Bubenträume. Sebastian Liebowitz

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Название Bubenträume
Автор произведения Sebastian Liebowitz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742791887



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ist ja erst Mitte 50, der sieht bloss älter aus. Den werden wir so schnell nicht los.“

      „Wenn der Kerl im nächsten Jahr immer noch dabei ist, dreh ich durch“, schimpfte Victorio. „Seit ich bei dem Idiota in die Schule gehe, habe ich nur noch Dreier, weisst du? Wenn der Kerl dich nicht ausstehen kann, hast du kein Chance.“ Er sah besorgt in die Runde. „Jetzt ist schon September und meine Noten sind immer noch nicht gut. Und ich muss euch ja nicht erklären, was das für einen Ausländer heisst.“

      Bürgi nickte ernst.

      „Vielleicht könnte man ihm wegen seiner ständigen Sauferei was anhängen. Das ist doch nicht normal, sowas.“

      „Ha, hört euch den an“, rief Thuri, „der Kerl ist doch gedeckt. Ausserdem hackt eine Krähe der anderen doch kein Auge aus. Der trifft sich doch nach jeder Lektion mit dem alten Müller im Lehrerzimmer und kippt einen Kurzen.“

      „Vielleicht hast du ja Schwein und er stolpert im Suff die Treppe hinunter“, grinste ich.

      Victorio sah mich nachdenklich an. Seine dunkelbraunen Augen waren auf einmal fast schwarz.

      „Vielleicht müsste man nur ein wenig nachhelfen“, sagte er.

      Ich traute meinen Ohren nicht.

      „Hast du einen Knall“, rief ich, „und wenn er sich den Hals bricht?“

      „Ach was“, winkte Victorio ab“, der Affe ist zäher, als er aussieht, weisst du? Ausserdem sind es vom Schulzimmer zum Lehrerzimmer nur drei Stufen…“

      „Also, ohne mich“, fuhr ich ihm dazwischen, „ich will damit nichts zu tun haben, hörst du?“

      Die Art, wie Victorio grinste, passte mir gar nicht.

      „Hast du gehört, Vic?“, fragte ich eindringlich. „Vergiss einfach schnell wieder, dass ich das gesagt habe.“

      Leider jedoch sollte schon wenige Tage später eine unglückliche Verkettung von Umständen in einem spektakulären Sturz über besagte drei Treppenstufen resultieren. Es gab da, wenn auch nur insgeheim, mehrere Varianten. In der offiziellen Darstellung des „bedauernswerten Unglücksfalls“ war jedoch nur von „einer dunklen Stunde in der Geschichte des traditionsreichen Schulhauses „Seidentraum“ die Rede. Zugegeben, „Bedauernswerter Unglücksfall“ tönt natürlich besser, als „euer Lehrer ist besoffen die Treppe hinuntergestürzt“. Vor allem über die Lautsprecheranlage.

      Es kamen also zusammen:

      1) In Fetzen von den Füssen hängende Filzpantoffeln.

      2) Ein erheblicher Restalkoholspiegel, der im Verlauf des Tages stetig anstieg.

      3) Drei Treppenstufen

      4) Ein Lehrerzimmer, welches im Parterre lag.

      5) Eine Flasche Korn

      Und natürlich Herr Patens, der es kaum erwarten konnte, mit erstem und zweitem über drittes ins vierte zu gelangen, um sich fünftes zu genehmigen.

      Gerüchtehalber war auch von einer Schnur die Rede, die jemand gespannt haben soll. Wie gesagt, gerüchtehalber, denn beweisen konnte das nie jemand. Und vielleicht wäre ja auch alles ganz anders gekommen, wenn es Herr Patens an diesem schicksalshaften Tag nicht besonders eilig gehabt hätte, zu seinem Fusel zu kommen. Kaum war die Lektion vorbei, sprang er schon auf und schlurfte, so schnell es auf seinen Pantoffeln ging, aus dem Schulzimmer. Dann hörte man ihn den Gang entlangeilen, plötzlich war ein erstickter Ausruf zu hören und holterdiepolter, war der Säufer prompt die paar Treppenstufen zum Lehrerzimmer hinunter gepurzelt.

      Wie beim „Gespenst von Canterville“ hallten kurz darauf seine Wehklagen durch den Gang: „Ahhhh, ohh, auaa..!“

      Dann waren schlurfende Schritte zu vernehmen, während er sich unter grossem Gejammer und Gestöhne ins Lehrerzimmer schleppte. Kurz darauf knackste es aus dem Lautsprecher und ein langgezogenes Stöhnen erklang.

