Название | Sonne am Westufer |
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Автор произведения | Fabian Holting |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847631798 |
Jetzt hatte er Nicole Hengartner also näher kennengelernt. Er hatte etwas aus ihrem Leben erfahren und fragte sich, ob es den Vorstellungen entsprach, die er sich von ihr gemacht hatte, als sie nichts weiter als seine Nachbarin war. Er hatte sie als eine zwar unnahbare, aber sehr attraktive Frau wahrgenommen. Aber gerade diese Unnahbarkeit weckte sein Interesse um so mehr. Bisher hatte sie auf ihn gewirkt, wie eine Frau, die hart mit sich selbst und anderen war und ihre Ziele mit einer gleichbleibenden Ausdauer verfolgte. Natürlich war er davon ausgegangen, dass sie einem interessanten Beruf nachging. Er hatte sie sich als Rechtsanwältin gut vorstellen können. Vielleicht auch als Wirtschaftsprüferin in einer großen Sozietät. Wie sehr der äußere Anschein doch täuschen konnte. Er hatte in Nicole Hengartner eine Frau gesehen, die sie gar nicht war. Sicherlich hatte sie etwas, dass man wohl als introvertiert bezeichnen musste. Aber sie war keine Frau, die einer Berufung bis zur inneren Erschöpfung nachging und andere dabei ins Verderben zog. Ihre Unnahbarkeit schien ein Mittel zu sein, mit dem sie ihre Mitmenschen gelegentlich strafen wollte. Vielleicht weil sie sich minderwertig vorkam. Sie hatte nicht das aus ihrem Leben gemacht, was sie sich einmal erhofft hatte. Sie wollte Innenarchitektin werden und brach ihr Studium wegen ihres Mannes ab. Sie wollte Kinder haben, doch ihr Mann war nicht in der Lage, welche zu zeugen. Schließlich wollte sie ein Kind adoptieren, aber ihr Mann war hierzu nicht bereit. Eigentlich hatte sie allen Grund, ihn dafür zu hassen. Sie hätte sich dagegen zur Wehr setzen müssen, doch sie ließ es bleiben. Wie musste sie sich bloß als Fockaffe gefühlt haben, wenn sie mit ihm segeln war? Doch ihr Mann verstand es, sie bei Laune zu halten. Er kaufte das Haus am Lago Maggiore, dass sie nach ihren Vorstellungen und Wünschen einrichten durfte. Irgendwann hatte sie ihren Mann durchschaut und fasste den Entschluss, sich von ihm zu trennen. Sie wird sich gefragt haben, warum sie es ihm so leicht gemacht hatte, seinen Willen in all den Jahren durchzusetzen. Die Adoption hätte sie wenigstens durchsetzen können. Aber Bessell kannte ihren Mann zu wenig, um sich darüber ein Urteil erlauben zu können. Vermutlich wollte er einfach keine Familie mit Kindern, weil er sich zu sehr auf seinen Beruf fixiert hatte und jeglichen Stress außerhalb des Geschäftslebens vermeiden wollte. Vielleicht war er in dieser Beziehung Saskia sehr ähnlich, die auch nicht bereit war, ausreichende Zeit für eine intensiv gelebte Partnerschaft aufzubringen. Bessell hatte mit Nicole Mitleid. Sie hatte seinen Beschützerinstinkt geweckt und er hatte das Verlangen, ihr in dieser Situation zur Seite zu stehen.
Es war ruhig im Ort. Carla Menottis Café hatte bereits geschlossen. Die Polizeitaucher mussten ihre Arbeit längst beendet haben, zumindest waren keine Einsatzfahrzeuge mehr zu sehen. Bessell setzte den Blinker und bog in ihre Straße ein. Während der Autofahrt hatte Nicole ganz entspannt ausgesehen. Mittlerweile hatte sich ihre Miene wieder verfinstert. Sie schien sich förmlich auf die nächste böse Überraschung einzustellen. Bessell parkte den Wagen. Als er den Motor abgestellt hatte und das Licht im Inneren des Wagens anging, sahen sie sich beide an.
»Vielen Dank für diesen Tag, Marco. Ich habe das Gefühl, nicht mehr allein mit der ganzen Angelegenheit dazustehen.« Bessell lächelte sie zuversichtlich an und gab ihr den Autoschlüssel. Beinahe gleichzeitig stiegen sie aus. Nicole holte aus dem Kofferraum ihre Schuhe.
»Könntest du dir vorstellen, mich bei den Dingen, die jetzt geklärt und geregelt werden müssen, zu unterstützen. Ich meine, die Beerdigung, die ganzen Formalitäten, die Klärung der Vermögenslage mit unserem Steuerberater. Ich verstehe davon einfach zu wenig.«
Bessell schwieg und überlegte, was er darauf antworten konnte. Dann sagte er:
»Ich werde tun, was ich kann, aber vielleicht solltest du dir lieber einen Anwalt nehmen. Vielleicht sollten wir beide uns einen Anwalt nehmen.«
»Also kann ich auf dich zählen? Ich wüsste nämlich sonst niemanden, den ich darum bitten könnte.« Bessell nickte. Sie schlenderten das kurze Stück hinunter zu den Hauseingängen. Das Auto veranstaltete das übliche Lichterspiel beim Abschließen. Als sie die Stufen zu Bessells Haustür erreicht hatten, gab sie ihm die Hand und er hielt sie länger fest, als nötig gewesen wäre.
