Sünden von einst. Elisa Scheer

Читать онлайн.
Название Sünden von einst
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562799



Скачать книгу

den Spitzengardinen von Großmutter Rose gebrütet, über die Undankbarkeit seiner Kinder, den Tod seines Sohnes, die Härte des Schicksals? Ich wusste eigentlich gar nichts über ihn.

      Peinlich.

      Nein, er hatte ja nie etwas von sich preisgegeben, und wenn man mal fragte, wurde man angefahren. Also fragte man eben nicht mehr. Ich wusste ja nicht einmal, woran unser Bruder Andi gestorben war. Vage erinnerte ich mich an einen quäkenden Säugling und dann an nichts mehr. Er musste also schon als Baby gestorben sein, da war ich... vier? fünf? gewesen. Nein, fünf nicht, dann wüsste ich wohl noch mehr davon. Vier, höchstens. Oder dreieinhalb. Ja, dreieinhalb. Davor wusste ich gar nichts mehr.

      Vielleicht sollte ich mir mal notieren, welche Fakten mir überhaupt präsent waren! Also: Vater, Mutter, drei Kinder, eins davon gestorben, keine Ahnung, wann genau und woran (1977, 1978?). Hieß Andi.

      Mutter gestorben oder verschwunden, als ich neuneinhalb war. Vor zwanzig Jahren, also 1984. Im Sommer. Kein Grab auffindbar. Das sollte die Polizei aber rauskriegen können! Schwester Nathalie gut bekannt, studiert Mathematik und Wirtschaft für Lehramt, wohnt in einer WG hinter der Uni, zweiundzwanzig, nett und vernünftig. Abgehakt.

      Vater Besitzer eines mittelständischen Unternehmens, bis 2000/2001 (das genaue Datum sollte ich noch rauskriegen können), dann Verkauf und Rückzug in den Ruhestand. Alleineigentümer? Gesellschafter? Was war das überhaupt gewesen? KG, AG, GmbH? Auch nachsehen! Probleme beim Verkauf?

      Beschäftigung im Ruhestand: Gartenbau und Töchter nerven. Hatte er uns eigentlich gehasst oder konnte er mit Kindern/Frauen nur nichts anfangen? War die Ehe mit unserer Mutter gut gewesen? Hatte er Freunde gehabt? Andere Interessen? Sich für irgendwas eingesetzt? Ob Frau Zittel davon etwas wusste? Aber auch das musste die Polizei machen, uns beiden würde sie nicht mal die Uhrzeit verraten.

      Hatten wir noch andere Verwandte? Hatten unsere Eltern Geschwister gehabt? Ich wusste ja wirklich gar nichts! Vielleicht fand sich ja in der Villa oder beim Anwalt so was wie ein Familienstammbuch? Nathalie würde es brauchen, wenn sie sich zum Staatsexamen anmeldete.

      Ich hätte beinahe ein Waisenkind sein können, so wenig wusste ich über meine Familie. Warum hatte Vater mir – uns – das alles verschwiegen? Desinteresse? Hass? Gehörten wir für ihn nicht dazu? Hatte er irgendeine soziale Störung gehabt? Ja, vielleicht hatte er einfach eine Macke gehabt... Trotzdem wollte sich bei mir keine versöhnlichere Stimmung einstellen: Ein erwachsener Mensch konnte so was doch nicht an zwei kleinen Mädchen auslassen!

      Genug gegrübelt, beschloss ich, als mein Essen kam, und griff gierig zur Gabel. Sehr lecker, hier sollte ich öfter essen gehen! Ich schaffte den Salat und die Hälfte der Spaghetti, dann konnte ich plötzlich nicht mehr. Mir war geradezu übel – Salmonellen oder der Gedanke an der Mord? Keine Salmonellen, schließlich hatte ich weder Eier noch Huhn gegessen. Komisch, ich hatte nicht gewusst, dass ich so empfindlich war. Etwas gereizt zahlte ich, stand auf und sah mich recht unentschlossen um. Vielleicht sollte ich eine Runde spazieren gehen, um das Essen wieder abzutrainieren... Genau, es war sicher bloß zu fett gewesen! Sonst aß ich schließlich nicht so viel Öl und Käse. Oder war das doch ein Anfall von Pietät? Ich doch nicht.

      Um den Fuggerplatz herum gab es genügend Laden für einen kleinen Schaufensterbummel. Vielleicht hatten sie ja schon erste Herbstklamotten dekoriert und ich konnte sehen, ob ich irgendetwas dringend brauchte, um im Herbst nicht völlig daneben auszusehen. Wahrscheinlich versuchten sie es bloß wieder mal mit Schokoladenbraun – aber ablenken würde es mich auf jeden Fall. Heimfahren konnte ich immer noch.

      Mein Handy blieb stumm – keine Mitteilung, kein Anruf, den ich überhört hatte. Ich steckte es wieder in meine Umhängetasche; dann schritt ich munter aus. Auf einen Papierkorb sollte ich achten, um diesen Camargue-Kram loszuwerden!

      Grässliche Klamotten, stellte ich schon nach wenigen Minuten fest. Außerdem war es in den baumlosen Altstadtgassen fürchterlich heiß, wenigstens auf der Straßenseite mit den jeweils besseren Geschäften. Auf der Schattenseite, wo die Luft zwar muffig, aber erträglicher war, fanden sich Vinotheken, Sportgeschäfte, ein ziemlich spießiger Wollladen, ein paar leere, staubige Schaufenster mit neonfarbenen Aufklebern eines Immobilienmaklers (jaja, die Wirtschaftskrise) und einige zweifelhafte Kneipen, aus denen es nach Zigarettenrauch und altem Fett roch.

      Ich verzog mich schließlich in die Avenariusgasse, in der sich gerade ein üppiger Stau bildete, weil jemand versuchte, einen ziemlich großen BMW in eine ziemlich kleine Parklücke zu quetschen. Ich warf einen mitleidigen Blick auf das peinlich schräg stehende Auto und erstarrte: 3333 – war das nicht der Typ, der mir aus Vaters Haus entgegengestürzt war?

      Sollte ich jetzt an die Scheibe klopfen und fragen Entschuldigung, aber haben Sie zufällig meinen Vater erschossen? Keine gute Idee, fand ich und verzog mich in einen Hauseingang, um abzuwarten und nachzudenken.

      Schließlich stand der Wagen einigermaßen gerade in der Lücke, Stoßstange an Stoßstange, und das Hupkonzert ebbte ab. Ein Mann stieg aus, sah sich flüchtig um (er war´s, eindeutig!), fischte einen Aktenkoffer vom Rücksitz, ließ die Zentralverriegelung piepen und verschwand in dem Haus, neben dem ich auf der Lauer lag.

      Was nun?

      Ich betrachtete mir das Haus: klassizistische Fassade, aber innen nagelneu, man sah es durch die Glastür. Morberg, Steuerkanzlei und Wirtschaftsprüfer.

      Hm.

      Von Morberg hatte ich natürlich schon gehört, dort ließ die Leisenberger feine Gesellschaft ihre Steuererklärungen machen. Ich machte sie lieber selbst, das war billiger und ging schneller. Arbeitete er etwa dort?

      Das ließ sich ja rauskriegen - ich sah unentschlossen in meine Tasche und fand den Camargue-Umschlag: sehr gut! Entschlossen drückte ich die Glastür auf und wandte mich an das Mädchen hinter dem Empfangstisch: „Entschuldigung, hier ist gerade jemand reingegangen, groß, dunkelhaarig, mit Aktenkoffer...“

      „Ja?“

      Ganz schön misstrauisch, die Kleine!

      „Ihm ist draußen was runtergefallen, der Umschlag hier. Ich weiß ja nicht, vielleicht ist das wichtig...“ Ich versuchte, harmlos und diensteifrig zu gucken, und anscheinend funktionierte es: Sie seufzte. „Typisch Sternberger! Ich werd´s ihm raufschicken lassen. Vielen Dank!“

      „Keine Ursache“, antwortete ich bescheiden und machte, dass ich nach draußen kam. Sternberger also. Wenn sie ihn nicht verwechselt hatte, hieß das. Sternberger. Das sagte mir leider gar nichts, aber es war doch immerhin ein Anfang.

      Anfang wofür? Das konnte ich mir später überlegen. Sternberger... und er arbeitete bei Morberg. Also ein Betriebswirt wie ich, wenn auch sicher mit anderen Schwerpunkten; Steuerrecht und Betriebsprüfungen hatten mich noch nie vorrangig interessiert.

      Irgendwie kam mir der Name bekannt vor. Vielleicht lag´s ja bloß daran, dass ich ihn in den letzten zwei Minuten so oft vor mich hingemurmelt hatte, aber vielleicht kannte ich ihn ja wirklich? Wie wär´s, wenn ich heimginge und mal ein bisschen im Internet herumsurfte? Vielleicht kriegte ich ja doch noch was heraus.

      Was sollte ich eigentlich machen, wenn ich über diesen Sternberger etwas fand, meinetwegen etwas Verdächtiges? Ihn an Kerner und Grünbauer weiterreichen oder ihn mir selbst vornehmen? Weiterreichen war ein bisschen blöd – ach übrigens, ich hab da doch was gesehen... Dafür war´s jetzt wohl ein klein wenig zu spät.

      Und selbst vornehmen... Was haben sie eigentlich am Freitag bei meinem Vater gewollt? Dann zog er mir vielleicht auch noch eins über! Oder ihn einfach kennen lernen (er war wirklich ein hübscher Kerl) und ihn dann diskret aushorchen? Das klang nach einem guten Plan, aber ich hatte im Leben noch niemanden ausgehorcht, diskret oder indiskret, ich wusste gar nicht, ob ich das konnte. Wohl eher nicht, durch übermäßige Raffinesse hatte ich mich noch nie ausgezeichnet. Mist! Da fand man mal was raus und dann steckte man in der gleichen Sackgasse wie vorher fest.

      Am besten weiterschnüffeln und dann weiterplanen - vielleicht passierte ja etwas, was mich aus diesem Dilemma befreite?

      Конец