      „Aaaahhhh, aua, ohh…“

      Erneut ein Knacksen, dann hörte man schweres Schnaufen.

      (Schnauf, schnauf) „Auah, ohh“ (schnaufschnauf) „Andiii-oooh“ (das galt Herrn Behrens, der gleichzeitig als Sanitäter fungierte), „ooh, auaa“, jammerte er, „bitte Andi (schnaufschnauf) ooh, auaah, ahhh, sofort ins Lehrerzimmer, auahh.ohh.“

      Nachdem das letzte Stöhnen verhallt war, herrschte gespannte Stille im Klassenzimmer.

      „Der verdammte Vic hat also tatsächlich ernst gemacht“, flüsterte Bürgi. „Sieh an, sieh an, dass hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“

      „Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?“, fragte ich. „Sicher tut er nur so.“

      „Was tut er?“, fragte Bürgi und deutete mit dem Kinn auf Victorio, „er macht ja gar nichts. Als ob er kein Wässerchen trüben könne. Überleg doch mal, vor ein paar Tagen bringst du ihn auf diese Idee und schon stolpert der Penner die Treppe hinunter.“

      „Meine Idee..?“ stotterte ich, „..aber..wieso..“

      Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher. War es nicht Victorio gewesen, der mitten in der Schulstunde seine Hand aufgehalten und gefragt hatte, ob er aufs Klo gehen dürfe? Ich sah nochmals zu Victorio, der seinen Kopf tief über ein Schulheft gesenkt hielt. Sah es bloss so aus, oder lächelte er etwa?

      „Oh mein Gott“, entfuhr es mir.

      Mitfühlende Naturen unter ihnen wird es freuen, zu hören, dass sich Herr Patens damals bei seinem Sturz „nur“ einen verstauchten Knöchel zugezogen hat.

      Trotzdem, solche Verletzungen sind nicht zu unterschätzen. Nur zu schnell kann es zu ernsthaften Komplikationen kommen, die eine mehrmonatige Rekonvaleszenz vonnöten machen. Womit wohl auch erklärt sein dürfte, wieso wir Herrn Patens für den Rest des Schuljahres nicht mehr zu sehen bekamen. Chronischer Alkoholgenuss ist, wie man weiss, einer schnellen Wundheilung eher abträglich. Und dass Herr Patens mit seinem verstauchten Knöchel jeden Tag in die Kneipe humpelte, dürfte wohl auch eine Rolle gespielt haben.

      So war Herrn Patens die Genesungskarte, die wir ihm geschickt haben, sicher ein grosser Trost. Auch Victorio hat unterschrieben, wobei sein „V“ ungewohnt schwungvoll ausfiel.

      Eine geheime Botschaft an Herrn Patens, tuschelte mir Thuri eines Tages auf dem Pausenhof zu. Das „V“ stehe nämlich für „Vendetta“, das sei Italienisch für Rache, erklärte er.

      Er schielte zu Victorio und schüttelte sich.

      „Mit diesen Italienern legt man sich besser nicht an, die kennen da nichts, sage ich dir.“

      Ich sah zu Victorio, der sich mit Bürgi unterhielt. Gerade legte er den Kopf zurück und lachte über etwas, was Bürgi gesagt hatte. Ein Bild der Unschuld. Ob an Thuris Vermutung wohl was dran war und Herr Patens nun die Quittung für sein Verhalten bekommen hatte? In mir regte sich Mitleid, und auch das schlechte Gewissen meldete sich leise zu Wort.

      Aber dann fiel mir wieder die Geschichte ein, die uns Herr Patens in der Schule erzählt hatte. Wie er seiner Frau über den Fuss gefahren war. Und was er ihr damals zugerufen hatte.

      Selber schuld, wenn man so blöd ist.

      Schuschu

      „Komm, gib Pfötchen, gib Pfötchen. Hiihihihi, ja, so ist es brav. Braver Schuschu, braaaver Schuschu.“

      Mama schüttelte ihren Kopf.

      „Was bist du doch für ein alter Kindskopf, dass du einen solchen Narren an einem stinknormalen Köter frisst.“

      „Aber nein, nein“, sagte Papa und kraulte den schwanzwedelnden Pudel hinter den Ohren, „Schuschu ist nicht irgendein Köter, gelt, Schuschu? Jaaaaa, du bist ein ganz liebes Hundi, bist du, das schlaueste Hundi überhaupt. Komm, gib Pfötchen, hihihiiii.“ Mit grosser Geste nahm er ein Wursträdchen vom