Tonstörungen. Wilhelm Koch-Bode

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Название Tonstörungen
Автор произведения Wilhelm Koch-Bode
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742705402



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der Fingerspitze über den Deckel. Ganz zart. Legt die Dose in die Schublade. Nickt zufrieden. Schrilles Klingeln vom Flur. Für den Rest des Schultages sitzt der Schmierfleck auf Rudis Stirn, darüber die verblassende Kratzspur.

      Immer wieder schossen ihm Bilder durch den Kopf: Die Mutter - von Husten geschüttelt, nach Luft schnappend. Das Schlimmste war, ihr nicht helfen zu können, in der Schule festzusitzen. Dass die Luftnot sie nur außerhalb der Wohnung überkam, war ihm nicht klar. Manchmal stahl er sich in der Pause vom Schulhof. Lief einfach nach Hause. Setzte sich herzklopfend über die Ordnung hinweg. Ließ den Tornister stehen. Musste dringend nachsehen, ob es der Mutter gutging. Nachmittags holte sie dann mit ihm die Schulsachen ab. Kein Mensch hatte ihn vermisst.

      Einmal kam die Hartmann zu den Schuberts nach Hause, setzte sich breit auf einen Stuhl, guckte irgendwie wichtig, fingerte in ihrer Henkeltasche, zog ein Schulheft heraus und legte es geöffnet auf den Esstisch. Rudis Diktate, alles über und über rot, zwanzig oder mehr Fehler angestrichen. Frau Schubert seufzte, nahm diese Offenbarung aber nicht besonders tragisch: „Nun ja, Fräulein Hartmann, Rudi hat doch gerade genug zu tun mit dem Wechsel von links nach rechts … beim Schreiben. Ich versteh‘ ja, dass er sich umgewöhnen soll. Was muss, dass muss. Aber muss ein Linkshänder damit denn nicht erst einmal zurechtkommen? Das mit den Fehlern … ach, das gibt sich doch.“ „Oh nein, Frau Schubert, seine Umerziehung, bei der Rudi sich übrigens unglaublich linkisch anstellt, hat damit rein gar nichts zu tun, wirklich nicht. Aber Kinder, die mit links zu schreiben anfangen, sind von vornherein weniger intelligent, müssen Sie wissen. Das ist nämlich erwiesen, tatsächlich. Im Rechnen, sehen Sie, ist er ja auch schwer von Begriff, allerdings. Viel zu langsam, muss man sagen. Wie sich zeigt, ist Rudi leider ein schwacher Lerner, ja. Wenn er nicht bald Lesen und Schreiben lernt und sich mit Zahlen weiterhin so schwertut, muss er auf die Hilfsschule, wirklich.“

      Herr Schubert sitzt mit versteinerter Miene. Nimmt das Heft auf, wirft einen Blick hinein, klappt es zu, reicht es der Hartmann. Richtet sich im Stuhl auf, kerzengerade der Rücken, der Blick kalt auf die Besucherin gerichtet, schneidend die Stimme: „Wie bitte, Fräulein Hartmann? Lernschwach? Hilfsschule? Rudolf? Ein Schubert? Ach was - völlig undenkbar! Kommt nicht in Betracht! Schwer von Kapee, wie Sie meinen? Ach was - eher abwartend, vielleicht etwas sperrig. Von fehlender Intelligenz kann ja wohl nicht die Reden sein, nur weil er sich ein bisschen bedeckt gibt und nicht bereit ist, alles an sich heranzulassen. Das kann - für sich genommen - eine kluge Strategie sein, die ihm, wie sich zeigt, leider nicht bei dieser Art von Beschulung dient. Da fehlen jetzt ein paar offensive Ansätze, wissen Sie.“ Und dann - freundlicher: „Also, ich nehme die Sache nun selber in die Hand … werde mir ein passendes strategisches Konzept einfallen lassen … werde geeignete Maßnahmen ergreifen. Sowas kann keine große Sache sein, nein, wirklich nicht. Verbindlichsten Dank für die Meldung, Fräulein Hartmann.“

      Schon am nächsten Tag stand der Plan, nach dem Rudi ab sofort unterwiesen wurde: Zügigen Schrittes eilte Herr Schubert mit ihm durch Eimsbüttel und ließ ihn dabei alles, buchstäblich alles entziffern, was am Wege lag - Firmennamen, Straßenschilder, Praxisschilder, Werbung in Schaufenstern, Aushänge im Kino, Texte auf Plakaten, an Litfaßsäulen, Beschriftungen an Fahrzeugen. Wenn zwischendurch länger keine größeren Schriftzüge zu sehen war, mussten es auch schon mal die Namen auf Briefkästen oder Klingelschildern in Hauseingängen sein. Rudi schlug vor, sich auch die zahlreichen Kritzeleien und Schmierereien an Hauswänden vorzunehmen, doch Schubert winkte ab: „Schwachsinniges Zeug.“ Jeden späten Nachmittag, wenn er von der Oberpostdirektion, Rudi vom Wasserspringen oder Turnen zurück war, ging die Tour los. „Unser Erkundungstrupp macht sich jetzt auf ins Gelände“, sagte der Vater gern. „Rudi, du bist der Späher“, hatte er ihn eingewiesen, „der alle Wörter mit scharfem Blick einfangen muss. Keins darf dir entwischen, klar? Und dann - dann lässt du sie durch die Lippen wieder frei, klar?“

