Gegen den Koloss. Achim Balters

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Название Gegen den Koloss
Автор произведения Achim Balters
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742752642



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geschickt verteilten Beeten. Ein kleiner Pavillon steht im hinteren rechten Bereich, wenige Meter von einer sich weit ausbreitenden Trauerweide entfernt. Annas Blick verweilt dort ohne Wimpernschlag. Es war der Lieblingsplatz von ihrem Mann. Ein romantisch wirkender Rundbau mit einem Kuppeldach und länglichen Fenstern, die von angedeuteten Säulen gegliedert werden. Wie oft sie mit Carsten dort gesessen hat! Unsere kleine Grotte, nannte er es. Sie redeten dann nur wenig, saßen nebeneinander auf den zierlichen Teakstühlen und spürten ihre innige Verbundenheit. Er genoss es, von dort aus seinen Blick bis zur Villa schweifen zu lassen. Nie sprach er darüber, aber sie spürte, dass er stolz darauf war, das alles hier mitfinanziert zu haben. Richard, an dem er wohl noch mehr hing als sie, sollte sich einen architektonischen Wunschtraum erfüllen können. Und dann hat er nach einigen Schwierigkeiten alle Erwartungen übertroffen. Für Carsten war es auch eine sinnvolle, sichere Investition in ein Objekt von steigendem Wert.

      Wenn er noch miterlebt hätte, was hier passiert! Er wäre empört darüber gewesen, hätte mit allen juristischen Mitteln versucht, dagegen vorzugehen. Es wäre für ihn wieder ein Beispiel dafür gewesen, was in diesem sogenannten Rechtsstaat, möglich ist. Wie Unrecht Recht bekommt. Ihm konnte man nichts vormachen. Er scherte sich nicht darum, ob er aneckte, wenn es um die Wahrheit ging. Manchmal vielleicht zu eigensinnig. Richard hat seinen scharfen Verstand geerbt. Und seinen Schönheitssinn. Wann war sie eigentlich mit Carsten das letzte Mal hier? Auf Richards 34. Geburtstag? Nein, zwei Wochen später.

      An einem Sonntagnachmittag. Richard und Iris waren schon im Haus. Anna kommt es jetzt so vor, als hätte sie es erst vor Kurzem erlebt. Sie sieht ihn deutlich vor sich. Sein gütiges, längliches Gesicht mit den klugen, großen Augen. Sein Lächeln. Hand in Hand kamen sie aus dem Pavillon, spazierten durch den Park. Es hatte zu regnen begonnen, es störte sie überhaupt nicht. Sie strich ihn sanft über das nasse Gesicht. Dann umfasste er sie und tanzte mit ihr auf dem Rasen einen langsamen Walzer. Ganz spontan. Es war rutschig, aber sie fielen nicht hin. Sie lachten. Lebensfroh wie zwei Jungverliebte. Als sie an dem Staudenbeet vor den Weigelien und Deutzien vorbei tanzten, blieb er stehen. Er beugte sich zu den Blumen hinunter, pflückte einen gelben Sonnenhut und steckt ihn in das oberste, freie Knopfloch ihrer Bluse.

      Anna nimmt einen Schluck Tee, hält die Tasse mit aufgestützten Armen in beiden Händen und lächelt versonnen, während sie in den Park blickt. So viele schöne Erinnerungen. Die wird sie bewahren. Die kann ihr niemand nehmen. Das ist ein Schatz. Etwas Schönes, das bleibt.

      Ihr Blick fällt auf die Rosen vor ihr. Sie steht abrupt auf. Das hätte sie beinahe vergessen. Sie muss sie doch spritzen, noch heute. Damit sie nicht weiter geschwächt werden.

      Bis zum Einbruch der Dämmerung bleibt Anna im Park. Sie spritzt die lausbefallenen Rosen mit einer Seifenlösung, schneidet verblühte Blumen zurück, jätet Unkraut, bearbeitet den Boden. Sie wundert sich, dass es schon so spät geworden ist. Die Gartenarbeit hat ihr gutgetan. Sie spürt eine angenehme Müdigkeit, die sie entspannt. Nur wenige leichtgewichtige Gedanken tändeln durch ihren Kopf, um sich schnell wieder zu verflüchtigen. Sie sollte mehr im Garten arbeiten. Dann wird er noch schöner. Und der Gärtner braucht weniger zu kommen. Arbeitet ganz gut, stört sie aber, wenn er hier ist. Nur ein Fremder, der bemüht freundlich ist, weil er so gut bezahlt wird. Hat ein grobes Gesicht und geht wie ein Holzfäller. Jeder Tag zählt doch. Das darf sie nicht vergessen. Sie wird alles hier weiter hegen und pflegen. So schön wird sie nie wieder wohnen. Vielleicht noch zwei Jahre. So lange sollte sie sich trotz allem daran erfreuen. Das schönste Haus weit und breit. Und der Park, traumhaft.

