Название | Dem Leben dienen |
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Автор произведения | Peter Spönlein |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738049060 |
Das nach rückwärts gewandte Gesicht unserer Epoche des Wandels hat der Sozialpsychologe Erich Fromm in zwei Äußerungen über das menschliche Klima in unserer modernen Industriegesellschaft charakterisiert: „Wir haben den Kontakt zu unseren Mitmenschen und zur Natur verloren und stehen nur noch mit jenem kleinen Ausschnitt der Welt in Verbindung, den wir selbst hervorgebracht haben. In Wirklichkeit ängstigen wir uns sehr, etwas Tiefgreifendes zu berühren.“ Aus dieser Feststellung zieht er den Schluß: „Es sieht so aus, als ob unsere Industriegesellschaft langsam untergeht, und zwar vor allem, weil sie eine Gesellschaft ohne Liebe und Freude ist. Sieht man tiefer, dann wird die Vitalität des Menschen durch den Mangel an Liebe und Freude geschwächt. Ich glaube, in der modernen Industriegesellschaft hat das Leben keinen Reiz und keine Vision mehr.“€
An die Stelle von Liebe und Freude ist Gleichgültigkeit und Berechnung, Lust, Fun, Coolness und eine „tristesse moderne“ getreten, die alle Bereiche der Kultur durchzieht. Dies sind die Begleiterscheinungen der verdrängten Angst, die zum beherrschenden Lebensgefühl unserer Zeit geworden ist, obwohl die moderne Zivilisation ja ursprünglich im Geiste der Aufklärung dazu angetreten ist, „den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen“, wie Theodor Adorno das Ziel der Aufklärung charakterisiert hat.
Das nach vorne in die Zukunft gerichtete Gesicht der Aufklärung strahlt Versöhnung und eine neue Zuversicht aus, die den Weg öffnet für den nächsten Schritt menschlicher Kulturentwicklung. Das Bekenntnis des Physikers Max Planck weist erstaunliche Verwandtschaft auf mit dem 2000 Jahre alten lapidaren Satz aus dem Hebräerbrief des Neuen Testamentes: „Das Sichtbare ist aus dem Unsichtbaren hervorgegangen“ (Hebr 11.3). Und mit noch größerem Staunen und tieferer Überzeugung als frühere Jahrhunderte können wir heute der Erkenntnis aus der hebräischen Bibel im Buch der Weisheit zustimmen: „Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis“ (Weish 1.7). Hier deutet sich eine Versöhnung zwischen Vernunft und Religion an, zwei Weisen menschlichen Geistes, die bisher unter der Herrschaft des materialistischen Fortschrittes als unversöhnlich galten. Albert Schweitzer bekennt: „Wir haben viele Kenntnisse, doch das Leben bleibt ein Wunder.“ Das ist nicht etwa eine unzeitgemäße romantische Sichtweise der Natur, sondern ebenfalls eine Andeutung der Versöhnung: Neben den vielen Kenntnissen der Naturwissenschaft bleibt das Wunder des Lebens nicht nur bestehen, sondern es gewinnt die Bedeutung des tragenden Ursprungs alles Lebendigen. So wird das schlichte Wort Albert Schweitzers zu einer nüchternen Feststellung über die Art der Wirklichkeit, mit der wir uns in der gesamten Schöpfung konfrontiert sehen: Alle sichtbaren und erkennbaren Dinge wurzeln letztlich in einem Mysterium, das real ist und dessen Gegenwart und Wirkungsweise erkannt werden kann, sich aber rationalem Begreifen letztlich entzieht. Die Aufklärung hat uns auf einem langen und abenteuerlichen Weg der Vernunft und der Naturwissenschaft auf eine neue Weise an das Mysterium der Religion herangeführt. Der Historiker Arnold Toynbee (1889-1975) hat in seinem letzten großen Werk Menschheit und Mutter Erde (1974) geschrieben: „Unser Wissen vom Wirken des Universums mag zunehmen; doch wird uns die Wissenschaft kaum, ebensowenig wie bisher, dazu befähigen, zu verstehen, welche Kräfte das Weltall bewegen und warum es überhaupt existiert. ... Die Religion ist in der Tat ein wesentlicher und entscheidender Zug der menschlichen Natur; sie ist die notwendige Antwort des Menschen auf die Rätsel der Phänomene, die seine einmalige Fähigkeit des Bewußtseins herausfordern.“ Die angemessene ethische Beziehung des Menschen zur Schöpfung kann darum nur in der „Ehrfurcht vor dem Leben“ bestehen und im tätigen, ebenso vernünftigen wie frohen und liebevollen Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung. Alles Forschen und Wissen wird nur dann segensreich sein können, wenn es sich diesen Dienst zur Aufgabe macht. Darin besteht der Anfang und der Weg einer künftigen neuen Kultur der einen Menschheit im gemeinsamen Lebensraum der einen Erde.
