ich du er sie es. null DERHANK

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Название ich du er sie es
Автор произведения null DERHANK
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847616733



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du dir jeden Tag, und gehst im Kopf den Inhalt des Rucksacks durch: ein Regencape aus englisch grünem Wachstuch, eine Thermoskanne mit Tee, Wurstbrote, Käsebrote und zwei gekochte Eier, wie früher, und vor allem deine Kamera. Deine altmodische Spiegelreflexkamera, ja! Und Wechselwäsche, Badutensilien und all die heute nicht benötigten Dinge, was ein Blödsinn ist, sie jetzt schon mitzunehmen, erst morgen soll es richtig losgehen, aber Thomas wird auch sein ganzes Gepäck dabei haben, und wenn ihr euch heute O anschaut, oder was immer er vorhat, dann ist es reine Solidarität, wenn du dich selbst genauso beschwerst, wie er beschwert ist.

      Lieber Gott, was habe ich nur?, denkst du und fasst dir ans Dekolleté, wo das Kreuz hängt, samt Rosenkranz, Lieber Gott, ich sollte mich doch freuen auf die Reise.

      6.

      Auf Yukikos Handgelenk erscheint ein tropischer Regenwald, und dank hochfrequenter Vibrationen und gleichzeitiger Fluoreszenz ist das eigentlich Hauchzartflache nun so volumig wie ein anschmiegsamer Schwamm, eine grüne, dreidimensionale, baumbestandene Miniaturwelt, in die sie regelrecht hineinschaut, und die sie, jetzt kaum noch bewusst wahrnehmbar, weiterführt, auf ihrem Weg zur Bahn, wo eine Wolke winziger vermeintlicher Fliegen sie empfängt, die sich sogleich als Nanoschwarm entpuppt, so wie sie in Formation gehen und Stimme sagen lassen: »So sehe ich dich tausenddreiundachtzigmal besser als anders«, was nur heißt, dass es 1083 millimetergroße Flugaugen sind, inmitten denen sie jetzt steht und wartet.

      Die Station der Domlinie ist ein offener Tempel, mit Wetterschutz aus Gebetsfahnen, eigentlich nur ein mitten auf der Straße unscharf maskiertes Objekt, das aber mit geschlossenen Augen tausendmal prächtiger ist: wie eine Pagode im kambodschanischen Dschungel. Doch Yukiko lässt sie offen, ihre Augen, sie trotzt den mit eingenähten Screens versehenen Lidern.

      »Yukiko«, sagt Stimme, »Yukiko, was ist mit meinem Namen? Ich finde, ich habe ihn mir verdient!«

      Das hatte er. Oder sie. Oder es.

      »Ich weiß«, sagt Yukiko leise zu dem grünen Scheinflausch an ihrem Arm, als die Bahn einfährt. Und der Flausch antwortet auf seine berührend virtuelle Art.

      Yukiko steigt ein, setzt sich auf einen freien Platz in einer Vierergruppe. Gegenüber ein wachsgesichtiger Ziegenbart, der vor sich hinquasselt, »… schobotten, musse nur schobotten, dann kannste den SM3 in der Feelbank latensen, automically … doch, echtameng, what I say, schobotten …«, daneben ein Inder oder Pakistani, einer von diesen ohne Pupillen, das ist bei denen gerade ganz groß, diese Unterlid-Eyesticks, Kontaktlinsen mit Zusatzfunktionen, deren letzter Schrei vollweiß ist, die das Auge zu einem pupillenlosen Augapfel machen, das ist schärfer als jede Sonnenbrille.

      Die Bahn taucht ab, downunder, und in der Tür zwei Frauen, 70 plus, die eine eher 80 plus oder plus plus, man scheint sich zu erkennen, Hallo, Wortwechsel, die 70 plus hat einen PG von 90 oder 95 oder mehr, ihre Hautoberfläche ist tief schwarz, und Yukiko fällt das auf die untere Gesichtshälfte beschränkte Grinsen auf: mit weißen Zähnen, ein unechtes Grinsen, wie zum Grinsen gezwungen, weil man sich real getroffen hat, als wäre das genetisch bedingt, ein Urreflex, der Mensch und Tier unterscheidet, dieses wohlwollende Zähnezeigen, die Mundwinkel, die natürlicherweise herabgehen, plötzlich angezogen, was Muskelkraft erfordert, und obwohl die beiden Frauen nicht weiterreden, sondern nur da stehen, verbleibt das schwarze Gesicht in diesem fast traurig zu nennenden Grinsen. Steht grinsend da in der Tür, in echt old school Klamotten, grau und irgendwie bayrisch, Leder, Filz, einen Rucksack hat sie auf dem Buckel, nein, kein Buckel, die Frau steht gerade wie eine Eins, aber was für ein Teil, dieser Rucksack! Die Bahn fährt, die Frau grinst immer noch, als hätte sie vergessen, das zu beenden. Yukiko fragt sich, ob die was träumt, oder an was denkt. Der grinsende Blick hinaus ins dunkle Vorbeirauschen des Tunnelbetons, und Yukiko umschließt mit der linken Hand den rechten Arm, streichelt über das noch immer Flausch simulierende FRIEND, das ihr Streichen mit einer zarten statischen Aufgeladenheit beantwortet, und ein ungefragtes Flötenspiel im Ohr lässt die harten Geräusche der Fahrzeugtechnik verschwimmen. Sie zupft mit dem Daumen eine Ecke hoch, das FRIEND wehrt sich, als wolle es nicht loslassen, es schmiegt sich wieder an, lässt sich aber dann doch lösen, wie eine Manschette, die Dschungelanimation verlischt, eine hauchdünne Plastikmanschette nun, in hellen Hautfarben, in der Farbe ihrer eigenen Haut, weiß wie Schnee. Yukiko hat einen PG von 1,7, den das FRIEND perfekt simuliert, ein Weiß, das sich beim Abziehen genauso schnell wieder auflöst, wie es zuvor das Grün des Waldes ersetzt hat. Yukiko drückt die sich wieder aufrollen wollenden Ränder auseinander, bis sie das FRIEND glatt und flach in ihren Fingern hält. Kaum größer als eine Postkarte, und wirklich ultranano flach. Und schwarz nun, der Touch überspielt seine Unsichtbarkeit, und neongelbe Buchstaben fragen: 'Wie ist mein Name?'