      Zu Beginn der Schulung war der Junge quasi noch wie ein Stück trockenen Torfes - Torfkopf, das sagte die Hartmann manchmal zu ihm -, auf den die Buchstaben wie Regentropfen niedergingen, einsickerten und tief unten die schlummernden Keime nässten. Dann stießen die ersten Triebe ans Licht, - grazile, aber zähe Birken als Pioniere vorweg - nahmen ihre Gestalt an wie fertige Wörter. Zuerst unterschied Rudi nur Buchstaben, erkannte dann Aneinanderreihungen, die Sinn ergaben, war damit schon beim Wort und flugs beim Satz. Alle fünfzehn Minuten machte Herr Schubert halt und hielt Rudi ein Klemmbrett hin, auf dem er die erspähten Schriftgebilde notieren musste. Nach exakt neunzig Minuten beendete er den Fußmarsch. Zuhause gab es zum Abschluss noch ein Diktat mit dem neuen Vokabular. Diese Streifzüge machten Rudi richtig Spaß. Eine spannende Suche war das, genauso schön wie Pilze sammeln mit dem Opa. Oft durfte er sich am Kiosk eine Kleinigkeit aussuchen. Natürlich nicht, ohne vom Nappo, Brausepulver oder Kaugummi die Aufdrucke auf der Verpackung entziffert zu haben. Frau Schubert ging jede Woche mit ihm in eine Buchhandlung, wo er sich immer ein Bilderbuch mit Text aussuchen durfte. Das las er ihr dann vor - sich langsam von Bild zu Bild und von Seite zu Seite vorwagend.

      Als Fazit lässt sich feststellen, dass Rudi den Lehrgang erfolgreich bestand; nach wenigen Wochen war er im Lesen und Schreiben tadellos firm. Mühelos konnte er im Vorbeigehen auch die Wandschmierereien, das schwachsinnige Zeug, entziffern, verkniff sich aber, den Vater nach der Bedeutung des einen oder anderen Wortes zu fragen. Inzwischen hatte er die Eigenart entwickelt, sich jeden Text, der ihm unter die Augen kam, vorzunehmen: DIE WELT, die täglich ins Haus kam, las er von der ersten bis zur letzten Seite, ebenso Mutters Constanze und Vaters Spiegel.

      Das arithmetische Denken ließ sich zwar nicht ganz so zügig ankurbeln wie das ABC, aber auch dafür fand Herr Schubert den passenden Hebel. Er kaufte tausend Reißzwecken und eine Korktafel, 120 x 90 cm, die er in Rudis Zimmer an die Wand nagelte. Darauf wurden Aufgaben nachgesteckt, sodass Rudi sehen konnte, was beim Rechnen passiert. Dazu gab es ein Vierteljahr lang jeden Abend, nachdem er ins Bett gegangen war, Kopfrechnen. Und so wurde er bald kaum noch, später gar nicht mehr Schwarzer Peter.

      Einführungskurs

      Im Sportunterricht rief Rudis Gewandtheit Erstaunen hervor. Bei scheuen Kindern rechnet zunächst einmal niemand mit sonderlich ausgeprägten Fähigkeiten in einem Metier, bei dem der Körper so im Blickpunkt steht. Einerseits kam er so gehemmt im Habitus daher, wartete aber andererseits mit ungeahnten Bravourleistungen an Turngeräten, heftigem Speed auf der Aschenbahn und im Schwimmbecken auf. Und das bedeutete ja, dass er sowas wie Leiblichkeit zum Ausdruck brachte, vehement sogar - also nicht jemand war, der wirkte, als ob er sich ständig wegen irgendwas geniert. Irgendwie passt das bei dem nicht ins Licht, mochten manche denken.

      Aber Herr Schubert, für den außer Frage stand, dass ein männliches Wesen sich frühzeitig und ausgiebig um seine Körperertüchtigung zu bemühen habe, hatte Rudi mit vier zum Turnen, mit fünf zum Schwimmen und mit neun zum Kunstspringen geschickt. Zum Sport ging der Junge regelmäßig, allerdings nicht mit großer Begeisterung; ihm fehlte das wirklich Ehrgeizige und Kämpferische. Turniere machte er - ohne zu murren - mit, weil Herr Schubert und die Trainer das erwarteten, aber das enge Zusammensein, das Gewimmel in Umkleidekabinen und auf Sportplätzen war ihm zuwider. Im Schulsport bedeutete das, was er konnte, allerdings reines Gold. Durchtrainierter, beweglicher, schneller und - wenn es drauf ankam - auch schlagkräftiger als alle anderen, wagte niemand, sich mit ihm anzulegen. So jemand, mag er sonst auch komisch verklemmt sein, bleibt unbehelligt. Jedenfalls hüteten sich streitlustige Mitschüler davor, ausgerechnet Rudi ins Fadenkreuz zu nehmen.

      Sein Umgang mit Stift, Pinsel und Tusche ging tatsächlich weit über das hinaus, was aus unterrichtlichem Geschehen resultiert. Das lag an seinem Großvater. Die Ferien verbrachte der Junge oft im Alten Land und weil die Nähmaschine meist still blieb, hatte der Opa Zeit genug, seinen Enkel in künstlerischem Allerlei zu unterweisen. Selber dilettierte er etwas mit Öl und hortete jede Menge Materialien - Zeichenkohle, Rötelstifte, schwarze Tusche, Öl-, Gouache- und Aquarellfarben. Wenn er gut gelaunt war, übte er mit Rudi Kalligraphie mit Stahlfeder und Pinsel, brachte ihm perspektivisches und räumliches Zeichnen bei, zeigte ihm Maltechniken, blätterte mit ihm Bildbände durch und erzählte über Epochen und Stilrichtungen der Kunst. „Guck mal, hier: ein griechischer Tempel. Er ist in drei Teile gegliedert: