Tote Gäste. Elisa Scheer

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Название Tote Gäste
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562577



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kommentierte Carla gelassen, „aber du kommst mir gerade recht. Nix, hier geblieben, Kati, halt ihn fest!“

      Ich packte Stefan am Kragen. Er sollte ruhig auch irgendwas Peinliches machen! Brautjungfer, also wirklich! Stefan guckte ängstlich, als ich ihn auf einen Sessel drückte, auf dem zufällig keine Stoffproben und keine aufgeschlagenen Zeitschriften lagen.

      „Du machst den Platzanweiser. Du und ein Freund von Paul, vom Studium.“

      Stefan verdrehte die Augen. „Platzanweiser? Ich wusste gar nicht, dass du im Kino heiraten willst.“ Carla grinste.

      „Du stehst an der Kapellentür, ein Sträußchen im Aufschlag, und murmelst immerzu „Familie der Braut links, Familie des Bräutigams rechts“, erklärte ich ihn. „Du musst dir offenbar den Film noch ein paar Mal reinziehen.“

      „Verschon mich, ich finde, Hugh Grant ist ein Brechmittel. Also von mir aus. Krieg ich auch eine Taschenlampe wie im Kino?“ Ich versprach es ihm – blumengeschmückt natürlich.

      Zurück zu den Akten! Ich schaffte mit knapper Not eine, dann fiel mir ein, dass ich auch noch einen Fummel für den Polterabend brauchte. Und was für zwischendurch. Am besten sollte ich eine Liste anlegen. Ordnung und Methode als Gegenmittel gegen die Hysterie in meiner Umgebung.

      Also – Anreise am Donnerstag: Jeans, T-Shirt, Jacke, falls Regen. Normale Schuhe, Loafers oder so. Donnerstagabend: Polterabend: Fummel 1 (hatte ich auch noch nicht, Mist!) und all mein altes Geschirr – ich hatte da eine ganze Menge übrig. Dazu passende Pumps, aber noch kein Hut.

      Freitag – Freitag: was war da denn eigentlich geplant? Also sicherheitshalber etwas Lässiges (Casuals 2) und etwas Offizielles (Fummel 2). Und was für abends (Fummel 3).

      Samstag – standesamtliche Trauung: offizielles Kostüm, Hut, andere Pumps, anständige Strümpfe. Fummel 4. Danach Hochzeitsfrühstück, den Rest des Tages frei. Casuals 3 also. Das wuchs sich ja langsam zu einem Schrankkoffer aus! Gut, dass ich Platz in meinem Auto und zwei Kleidersäcke hatte. Trotzdem – was für ein Aufwand!

      Die kirchliche Trauung war erst am Sonntagmittag. Also für Sonntag dann das Brautjungferngewand (apricot, wie entsetzlich!) mit passenden Pumps und Hut. Schleppte das eigentlich Carla an oder musste ich mich selbst drum kümmern?

      Und wieso musste ich mir tatsächlich zwei blöde Hüte zulegen? Und jede Menge Schuhe, die ich nie wieder tragen würde? Für apricotfarbene Seidenpumps konnte ich mir jedenfalls keinen Verwendungszweck vorstellen.

      Außerdem mindestens ein Nachthemd, einen Morgenmantel, Kosmetika satt inklusive Schminkkrempel, Parfüm, mindestens zwei anständige Krimis für tote Momente und mein Hochzeitsgeschenk. Carla hatte sich von mir einen richtig luxuriösen Picknickkoffer samt Decke gewünscht. Das „luxuriös“ hatte sie so betont, dass sogar ich verstand, dass ein Sonderangebot aus dem Baumarkt (die gab´s schon ab 19.95 €) nicht gefragt war. Ich hatte aber einen sehr schönen Koffer gefunden, sogar in dem teuren Schuppen, in dem Carla und Paul ihre Hochzeitslisten ausgelegt hatten: Echtes Porzellan, echtes Kristall, echtes Silber (naja, fast) – und eine richtige gummierte Wolldecke in dezentem Schottenmuster. Alles very british. Ob man die Macher von Vier Hochzeiten eigentlich auf Schmerzensgeld verklagen konnte? Das Ding hatte fast zweihundert Euro gekostet!

      Dann brauchte ich also insgesamt... mindestens vier, besser fünf gute Outfits und auf jeden Fall drei normale, außerdem –

      „Frau Engelmann, denken Sie an das Meeting um drei?“

      Scheiße, und ich hatte erst eine Akte durch! „Ja doch, ich komme gleich“, rief ich meiner Sekretärin durch die offene Tür zu und warf einen hastigen Blick auf die Uhr. Zwanzig vor, verdammt.

      Schnell sah ich die zweite Akte durch, notierte mir ein paar fragliche Punkte, kramte meine Liste von diversen Problemen heraus, die ich ansprechen wollte, und packte alles zusammen. Der Schreibtisch war immer noch proppenvoll, und das alles nur wegen dieser Hochzeit!

