Trilogie der reinen Unvernunft Bd. 2. Harald Hartmann

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Название Trilogie der reinen Unvernunft Bd. 2
Автор произведения Harald Hartmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742719942



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zugeschaltet, um unserem Gefährt einen zusätzlichen Schub zu verleihen und so die nötige Geschwindigkeit zu geben. Die Schranken, die die Zugbrücke abriegeln sollten, waren schon in steilem Sinkflug begriffen. Im nächsten Moment war die Straße dicht. Der genaue Plan hatte es nicht geschafft. Er musste stehen bleiben. Die Schranke war geschlossen und verwehrte ihm strengstens die Weiterfahrt. Ich bremste neben ihm. Er stieg mit erhobenen Händen aus und beglückwünschte mich. Er wusste nun auch Bescheid, genau wie der Rollstuhlfahrer.

      Großzügig lud ich die beiden zum Essen ein. In der Jugendherberge gab es heute wieder etwas Leckeres. Der genaue Plan, der Rollstuhlfahrer und ich hatten natürlich einen Riesenhunger nach der Verfolgungsjagd. Als Ministerpräsident hielt ich mich an das eherne Gesetz meines zünftigen Gewerbes und das hieß damals genau wie damals: Voller Bauch regeneriert sehr gern.

      Danach spielten wir noch ein paar Runden Billard und tranken viele Gläser Wasser, das teilweise sogar aus anderen Gegenden importiert worden war. Später hielten wir uns aneinander fest und tanzten einen engen Tanz. Wir waren uns einig, dass Freundschaft die schönste Nebenabsprache der Welt war.

      6

      Ich sah auf die Uhr. Es war schon zu spät, um mit der Suche nach meinem Personal zu beginnen. Bald war es dunkel, und da hatten alle bekanntlich etwas Privates vor. Es wäre ungehörig gewesen, meine zukünftigen Minister dabei zu stören. Ich überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Da teilte der Geheimdienst mir über die Fernsehnachrichten mit, dass morgen auch noch ein Tag wäre. Ich freute mich über diese überraschend genaue Neuigkeit. Ob mein flüchtiges Personal sich aber darüber freuen würde, bezweifelte ich. Sie wussten ja, wer hinter ihnen her war und dass die Vereidigung im Möbelmuseum ihr Schicksal war. Tot oder lebendig.

      Als die Nachtigall endlich aufhörte mit ihrem rücksichtslosen, nächtlichen Radau, brach ich auf, um meine Mission zu erfüllen, so wie es geschrieben stand in meinem Wahlprogramm. Doch ich kam nicht weit, denn der einbeinige Briefträger hielt mich an. Er trug einen Brief in seinem Schnabel. Er war an den Ministerpräsidenten persönlich gerichtet, und der war ja ich. Ich öffnete also den Umschlag. Er roch deutlich und unüberhörbar nach Wahlvolk. Ich zog eine Unterschriftenliste hervor. Sie war ziemlich lang, und Namen wie Unterschriften waren alle unleserlich. Formal stimmte also alles. Was ich aber immer schon bedauert hatte und auch in diesem Fall wieder bedauern musste, war der leidige Umstand, dass man Unterschriftenlisten nicht als Klopapier benutzen konnte wegen ihrer glatten und somit für diesen Zweck ungeeigneten Materialbeschaffenheit. Das musste ein Ende haben, allein schon wegen der ganzen Umwelt aber auch sonst rein menschlich gesehen. Sobald meine Regierung regierte, würde ich mich sogleich um eine Gesetzesänderung in dieser Angelegenheit kümmern. Unterschriftenlisten mussten dann grundsätzlich auf Klopapier geschrieben werden. Weil ich im Augenblick wegen meiner Mission wenig Zeit zu verlieren hatte, trat ich in aller Kürze auf meinen Balkon und verkündete die frohe Botschaft. Das Wahlvolk überlegte lange, in welcher Art und Weise es seiner Freude Ausdruck verleihen sollte. Für mich war es eindeutig zu lange. Überlegen konnte man ja vor der Wahl, aber hinterher war das einfach kontrapositiv. Ich winkte der Regie zu. Sofort griff sie zu einer bekannten Geheimwaffe. Sie spielte eine original muttersprachliche Musik ein, so dass alle bald in ihre Einzelteile zerlegt waren. Zufrieden verließ ich den Ort. Ich hatte ein wichtiges Zeichen gesetzt. Auf mich konnte ich mich verlassen.

      Der mir vom Geheimdienst geweissagte neue Tag war nun da, und ich dachte unwillkürlich an die unzähligen Tage, die nicht da waren und vielleicht sogar niemals da sein würden. Aber ich wischte diese Gedanken einfach beiseite wie eine lästige Schmeißfliege von einem Wurstbrot. Natürlich war das für sie nicht schön, ebenso wenig wie für die Schmeißfliege, aber zum Wohle des Großen und Ganzen mussten sie sich daran gewöhnen. Der Wind wehte nun mal aus meiner Richtung, und am Ende hatte ich schließlich die Verantwortung ebenso für alle unzähligen Schmeißfliegen wie für alle unzähligen Tage. Und die Verantwortung hieß: Regieren. Für einen Ministerpräsidenten wie mich war das ohne Zweifel nach der Freundschaft die zweitschönste Nebenabsprache der Welt.