Menschheit in der Pubertät
Werden die partiellen politischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen im Prozeß der Globalisierung nicht in ihrem organischen Zusammenhang der Menschheitsentwicklung als ganzer gesehen, so werden sie sich als einzelne Symptome weder wirklich verstehen noch überwinden lassen. Einem linearen Geschichtsdenken muß es als ein Ärgernis oder doch jedenfalls als eine übertriebene Dramatisierung erscheinen, die heutige Lebenskrise der Menschheit als eine epochale Wendezeit einzuschätzen, die eine „geistige Wende kopernikanischen Ausmaßes“ (Club of Rome, 1972) erfordern würde, um eine globale Katastrophe von der Menschheit abzuwenden. Schwerste Krisen, Kriege, Hungersnöte, Epidemien, Völkerwanderungen, Aufstieg und Niedergang von Kulturen hat es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte gegeben, aber das Leben ist doch schließlich immer wieder weitergegangen. Der Gedanke, daß ausgerechnet der letzte Entwicklungsschritt hin zu einem materialistischen Fortschritt in Technik und Ökonomie, einem Fortschritt, der den Menschen über die Abhängigkeit von der Natur erheben sollte, zugleich der gefährlichste und verhängnisvollste in der Entwicklungsgeschichte sein sollte, so daß er überwunden werden müßte, - dieser Gedanke muß einem „gesunden Menschenverstand“ als absurd erscheinen, der gerne die Kirche im Dorf lassen und die Dinge einfacher sehen möchte, damit die Harmonie des Weltbildes, an das man sich gewöhnt hat, erhalten bleiben kann.
Umsturz eines Weltbildes
Aber es bedarf nur des Hinweises auf die Forschungsergebnisse, die das Weltbild der Antike und des Mittelalters zu revolutionieren vermochten, um darauf aufmerksam zu machen, daß sich die Wirklichkeit durchaus anders, ja geradezu im umgekehrten Sinne verhalten kann, als es der gewohnte Augenschein nahelegen möchte. Um noch genauer sehen zu können, wo wir heute stehen, ist es deshalb hilfreich, über die Aufklärung hinaus noch ein wenig weiter zurückzugehen in der Geschichte, in die Zeit der großen Entdeckungen vom 15. bis 17. Jahrhundert, in die Zeit von Christoph Columbus (1451–1506), Vasco da Gama (1469–1524), Nikolaus Kopernikus (1473–1543), Giordano Bruno (1548–1600), Galileo Galilei (1564–1642) und Johannes Kepler (1571–1630). Es ist kaum erst 500 Jahre her, daß ein viele tausende von Jahren altes Weltbild, das als unerschütterlich galt, völlig auf den Kopf gestellt wurde: Seitdem Menschen den Himmel betrachten, haben sie wohl mit größter Selbstverständlichkeit geglaubt, daß sich die Sonne um die Erde herum bewegt, und sie hätten jeden ausgelacht, für verrückt erklärt oder geächtet, der eine andere Ansicht vertreten wollte. Giordano Bruno wurde erst vor vierhundert Jahren seiner anderen Weltanschauung wegen auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und Galilei mußte widerrufen, was er als richtig erkannt hatte.
Das neue Weltbild war in einem sehr viel weitreichenderen Sinne revolutionär, als daß sich die Himmelskörper lediglich umgekehrt als der Augenschein zueinander verhielten. Mit dieser Entdeckung veränderten sich die kosmischen Relationen so grundlegend, daß die Erde nun plötzlich aus ihrer zentralen Stellung in der Welt herausfiel und zu einem völlig unbedeutenden Staubkorn in einem unermeßlichen Universum wurde. Diese Entdeckungen stellen keineswegs einfach nur neue astronomische Erkenntnisse dar, sie haben vielmehr einen gravierenden Wandel im Selbstbewußtsein der Menschheit zur Folge. Die Zeit der revolutionierenden Entdeckungen über die Stellung der Erde im Kosmos fällt zusammen mit der vollständigen Entdeckung der Erde selbst. Es ist noch nicht lange her, dass alle Länder der Erde entdeckt wurden und alle Völker der Erde voneinander Kenntnis erhielten. Daß alle Menschen nun eine gemeinsame Völkerfamilie in dem einen Lebensraum der Erde bilden, ist eine neue und sehr junge Erfahrung in der Menschheitsgeschichte.
Verschleppte Pubertät
Diese Entdeckungen über die wahre Stellung der Erde im Universum und über die eine Menschheit als Schicksalsgemeinschaft im Lebensraum der Erde markieren einen revolutionierenden Wendepunkt in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Wendepunkte der Entwicklung gibt es im organischen Leben: Es durchläuft die Wandlungsphasen von Keimung (Geburt), Reifung (Pubertät) und Tod. Diese drei Phasen der Wandlung