Название | Winterkinder |
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Автор произведения | Anna Kosak |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742710895 |
Sie schüttelte stumm den Kopf. Eine Weile schwiegen sie beide. Dann begann die junge Frau der alten Frau von früher zu erzählen. Die Großmutter hörte zu und lächelte.
*
Zwei Tage nach Neujahr starb Oma Betty. Die Nieren hatten – trotz Medikamente – aufgehört zu arbeiten. Melissa saß zwischen ihren Eltern und heulte Rotz und Wasser. Trotzdem machten sie sich an die notwendigen Schritte. Alle informieren, Beerdigung planen, Hinterlassenschaft regeln.
Am Abend klappte Melissa ihren Laptop auf. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde ihre zwei alten Freundinnen wiederfinden! Caitlin und Marie-Luise, genannt Malou. Sie waren seit der Grundschule ein festes Gespann gewesen, immer zu Dritt unterwegs, hatten alles miteinander erlebt: den Wechsel aufs Gymnasium, den ersten Freund und den ersten Sex, Partys, Drogen, Stress mit den Eltern, gute und schlechte Noten, einen gemeinsamen Mittelmeer-Urlaub, das Abitur. Dann das Studium. Sie waren in verschiedene Städte gezogen, jeder der dreien studierte etwas völlig anderes. Doch nach und nach war der Kontakt weniger geworden. Zuerst besuchte man sich noch regelmäßig, beziehungsweise traf sich am Wochenende bei den Eltern in der Heimatstadt. Aus den Wochenenden wurden Feiertage, an Weihnachten gingen sie mal zusammen frühstücken oder schlenderten über den kleinen Weihnachtsmarkt. Und schließlich war da gar nichts mehr.
Immerhin wohnte Tatjana, eine Klassenkameradin von damals, nicht weit von Melissa entfernt. Tatjana war sehr vorbildlich im Pflegen von Freundschaften. Sie konnte ihr sicherlich eine Handynummer der zwei verschollenen Freundinnen nennen.
*
„Du glaubst nicht, wer gerade angerufen hat und mich nach einer Nummer gefragt hat!“ Tatjana Powlowna plumpste neben ihrem Mann aufs Sofa. Vor Aufregung waren ihre Wangen gerötet. „Du kennst doch Melissa Garner, oder?“
„Klar. Die stille Hübsche, die mit-.“
„-diesem Robert verheiratet ist, genau!“, vervollständigte Tatjana den Satz. „Ein ätzender Mensch.“
„Na na“, machte Dirk und schmunzelte. „Robert ist doch recht sympathisch. Nur, weil er dir das kommunistische Wirtschaftssystem erklären wollte.“
„An einem Samstagabend, an dem wir alle gemütlich essen waren!“, brauste Tatjana auf. „Da erklärt man kein kommunistisches Wirtschaftssystem! Vor allem nicht einer Russin! Aber er meint wohl, dass ich als Hausfrau und Mutter keine Ahnung von der Welt habe!“
„Aber von Wirtschaft verstehst du wirklich nicht viel“, neckte ihr Mann sie.
Sie knuffte ihn in die Seite.
„Du weißt, was ich meine! Ich finde, er ist ein Angeber.“
„Ich finde ihn sehr nett“, sagte Dirk, „aber was wolltest du mir denn jetzt eigentlich erzählen?“
„Lissa hat mich nach Caitlin und Malou gefragt! Die drei waren früher unzertrennlich – und jetzt haben sie keinen Kontakt mehr zueinander! Unglaublich, oder? Ich meine, die waren wie Pech und Schwefel! Es war schwer, in ihre Gruppe reinzukommen. Aber nach dem Abi haben sie sich scheinbar ziemlich schnell aus den Augen verloren. Das hätte ich echt nicht gedacht!“
Dirk zog seine Frau näher an sich. Er vergrub die Nase in ihrem duftenden Haar.
„Und du hast…?“
„Ich konnte ihr immerhin Lins Geschäfts- und Handynummer geben. Und von Malou hatte ich zumindest den Festnetzanschluss“, sagte sie stolz. „Wir haben ausgemacht, dass wir, wenn die beiden tatsächlich hierherkommen, ein kleines Wiedersehen-Treffen veranstalten!“
*
„Kommst du noch mit, was essen?“
Barbara sah sie fragend an.