      Anna legt die Handschuhe auf den Terrassenboden und die grüne Schürze über einen Stuhl, setzt sich. Sie hat Durst, doch die Teekanne ist leer. Sie will noch nicht ins Haus gehen, will hier einfach so sitzen bleiben, ganz allein, nichts tun, die Abendstimmung auf sich einwirken lassen. Es ist jetzt so still, als wäre die Natur verstummt. Sie fühlt sich zufrieden wie ein Bauer, der sein Feld bestellt hat. Sie wird bestimmt gut einschlafen können. Ob sie Richard heute noch sehen wird? Nach seinen Andeutungen zu urteilen, eher nicht. Sie hat nicht nachgefragt. Das kennt sie von ihm. Wenn er nicht mehr sagen will, dann wechselt er einfach das Thema. Sein Blick wird dann flattrig, wie früher, wenn er als Kind schwindelte. Sie braucht nicht alles zu wissen. Und was wichtig ist, das sagt er ihr sowieso frühzeitig. Schnelle Rufe eines Eichelhähers hallen aus der linken Tannengruppe. Sie wendet ihren Blick dorthin, sieht ihn wegfliegen. Die dunklen Baumkronen strecken sich gegen den Abendhimmel, scheinen sich in ihm zu verästeln. Kein Lüftchen weht. Der Mond wird immer heller, sieht aus, als wäre eine Hälfte abgebrochen. Aus dem Rosenbeet strömt ein leicht süßlicher Duft zu ihr, den sie tief einatmet. Es könnte die Mainau Rose sein. Und die Piano. Ihr Blick schweift über das Beet, ruht dann bewundernd auf großen, tiefroten Blüten, die schon weit geöffnet sind. Es ist für sie eine der schönsten Rosen. Am Beetrand ist noch Platz genug. Dort wird sie noch drei, drei, ja, wie heißt sie denn? Anna presst die Lippen zusammen, schließt die Augen, fasst sich an die Stirn. Tudor? Nein. Paris? Ach, auch nicht. Das darf doch nicht wahr sein! Angestrengt denkt sie nach, der Name der Rose fällt ihr aber nicht mehr ein. Sie ist über sich erschrocken. Ist das etwa schon eine Ausfallserscheinung? Eingeschränkte Hirnleistung. Vielleicht das Vorstadium vom Vergreisen. So früh doch noch nicht. Es hängt nur mit dem Alkohol zusammen. Gestern hat sie ja auch viel zu viel getrunken. Anders konnte sie es nicht mehr aushalten. Aber heute hat sie noch keinen Tropfen Alkohol getrunken. Das hat sie sich verboten. Zur Strafe, wegen gestern. Und auch heute Abend wird sie ganz eisern bleiben. Sie gehört nicht zu denen, die ohne Alkohol nicht mehr leben können. Und gerade deswegen sterben. Irgendwie komisch. Sie blickt noch einmal zu der Rose. Wie heißt sie bloß? Nein, sie kommt nicht drauf.

      Anna steht auf, stellt das Teegeschirr auf ein Tablett. Das Porzellan klappert, als sie mit eiligen Schritten von der Terrasse zur geöffneten Wohnzimmertür geht.

      Anna sitzt vor ihrem aufgeklappten Sekretär und überlegt, was sie noch ihrem Tagebuch anvertrauen könnte. Das Licht der kleinen Schirmlampe mit Porzellanfuß, die auf dem Sekretär steht, taucht ihren Schreibplatz in eine Lichtinsel. Alle anderen Lampen hat sie ausgeschaltet, weil sie hofft, dass weniger Licht sie müder macht. Sie fühlt sich noch zu wach. Sie dreht den Füllfederhalter zwischen den Fingern, starrt noch eine Weile auf das aufgeschlagene Tagebuch vor ihr, schließt es dann. Sie schiebt die Hülse über den Füllfederhalter und legt ihn zusammen mit dem Tagebuch in eine kleine Schublade, die geschlossen kaum zu erkennen ist. Sie lehnt sich in dem gepolsterten, bequemen Stuhl zurück, legt die Hände auf die Schreibfläche und blickt zu dem mit Rotwein gefüllten Glas in Griffweite. Es ist erst ihr drittes Glas. Wie diszipliniert sie gewesen ist! Da muss sie sich schon loben. Eigentlich wollte sie gar nichts trinken, aber dann hat sie es sich doch erlaubt. So ist’s gemütlicher. Und jetzt nur noch dieses eine Gläschen, um besser einschlafen zu können. Leider wird sie gleich nur in Morpheus‘ Armen liegen. Es gibt niemanden, der sie umarmen könnte. Aber das kennt sie ja. Sie trinkt einen Schluck, zögert kurz, dann noch einen, stellt das Glas zurück.

      Der Tag war für sie einigermaßen gewesen, ausnahmsweise. Nicht zu vergleichen mit gestern und vorgestern. Nicht eine Zeile hat sie in ihr Tagebuch schreiben können, so fertig war sie. Aber heute geht es ihr besser. Sie hatte mehr Kraft, und es gab sogar manches, woran sie sich erfreuen konnte.

      Burgund! Burgund! Ich habe mich wieder daran erinnert, wollte von selbst darauf kommen. Ich brauchte nicht mehr im Rosenbuch nachzusehen. Ich wusste, dass es irgendwie mit Frankreich zusammenhängen musste, kam schließlich darauf, nachdem ich kreuz und quer nachgedacht habe. Das war bestimmt ein gutes Gehirntraining. Die Burgund ist zauberhaft. Blüht in Überfülle, tiefrot. Andere Rosen neben ihr haben es schwer. Ihren Namen werde ich nie mehr vergessen.

      Morgen werde ich wieder viel im Garten arbeiten. Das entspannt mich und macht mich müde. Dann trinke ich auch weniger. Heute habe ich erst spätabends etwas getrunken. Nur drei Gläser Wein. Weniger als durchschnittlich in Weingegenden getrunken wird. Manchmal kann ich mich aber nicht beherrschen. Dann muss ich mehr trinken. Wie gestern. Das brauche ich, weil mich diese Braunkohlen-Gemeinheit sonst verrückt macht.

      Richard und ich haben Geld genug, verglichen mit den meisten anderen hier und auch woanders, sind wir reich. Aber wie geht es uns? Schlecht, sehr schlecht. Andere in einem kleinen Häuschen außerhalb dieses verdammten Braunkohlenreviers leben klar besser. Sie können nämlich