      Yukiko wischt die Frage beiseite. Unsichtbar? Sie funzt die Fahrgäste. Die mit dem 95er PG ist echt unsichtbar. Echt und nothing. Kein Latitude, unmöglich, sie anzufunzen. Sogar die noch ältere Tattergreisin hinterlässt einen leuchtenden Punkt auf ihrem FRIEND, weil man ja sonst verloren geht, so alt und wer weiß wie dement. Aber die 95er ist nicht nur physisch dunkel; sie hat einfach nichts. Wie keine Identität.

      7.

      Du bist pünktlich. Um neun Uhr fünfundzwanzig verabschiedest du dich von der Pfarrerin, die weiterfährt, die nicht zum Dom will, nicht mehr, seit sie im Ruhestand ist, seit sie wieder im Kloster lebt, bei den Benediktinerinnen, die ihr nichts übel nehmen, weder, dass sie mit ihrem Austritt aus der Gemeinschaft und der Annahme der Priesterweihe das getan hat, was Frauen 2000 Jahre nicht getan haben (nicht tun durften, ergänzt du für dich), noch dass sie in den kirchenpolitischen Wirren um die Zukunft des Doms eine wenig weiblich führende Rolle gespielt hat, noch dass sie am Ende das Bauernopfer oder vielmehr zum Judasopfer geworden war, gemacht worden war, Verräterin des Doms, und obwohl auch du ihr das immer ein wenig übel genommen hast, magst du sie, bewunderst sie sogar für ihre weltoffene Natur, Kämpfernatur sagt man dazu; eine Kämpferin bist du nie gewesen. Päpstin sollte sie werden, denkst du, worüber du lachen musst, Päpstin, sie? Zu spät, so alt geworden, so alt, denkst du - und denkst sogleich, dass du das immer öfter denkst, von anderen, von dir selbst, und dass man die Entscheidung darüber, wer alt ist, doch lieber Gott überlassen sollte. Du sagst Auf Wiedersehen, verlässt die Bahn, fährst die Rolltreppe hinauf und betrittst den Domplatz von O. Und wartest dort auf deinen Kompagnon. Der heißt Thomas Häreti, und ist ein Schulfreund aus alten Tagen. Tagen, die in die Zeit der Schwarz-Weiß-Fotografie reichen und die selbst schwarz-weiß sind, wenn man sie sich in Erinnerung ruft. Du hast solch ein Bild von Thomas im Kopf: Schwarz-Weiß, ein Junge in kurzen, die Knabenoberschenkel freilegenden Lederhosen, mit Lederlatz und Lederhosenträger, und darunter ein Kragenhemd und Kniestrümpfe und Sandalen; ein Junge, der sich das gefallen lässt, von seiner Mutter in diese alberne Kleidung gesteckt zu werden. Ach nein, das war nicht er, das war Willi gewesen; Thomas in Lederhosen?

      Albern, das sind auch die Leute heutzutage. Die den Platz bevölkern, die heute, zum Maitag, den sie Tag der Arbeit nennen, Bierautomaten am Rande der Fußgängerzone aufbauen, und Wurstbuden und ein Rednerpult, für die Klassenkämpfer, wie auch Thomas einer war. Denen das mit dem Dom egal ist, die vielleicht sogar voller Häme sind darüber, und weil du das nicht sehen willst, schaust wenigstens du zum Dom hin, mit dem du dein ganzes Leben verbindest. Oder Willis ganzes Leben, vielmehr; dir wäre ein kleineres Haus als Sonntagskirche lieber gewesen. Aber auf den Dom hatte Willi bestanden, so sehr, dass er manchmal seine Krankheit mit dessen Verkauf an die Leasinggesellschaft in einen Zusammenhang gestellt hat. Sozusagen kausal und besonders oft dann, wenn ihn seine Verbitterung mehr quälte als seine physischen Schmerzen, seine Verbitterung über den Zerfall seines fleischlichen Körpers und dieses steinernen. Du gehst noch immer hierhin, Sonntag für Sonntag, du hast nicht gewechselt nach Willis Tod, und hast sogar an seiner statt versucht, deinen Frieden damit zu machen, dass der Freitag nun der muslimischen Gemeinde gehört, weil die - im Gegensatz zu deiner eigenen Kirche, zu EURER eigenen Kirche - die jährliche Rate aufbringt, und es der Leasinggesellschaft egal ist, wessen Glaube in dem Dom praktiziert wird. Und dir das auch egal sein sollte, und es das aber nicht ist, nicht wirklich, da nagt etwas in dir, als du neben dem Portal das Wort 'Cami' liest, das 'Moschee' bedeutet, als könne man den Dom einfach umbenennen, was wirklich zu weit ginge, du schaust nach oben, an den Domtürmen