»Also dann bis morgen. Ich würde mich freuen, wenn wir noch einmal gemeinsam darüber nachdenken könnten, was weiter zu tun ist.« Während sie das sagte, sah sie Bessell fest und freundlich in die Augen.
»Das können wir machen, aber überlege dir schon einmal, ob du einen guten Anwalt kennst, vielleicht in Zürich.« Sie nickte nur und wandte sich dann ab. Von ihrer Haustür aus, winkte sie ihm noch einmal zu und verschwand dann im Haus. Noch bevor Bessell seine Tür aufgeschlossen hatte, hörte er Nicole seinen Namen rufen. Der Ruf klang gedämpft zu ihm herüber. Er drehte sich um. Ihre Haustür stand noch offen. Er lief auf die Straße. Nicole erschien in der Haustür und kam ihm dann entgegen.
»Meine Haustür war nicht abgeschlossen. Erst dachte ich, ich hätte es heute Mittag einfach nur vergessen, aber als ich hineinging, sah ich, dass alles verwüstet ist.«
Bessell sah für einen kurzen Augenblick in Nicoles bestürzt aussehendes Gesicht. Dann nahm er die offene Haustür ins Visier und marschierte darauf zu. Nicole folgte nach anfänglichem Zögern, blieb aber einige Schritte hinter ihm.
Bessell betrat den weißgefliesten Eingangsbereich. Auf dem Boden lagen Schuhe verstreut, überwiegend Damenschuhe. Die Schiebetüren einer niedrigen schwarzen Kommode waren geöffnet. An der Wand hing schief ein rechteckiges Bild, das fast bis zum Boden reichte und in Längsstreifen aufgemalt, fünf Farben mit ihrer jeweiligen Komplementärfarbe zeigte. Vor einer futuristisch anmutenden Garderobe lag ein Haufen von Jacken, die ganz offenbar heruntergenommen wurden, um sie der Reihe nach zu durchsuchen. Bessell schob eine Schiebetür mit mattglänzendem Aluminiumrahmen und einer genoppten Plexiglasscheibe weiter auf und trat in einen geräumigen Wohnbereich. Nicole hatte hier bereits alle verfügbaren Lampen angeschaltet, so dass alles hell erleuchtet war. Auf dem nussbaumfarbenen Parkettboden lagen Bücher und Zeitschriften wild durcheinander. Ein beigefarbener Teppichläufer lag schiefverrutscht in der Mitte des Raumes. Darauf lagen Briefe, einige bunte Prospekte und Bedienungsanleitungen einer Stereoanlage. Gleich daneben die Schublade, in der diese Unterlagen und Papiere wohl gelegen hatten. Die Schublade gehörte zu einer Boiseriewand, die einen ähnlichen Farbton hatte, wie der Parkettboden und sich sehr markant von der weißgetünchten Wand abhob. Eine schwere Bronzeskulptur lag umgekippt auf einem der Regale. Die Stereoanlage stand unangetastet im unteren Segment der Boiseriewand. Der Raum ging über Eck. Auf der Ecke stand ein zylindrischer Kaminofen. Das Rauchrohr ging nicht im Bogen geführt in die Wand, sondern verlief senkrecht in die Decke hinein. Daneben, in einem niedrigen Regal aus gebürstetem Edelstahl, lagen in zwei Reihen sauber aufgespaltene Holzscheite. Der Garniturständer mit Schürhaken, Besen und Schaufel lag auseinandergefallen quer vor dem Kaminofen. Noch in diesem Teil des Raumes, vor einem großen rahmenlosen Bild, welches lediglich mit einem breiten Malerpinsel in verschiedene Richtungen ausgeführte schwarze Striche zeigte, stand ein Relaxsessel mit Chromgestell, der mit rotem Leder bezogen war. Bessell ging um die Ecke herum, wo ihn ein noch größerer Raum empfing. Auf einem schwarzen Sideboard lag eine zur Seite gekippte Stehleuchte mit einem würfelförmigen Lampenschirm. Auf dem Nussbaumparkett lagen, wie zu einem Scheiterhaufen aufgeschichtet, große Bildbände und einige leimgebundene Bücher, die ganz offenbar zuvor alle in einem beleuchteten Wandregal gestanden hatten, in dem noch drei Bücher verblieben waren. Vor diesem Wandregal befand sich ein umgekippter Polsterhocker. Das grüne Polster war in der Mitte aufgeschlitzt und weißer Füllstoff aus Polyester war herausgequollen. Vor einer großen Schiebetür, die hinaus auf eine in völliger Dunkelheit liegende Terrasse führte, stand eine Chaiselongue, ebenfalls mit rotem Leder bezogen. Bessell und Nicole spiegelten sich in der großen Fensterscheibe. Weiter rechts stand noch eine Récamiere mit Aluminiumkufen. Einer der beiden Beistelltische davor war umgefallen und streckte alle vier Beine von sich. Auch hier lagen einige Gegenstände auf dem Parkettboden, die vermutlich zuvor auf den Beistelltischen gestanden hatten. Zwei Polsterstühle des Esstisches waren ebenfalls umgekippt worden. Auf der schwarzen Glasplatte des Esstisches, der eckige Tischbeine aus glänzendem Edelstahl hatte, lag eine umgedrehte Obstschale aus Holz. Mehrere Äpfel und Birnen lagen auseinandergekullert auf dem Boden unter dem Tisch.