und Licht. Gerhard Kunit

Читать онлайн.
Название Schatten und Licht
Автор произведения Gerhard Kunit
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738021592



Скачать книгу

sackte zusammen. Die Erschöpfung trieb ihr die Tränen in die Augen. Nur allmählich begriff sie, was die Schulleiterin für sie getan hatte. So hatte sich noch nie jemand für sie eingesetzt.

      Das Alles war zu viel. Sie begann haltlos zu weinen. Ein unkontrolliertes Zittern durchlief sie und wollte nicht mehr aufhören.

       * * *

       Parin, Sohn des Fuhrmannes Haul

      Shingra, die mächtige graue Stute, spürte seine Unrast und scharrte nervös im Geschirr des klobigen Kastenwagens. Immer wieder fanden ihre gelben Zähne die Bissplatte des Zaums, nur um enttäuscht abzulassen, da sich das abgewetzte Metall als unüberwindbar darstellte. Der blond gelockte Junge prüfte den Sitz des Kummets bereits zum vierten Mal, doch seine Aufmerksamkeit galt dem fremdartigen Gebäudekomplex der magischen Akademie. Der weiß gekieste Weg zum Tor lag unberührt in der Morgensonne.

      Parin sah zum Wagen. Der kantige Aufbau mit den kleinen vergitterten Fenstern wirkte abweisend und das frische Grün im fürstlichen Wappen von Rand konnte den düsteren Eindruck kaum mildern. Gewöhnlich diente der Kasten der Überführung verurteilter Verbrecher in die Minen der Randberge.

      Um wen es heute ging, wusste der Fünfzehnjährige nicht, und es war ihm auch egal. Heute durfte er erstmals seinen Vater auf eine große Fahrt begleiten. Den Winter über war er seiner Mutter in den Ohren gelegen und schließlich hatte sie eingewilligt. Vier Tage sollte die Fahrt dauern und der Rückweg noch einmal so lange. Parin freute sich auf spannende Abenteuer, mit denen er vor den gleichaltrigen Burschen und Mädchen angeben könnte und auf die Hauptstadt. An den Winterabenden schwärmte sein Vater von den mächtigen Mauern, den Palästen und der alles überragenden kaiserlichen Residenz. Rand war eine richtige Stadt, aber wenn er den Erzählungen seines Vaters Glauben schenkte, war Hesgard ungleich größer und schöner.

      Am Tor tat sich Etwas. Parin erkannte die breite Gestalt seines Vaters. Die Anderen mussten zur Zauberschule gehören, Bedienstete vielleicht, aber mit ein wenig Glück bekäme er gleich einen echten Magier zu Gesicht. Tatsächlich trug der ältere Mann, der eindringlich auf seinen Vater einredete, einen aufwändig verzierten Stab. Obwohl das graue Reisegewand nicht dem vorherrschenden Bild eines Zauberers entsprach, konnte es sich nur um einen solchen handeln. Ein Mann und eine Frau führten eine schmächtigere Gestalt in ihrer Mitte, deren Gesicht Parin noch nicht erkennen konnte, doch als die Frau beiseite trat, machte sein Herz einen Sprung. Blondes Haar gleißte in der Sonne wie flüssiges Gold. Das Mädchen mochte in seinem Alter sein, aber sie war schöner als die Statue der ERU im Tempel. Eine ergebene Traurigkeit überschattete ihre Züge. Was mochte diesem wundervollen Geschöpf widerfahren sein? Die vollen Wimpern hoben sich und ihre Blicke trafen sich in einem einzigen, herrlichen Augenblick, während ihm ihr Schmerz wie ein kalter Dolch ins Herz fuhr.

      „Parin! Die Tür!“ Die Stimme seines Vaters klang ungeduldig. Mit zittrigen Fingern löste Parin die Riegel an der Rückseite des Wagens. Seine Augen suchten das schöne Mädchen, aber sie vermied den Blickkontakt. Erst jetzt bemerkte er die schwere Eisenkette, mit der ihre Hände hinter den Rücken gefesselt waren, und gab sich wilden Spekulationen über die unschuldig verfolgte Schönheit hin.

      „Parin!“ Hastig öffnete er den Verschlag. Er kannte den Wagen seit seiner Kindheit, aber erst jetzt wurde ihm die Unüberwindbarkeit der eisenbeschlagenen Konstruktion bewusst.

      Die Gefangene zögerte. Mit ihren gefesselten Armen bereitete ihr die schmale Trittstufe Probleme. „Rein mit Dir!“, blaffte der Magier. „Wenn Du Schwierigkeiten machst, kriegst Du noch mehr Ärger.“

      Parins Arme zuckten vor, um ihr zu helfen, doch der warnende Blick seines Vaters hielt ihn ab. Dennoch bemerkte die Fremde seine Geste. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie wagte den Schritt, taumelte und schlug mit dem Schienbein gegen den Wagenboden.

      „Können wir die Spielchen lassen, Semira?“ fragte der Magier, half ihr jetzt aber. Parin mochte den Mann nicht und in diesem Augenblick hasste er ihn. Teilnahmslos sah er zu, wie sein Vater die Türe schloss und die Riegel vorlegte. Der Zauberer brachte noch ein zusätzliches Vorhängeschloss an einer dafür vorgesehenen Öse an. „Verschluss“, murmelte er, während seine Hände über das Schloss strichen.

      Parin hatte schon Scharlatanen auf Jahrmärkten zugesehen, aber das hier war echte Magie. Die Handlung und das einzelne Wort waren enttäuschend unspektakulär, aber sein Körper reagierte. Schauer liefen über seinen Rücken und die Haare standen ihm zu Berge. Er sah sich verstohlen um. Sein Vater verfolgte das Geschehen mit der ihm eigenen Gelassenheit und die Bediensteten der Magierschule ließen keinerlei Regung erkennen. Die müssen daran gewohnt sein, aber mit Vater sollte ich das besprechen, überlegte er.

      „Da kommt keine Ratte mehr heraus“, sagte der Zauberer, so dass es das Mädchen hören musste. Dann wandte er sich an Haul: „Wir können losfahren.“

      Parins Vater half dem Magier, Magister Geron, auf den Kutschbock und kletterte hinterher. Der Fuhrmann schnalzte mit der Zunge und Shingra zog an.

       * * *

      Die Straße von Rand nach Hesgard führte durch das Lange Feld, eine unmerklich ansteigende Ebene, die sich, soweit das Auge reichte, nach Osten erstreckte. Linkerhand lagen die Kuppen der Randberge, die allmählich in die sanfteren Hügel der Chantas übergingen, eine von Weinbergen und Olivenplantagen geprägte Landschaft, in der die Zeit still zu stehen schien. An einem klaren Morgen wie diesem schimmerten im Süden die weißen Gipfel des baelischen Kammes, die sich kaum von den vereinzelten Wolkentürmen abhoben. Noch spürte Parin die morgendliche Kühle durch seine Fuhrmannsjacke, aber der blaue Himmel und die an Kraft gewinnende Sonne versprachen einen herrlichen Frühlingstag. Der Junge sog die Luft ein und genoss den Geruch der Freiheit.

       * * *

      Ein Holpern riss Parin aus seinem Dösen. Die Sonne stand hoch im Norden und brannte auf die Reisenden herab. Die klare Luft war einem dichten Dunst gewichen und selbst die nahen Randberge waren kaum noch zu erahnen. Obwohl der Junge die Jacke längst abgelegt hatte, setzte ihm die Hitze zu, und sein Wasserschlauch verlor schon deutlich an Gewicht. Parin wollte ein Gespräch beginnen, aber Geron erwies sich als äußerst schweigsam und die Antworten seines Vaters blieben einsilbig.

      Hin und wieder begegnete ihnen ein Fuhrwerk, aber nur einmal hielten sie an und tauschten Informationen über den Zustand der Straßen aus. Letztlich bedeuteten die spärlichen Begegnungen auf der trockenen Piste, die nächste Meile in einer Staubwolke zu fahren, die sich beklemmend auf die Kehle legte. Ein unterdrücktes Husten aus dem Wagen erinnerte ihn an das Mädchen, und er dachte an die Hitze, die in dem Kasten herrschen musste.

      „Sie wird Wasser brauchen“, bemerkte er krächzend. Der Magier zuckte nicht einmal mit einer Wimper, aber sein Vater wies auf ein abseits stehendes Gehöft: „Von hier ist es noch eine gute Stunde zur Wegstation. Dort können wir essen und Shingra braucht auch eine Pause. Sobald Du die Stute versorgt hast, kannst Du dem Mädchen Wasser bringen.“

      „Und danach kannst Du Deinen Jungen gleich begraben“, ätzte der Magister. „Erstens kann sie zaubern, zweitens ist sie gefährlich und drittens sind schon Andere auf ihr unschuldiges Gehabe hereingefallen.“ Parin erschauerte unter seinem Blick.

       * * *

      Die Wegstation bestand aus neuen, großzügig angelegten Gebäuden mit einer Einfriedung für die Zugtiere. Auf Gerons Geheiß stellten sie den Wagen ein wenig abseits, unter mächtigen Kastanienbäumen, ab. Haul legte ihm den Arm auf die Schulter. „Junge, Du bleibst hier. Spann aus. Keiner nähert sich dem Wagen auf weniger als zehn Schritt, verstehst Du?“

      Parin nickte verdrossen. Falls es etwas Spannendes zu hören oder gar zu erleben gab, dann im Speiseraum der großen Herberge, der nach der Anzahl der Wagen, Pferde, Eseln und Ochsen, gut besucht war.

      „Ich bring Dir Dein Essen später heraus“, ergänzte der Fuhrmann.

      „Bleib vom Wagen weg“, schärfte ihm der Magier ein. „Lass dich ja auf kein Gespräch ein und öffne keinesfalls die Tür!“