      Im Sitzungszimmer war ich immerhin die erste, die Sekretärin des Personalchefs (ich war ja bloß die Stellvertretung) verteilte noch diese affigen kleinen blauen Mineralwasserfläschchen und dazu passende Flaschenöffner. Ich setzte mich auf meinen üblichen Platz, holte meine Unterlagen aus der Mappe und nutzte die geschenkten Minuten, um noch schnell etwas durch die Bewerbungen zu blättern, fand aber nichts, was einer Einstellung im Wege gestanden hätte. Auch gut. Natürlich, wenn sich die beiden als Alkoholiker, Querulanten oder Arbeitsscheue entpuppten, würde Schmitt mir den Kopf abreißen – aber die kamen beide frisch von der FH und hatten glänzende Zeugnisse, Praktikumsbescheinigungen, Diplomarbeiten und sonstige Gutachten. Und deutlich unter dreißig waren sie auch alle beide. Plus Auslandserfahrung (naja, ein Semester, aber was erwartete man eigentlich noch alles von frisch diplomierten Ingenieuren?) – ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich da was übersehen hatte. Und die Unterlagen über das neue Fortbildungsprogramm hatte ich auch fertig.

      Schmitt kam herein und brummte mir einen Gruß zu; ihm folgten die Leiter der Fertigungsabteilungen I und II und der Chef der Rechtsabteilung. Wir nickten uns kurz zu, während sie Platz nahmen und schon die ersten blauen Fläschchen knackten.

      Die nächsten zwei Stunden vergingen mit dem üblichen Tauziehen um Maßnahmen, die um der Effektivität des Betriebs willen notwendig, juristisch aber nicht haltbar waren, juristisch notwendig, aber für die Produktion katastrophal oder beides zugleich, wenn das überhaupt möglich war. Schmitt schien mir heute etwas zu schwächeln, also zankte ich mich fast alleine herum, vor allem mit Klausdieter Mönsche, dem Chef von Fertigung I, und Nicholas Rosen von der Rechtsabteilung. Wenn er noch einmal sagte: „Ich fürchte, der Gesetzgeber sieht das etwas anders“, dann würde ich ihm seine Arbeitsrechtssammlung an den Kopf werfen!

      Oder ihn küssen.

      Warum ich mich schon bei unserer ersten Begegnung vor einem halben Jahr Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, wusste ich auch nicht – mit objektiven Kriterien war das nicht zu erklären. Er war weder besonders schön noch besonders nett. Nett schon gar nicht.

      Es hatte schon schlecht begonnen, ich hatte ihm lächelnd die Hand gereicht und dann erst gemerkt, dass er mir die Linke entgegenstreckte. Damals hatte ich geglaubt, er sei eben ein entschiedener Linkshänder, und eine entsprechende heitere Bemerkung gemacht. Dass sein rechter Arm praktisch gelähmt war, konnte ich ja schließlich nicht wissen! Leute, die erwarteten, dass man über ihre Behinderungen schon Bescheid wusste, bevor man sie auch nur kennen gelernt hatte, ärgerten mich. Wieso war er so verkniffen und empfindlich? Das Steingesicht, mit dem er meine Entschuldigung – zugegeben, etwas halbherzig war sie schon, weil ich meinen faux pas nicht so tragisch fand – entgegennahm, war wirklich übertrieben.

      Jeder meiner späteren Versuche, mit heiteren Bemerkungen ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, misslang, bis ich mir schließlich wie ein albernes Plappermaul vorkam und in seiner Gegenwart hinfort mürrisch und streng sachlich auftrat. Daraufhin zog er auch wieder ein Gesicht, aber ich wollte ihn auch nicht fragen, ob er meine Pausenclown-Vorstellungen etwa vermisste. Nein, nett war er nicht. Er verfügte in reichem Maße über das absolute Gegenteil von Charme, und so schön, dass er sich das leisten konnte, war er weiß Gott nicht. Okay, das harte Gesicht war gut. Und groß war er – aber das war ich selbst. Dünn war er, aber ob das an einem Mann gut aussah, stand schließlich auch noch nicht fest. Grauhaarig, obwohl er noch keine vierzig war, grauäugig – und grauherzig. Das auf jeden Fall. Er konnte nur den linken Arm benutzen und hinkte etwas, aber woher das kam, wusste ich nicht. Alles stand eben auch nicht in den Personalakten, die außerdem eigentlich unter Verschluss waren, soweit es die Führungsebene betraf.

      Er hatte vorher in einer Kanzlei und bei einer anderen Firma gearbeitet, bevor er zu TechCo gekommen war. Der Aufsichtsrat hatte ihn wohl wegen seiner juristischen Kenntnisse genommen, nicht wegen irgendwelcher sozialen Kompetenzen, denn die hatte er ja gar nicht. Trotzdem träumte ich von ihm. Davon, dass dieses Gesicht einmal weich würde, vor Amüsement, Rührung oder Begierde, davon, seinen linken Arm um mich zu spüren, davon, dass er mir erzählte, warum er so verbiestert war.

      Das einzige, was ich noch nicht gemacht hatte, war, Katharina