      7

      Bevor ich mich nun aufmachte, um mein weiterhin flüchtiges Regierungspersonal zu suchen, nahm ich noch schnell zur Stärkung eine geheime, flüssige Mixtur zu mir, die sogar Spuren von Erdmännchen enthalten konnte. Im Volksmund wurde sie salopp als Ministerpräsidentendoping bezeichnet. Es war das einzige legale Doping weit und breit. Dafür hatte ich mit meiner ersten Amtshandlung, dem sogenannten präsidentialen Federstrich, auf Anraten eines bekannten Fahrradmechanikers, längst gesorgt. Die Sterberate war im praktischen Gebrauch von überzeugender Höhe. Das Dopingmittel sah aus wie ein preisgünstiger Industriepudding, schmeckte deswegen auch sehr lecker und war ausschließlich aktiven wie passiven Ministerpräsidenten vorbehalten, weil nur sie diese hochkarätigen Inhaltsstoffe überhaupt verantwortlich aushalten konnten. Das neidische Wahlvolk hatte mal wieder keine Ahnung von Verantwortung und verlangte stumpfsinnig und ohne jeden Faktencheck nach Pudding. Keine Ahnung haben, aber Pudding wollen! Ich versorgte es stattdessen großzügig mit neuen, ungebrauchten Zahnbürsten. Ich legte sogar noch zwei Bananen und einen fetten, geräucherten Aal obendrauf. Dieses unwiderstehliche Angebot riss, wie ich erwartet hatte, seine Hemmschwellen nieder wie Feuer das Wasser. Das Wahlvolk rottete sich in laut lärmenden Rotten zusammen vor dem Großen Grünen Fertighaus des Wahlvolkes und rief immer denselben Satz:

      „Wir wollen Pudding! Wir wollen Pudding! Wir wollen Pudding!“

      Nicht einmal die kleinste Variation, wie zum Beispiel: „Wir wollen Schokoladenpudding“ oder „Wir wollen Vanillepudding“, hatte eine Chance. Ich kannte natürlich die genaue Formel für das Dopingmittel, hinter der die ganzen Friseure da draußen her waren. Aber wenn ich sie ihnen verraten sollte, mussten sie mir ein deutlich verbessertes Angebot unterbreiten. So billig, wie sie es sich vorstellten, konnten sie mich nicht aus der Verantwortung kaufen. Wenn alle Stricke rissen, und sie nicht genug Geld zusammen rasieren konnten, würde ich die Formel einfach gegen ihr Gejammer und zur Befriedigung der gierig danach lechzenden Verbraucher in den ungeschützten Umlauf bringen. Dafür genügte ein handelsübliches Männermagazin und eine stinknormale Frauenzeitschrift. Der Rest war Realität. Damit hatte ich dann aber nichts mehr zu tun. Von dieser Verantwortung war ich befreit.

      Mit dem Elan der zwei Herzen und des doppelten Darms machte ich mich frohen Mutes auf den Weg. Schon mein erster Schritt ließ alle Vögel verstummen. Ich blieb kurz stehen und fragte zur Sicherheit noch einmal, um welchen Weg es sich handelte, auf dem ich wandelte. Dafür begab ich mich geistesgegenwärtig in den scheintoten Zustand des erfahrenen Ministerpräsidenten. Bald schon wusste ich mehr. Ich wusste, dass ich mich von dieser Frage am besten fernhielt und von Fragen anderer Art besser auch. Ich war sehr froh damit. Ein solcher Zustand war natürlich auch für das Wahlvolk sehr empfehlenswert. Als Ministerpräsident sah ich es als meine Pflicht an, dafür die Weichen zu stellen, zum Wohle selbstverständlich, wie ich es bei der Vereidigung im Stadion geschworen hatte, weil das Möbelmuseum ja damals schon zu war.

      Keine Fragen, keine Antworten und dazu ein unbekannter Weg, das war mal wieder ganz nach meinem Geschmack. Ich pfiff ein altes, grausames Piratenlied durch meine geputzten Zähne. Nicht mal in der Hölle hätte ich es besser antreffen können. Doch dann erblickte ich auf meinem Weg ein verkohltes Stück Bauchspeck. Ich prüfte es nach allen Regeln eines eingespielten Streichquartetts. Es gehörte dem Riesenkalmar. Vermutlich hatte er hier eine Grillparty veranstaltet und sich so einiges aus den Rippen geschnitten. Ich zerbrach den verkohlten Bauchspeck, und er zerfiel in zwei gleichgroße Teile, mit den gleichen Winkeln, den gleichen Gewürzen, den gleichen Hormonen. Schlagartig wurde mir klar, dass das natürlich auf der Nordhalbkugel unmöglich war, und ich wusste sofort, wo ich mich befand und dass es eine Botschaft an mich war. Wenn mir der Riesenkalmar begegnete, würde ich ihn dazu befragen. So ersparte ich mir das lästige Rätselraten. Wichtig war jetzt, ihn zu finden. Aber das war leicht. Der Riesenkalmar, mein alter Freund und Widersacher, besaß nämlich kulinarische Fähigkeiten, die meinen Appetit auf ihn beflügelten und so einiges andere auch. Solche Leute wie er konnten sich meiner Verfolgung nicht entziehen. Ich wollte ihn unbedingt verpflichten als Mitglied meiner regierungsamtlichen Blaskapelle.

      „Ich