Название | Unwiederbringlich |
---|---|
Автор произведения | Thomas Häring |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738045789 |
Der Philosoph schrieb wie ein Besessener, denn er hatte das motivierende Gefühl, der Menschheit etwas mitteilen zu müssen. Seine Putzfrau fand das alles ein wenig merkwürdig, denn sie hatte ihn eigentlich immer nur herumsitzen und nachdenken sehen, irgendwie hatte sie es nie für möglich gehalten gehabt, daß der Kerl für irgendetwas zu gebrauchen war. Zugegeben, auch die Schreiberlinge erfreuten sich in Deutschland nicht gerade eines sonderlich hohen Ansehens, aber im Gegensatz zu den Philosophen begegnete man ihnen doch mit einer gewissen Achtung, wohingegen Besagte nur mit Verachtung, Spott sowie belächelt werden zu rechnen hatten. Da saß er nun, der arme Tor und fügte ein Wort an das nächste, immer in der Hoffnung, auf diese Art und Weise zur Ruhe zu gelangen und womöglich gar die Erleuchtung zu finden. Er textete: „Die Menschheit als Gesamtkonstrukt strebt nach Perfektion und Erleuchtung, doch um in ungeahnte Höhen gelangen zu können, muß man zunächst Ballast abwerfen. In all den Jahrzehnten hat sich ziemlich viel Menschenmüll angesammelt, welcher verhindert, daß die fähigen und intelligenten Leute sich unheimlich schnell weiterentwickeln. Immer muß Rücksicht auf die Kranken, Schwachen, Behinderten und Alten genommen werden, was dazu führt, daß die Leistungsträger gebremst sowie blockiert werden. Wie kann man dafür sorgen, daß dem ein Riegel vorgeschoben wird? Ganz einfach: Indem man die Überflüssigen aussondert und eliminiert. Das mag brutal und rücksichtslos klingen, aber es führt kein Weg daran vorbei, denn die Asozialen und ihre Brüder und Schwestern im Geiste stehen einer Veredelung der menschlichen Rasse im Wege, sie sorgen vielmehr für eine Verelendung, die ihresgleichen sucht. Es kann nicht länger nur darum gehen, die Sozialfälle durchzufüttern und ihr Dahinsiechen zu verlängern. Wir brauchen einen neuen Gedankenkonsens in der Gesellschaft, der dieses ewige Bemitleiden und Mitfühlen beendet und sich auf das Wesentliche konzentriert. Es muß Schluß sein mit der Durchfütterung der Mitesser und Schmarotzer! Die verursachen nämlich nur Kosten und leisten nichts, was dem Fortschritt der Menschheit dient. Sie sind den Eliten im Wege und deshalb muß man endlich damit aufhören, das Elend und Leiden zu verlängern, sondern drastische Maßnahmen ergreifen, welche zu einer Säuberung und Verfeinerung des Menschengeschlechts führen werden. Wir haben viel zu viele Leute auf diesem Planeten, das steht zweifellos außer Frage, Qualität statt Quantität sollte das Motto der Zukunft lauten.“ An seinen Sätzen konnte man erkennen, daß der Philosoph wieder ganz der Alte geworden war und tatsächlich zu seinen Wurzeln zurückgekehrt war. So radikal seine Ansichten auch sein mochten, sie entbehrten nicht einer gewissen Logik und das war es schon seit jeher gewesen, was seine Gegner und Kritiker am meisten erzürnt hatte. Dennoch mußte man ihm zugute halten, daß er im Vergleich zu seiner wilden Sturm und Drang Zeit doch relativ zurückhaltend geworden war, auch wenn sich das vielleicht erst einmal nicht so anhörte. Wer jedoch seine frühen Schriften gelesen hatte, in denen er behauptet hatte, daß im Grunde 50 Prozent der Menschen zum Wohle der gesamten restlichen Menschheit ins Gras beißen sollten, weil sie für den Planeten und seine anderen Bewohner eine Zumutung darstellten, der konnte schon erkennen, daß die Altersweisheit auch beim Philosophen Einzug gehalten und einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Sein Denken war ausgereifter geworden und wer ihm vorwarf, immer noch ein Menschenfeind zu sein, der sollte darauf aufmerksam gemacht werden, woher der Mann damals kam, von daher war auch im Denken des Philosophen durchaus ein Fortschritt sowie eine Weiterentwicklung erkennbar. Wohin das Ganze noch führen sollte, war eine völlig andere Frage, die man nicht wirklich beantworten konnte. Fakt war allerdings, daß der gute Mann endlich wieder einen Sinn in seinem Leben gefunden hatte und das war erfreulich.
Senta hatte sich vor der Age relativ gemütlich eingerichtet und alle Versuche der dortigen Mitarbeiter, sie zu vertreiben oder wegzuekeln, hatten nicht gefruchtet. Ganz im Gegenteil, mit der Zeit hatten sich sogar etliche Arbeitslose mit der Frau solidarisiert, weil sie das Gefühl hatten, daß jene genauso schlecht behandelt wurde wie sie selbst. Damit war der Schuß der Fallmanagerin in gewisser Weise nach hinten losgegangen, doch das kannte jene schon aus ihrer Vergangenheit. Senta dagegen faßte langsam Fuß und kam mit immer mehr Menschen ins Gespräch, welche oft sehr froh darüber waren, gleich nach dem Termin in der Agentur mit jemandem über ihr Erleben im Amt reden zu können. Die Weintolligin hörte sich das ganze Lamento und Gejammer geduldig an, sie bekam immer mehr einen Eindruck davon, wie schrecklich es in jenem Gebäude sein mußte und irgendwann hatte sie die Ohren und die Schnauze dermaßen gestrichen voll, daß sie beschloß, daß man dagegen etwas unternehmen müsse. Ihr Vorgesetzter bei Weintolligy sah das etwas anders. „Du sollst hier nicht einen auf Robina Hood machen, sondern uns Menschenmaterial zuführen, hast Du verstanden?“ versuchte er ihr einzubleuen. „Aber die Zustände dort sind unerträglich. Das ist fast so schlimm wie ein KZ“, hielt Senta dagegen. „Also hör mal, ich weiß ja selbst, daß wir Weintolligen sehr gerne Vergleiche mit dem Dritten Reich hernehmen, wenn es darum geht, den Leuten zu zeigen, wie sehr wir diskriminiert und unterdrückt werden, aber dieser Vergleich hinkt noch mehr als Propagandaminister Goebbels und das sage ich als jemand, der von Propaganda jede Menge versteht. Du sollst hier nicht die Linkspartei links überholen, sondern dafür sorgen, daß wir neue Mitglieder finden, welche wir auf den Weg unserer Wahrheit führen können. Ist das klar?“ Senta nickte verstört und beschloß in jenem Augenblick, ihrer Glaubensgemeinschaft ein für allemal den Rücken zu kehren, denn nun hatte sie endgültig erkannt, daß sich die Leute dort kein bißchen für die Welt da draußen, sondern nur für sich selbst, ihre eigenen Interessen und ihre eigene Sekte interessierten. Freunde redeten ja gerne hinter dem Rücken des jeweils Anderen schlecht übereinander, da sie ja auch die Schwächen und Fehler jener Person nur allzu gut kannten, aber was bei Weintolligy abging, das spottete jeder Beschreibung. Sobald man versuchte, die Organisation zu verlassen, wurde man überwacht, erhielt Drohanrufe und wurde