„Entschuldige! Was meintest du?“
„Ich frage dich jetzt gerade zum dritten Mal, ob du mit uns essen kommst! Andrea und ich wollen noch zum Asiaten.“
Marie stand abrupt auf und streckte sich. Mit ihren Gedanken war sie ganz woanders gewesen. Zum Beispiel, ob sie morgen ihren Hausarzt anrufen sollte, um doch einen Test machen zu lassen. Und an Ernst, bei dem irgendwie alles so viel einfacher gewesen war. Dankbar nahm sie deshalb die Einladung an und folgte den Kolleginnen aus dem Büro hinaus.
„Ich sterbe schon vor Hunger!“, stöhnte Barbara, während sie sich umständlich den Mantel überzog. „Das Meeting wollte ja kein Ende nehmen!“
Andrea stimmte ihr zu. Andrea war klein, dick und hatte immer Hunger. Marie sagte nichts.
Tatsächlich bereitete der Gedanke an Essen ihr selbst eher Übelkeit. Die Alternative, nach Hause in ihre dunkle leere Wohnung zu gehen, war jedoch auch nicht verlockend. So hakte sie sich bei den anderen beiden unter und folgte ihnen zum China Wok.
Was sie nun dazu brachte, an die beiden anderen zu denken, war etwas ganz Profanes, etwas so Unauffälliges und Alltägliches, dass man ihm eigentlich keine große Bedeutung zugemessen hätte. Marie-Luise stutzte dennoch. Vor ihr, auf dem Bürgersteig, lag ein Bonbonpapier. Es war ein bisschen schmutzig, aber die Alufolie glänzte noch schwach golden. In weißer Schnörkelschrift stand der Produktname auf dem blass violetten Papier geschrieben: Mirabella.
Flüchtig blinkt eine Erinnerung in ihrem Kopf auf – Nachmittage voller Lachanfälle, essen in der Mensa, Pyjamapartys mit giggelnden Mädchen unter dicken Bettdecken. Und nebenbei immer Karamellbonbons. Aber nur die von Mirabella. Das waren die Prinzessinnen-Bonbons.
„Was ist los, Marie?“ Andrea war stehen geblieben und drehte sich zu ihr um. „Hast du was gefunden?“
„Nein nein, schon gut“, murmelte Marie und steckte das Papier in ihre Manteltasche.
„Dann bitte nicht weiter bummeln“, rief Barbara, „sonst breche ich hier auf offener Straße zusammen!“
„Garner.“
Eine Männerstimme.
„Hallo, mein Name ist Caitlin Smith. Ich würde gerne Melissa sprechen. Ist sie da?“
Während sie wartete, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Rascheln, eine leise Stimme, dann nahm jemand den Hörer auf.
„Ja?“
„Melissa? Hier ist Caitlin.“
Keine Antwort.
„Caitlin Smith.“
Wieder Stille. Dann etwas, was wie ein tiefes tiefes Seufzen klang.
„Hallo Caitlin. Wie schön von dir zu hören! Du hast also meine Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört!“ Melissa klang heiser. „Erinnerst du dich noch an meine Oma?“
Caitlin erinnerte sich. Oma Betty. Na klar!
„Ja, natürlich! Wie geht es ihr?“
Ein kurzes Zögern in der Leitung, dann:
„Sie ist vorgestern gestorben.“
„Was?“
„Oma ist am Donnerstagabend gestorben. Sie war sehr krank, die Nieren...“
Caitlin merkte zu ihrer Überraschung, dass ihr die Tränen kamen. So lange her und doch erschütterte sie diese Nachricht. Mühsam riss sie sich zusammen.
„Melissa-.“
Ihre Stimme verlor sich. Beide schienen in alten Erinnerungen zu schweben. Oma Betty. Natürlich nicht wirklich ihre Oma, aber sie hatten sie immer so genannt. Caitlin und Malou hatten viel Zeit bei Betty verbracht. Manchmal hatte die alte Frau im Scherz behauptet, sie habe insgesamt drei Enkelinnen.
Ehe Caitlin sich versah, war sie fertig mit dem Studium gewesen, hatte zwei Jahre im Ausland gelebt. Zurück in Deutschland hatte sie schon bald die Agentur übernommen, geheiratet. Andere Freunde waren in ihr Leben getreten, manche gingen wieder, einige blieben. Und