Unwiederbringlich. Thomas Häring

Читать онлайн.
Название Unwiederbringlich
Автор произведения Thomas Häring
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738045789



Скачать книгу

ist vorbei. Heutzutage geht es um Lösungen und nicht um Weltanschauungen.“ „Das hat doch bestimmt auch Ihr Liebling Marek Neothor gesagt, oder etwa nicht?“ „Und wenn schon? Die Menschen brauchen Vorbilder, sonst geht das alles in die Binsen. Wir müssen uns an Leuten orientieren, die Anstand, Verstand und Wohlstand verkörpern.“ „Was für ein beeindruckender Dreiklang! Wissen Sie, ich finde es ja grundsätzlich lobenswert, daß Sie sich so für andere Personen interessieren und deshalb nicht ständig um sich selbst kreisen, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie sich nur ablenken und berieseln lassen, um sich nicht mit Ihrer eigenen Existenz auseinandersetzen zu müssen.“ „Das ist nicht wahr! Ich kann sehr gut mit mir alleine sein.“ „Aber darum geht es doch überhaupt nicht.“ „Doch! Das tut es sehr wohl! Sie wollen mich nur in die Enge treiben, mit Ihren an den Haaren herbeigezogenen Unterstellungen!“ „Nein, ich möchte doch nur ein vernünftiges Gespräch mit Ihnen führen.“ „Frechheit! Was erlauben Sie sich eigentlich, Sie Schnösel!“ „Also jetzt reicht es mir langsam. Wenn, dann ist Ihr Kutti ein Schnösel, aber doch nicht ich.“ „Natürlich! Sie hacken schließlich die ganze Zeit auf ihm, mir und meinen Interessen herum.“ „Das stimmt doch überhaupt nicht. Ich versuche lediglich, eine einigermaßen sinnvolle Konversation mit Ihnen auf die Beine zu stellen, Sie dagegen verstecken sich hinter irgendwelchen Prominenten, über die von den Medien nur Zerrbilder gezeichnet werden.“ „Na und? Die Wahrheit als solche gibt es nicht und Objektivität hatte in der Presse- und Medienlandschaft schon seit jeher einen schweren Stand.“ „Donnerwetter, das waren ja jetzt richtig kluge Sätze. Wo nehmen Sie die nur her?“ „Aus der Tunten natürlich. Wir leben halt mal im Zeitalter der Massenmedien, deshalb sollten wir uns nicht darüber beschweren, daß sich die Medien in allererster Linie darauf konzentrieren, die Massen zu unterhalten und wenn die Leute immer blöder werden, dann verflacht natürlich auch das Niveau der Printmedien. Schließlich müssen sich die an die Kunden anpassen und das schreiben, was jene lesen wollen, weil sie sonst ihren Laden dichtmachen können.“ „Sehr interessant. Wir leben also im Land der Dichtmacher und Querdenker.“ „Eben nicht. Aber wen interessiert das schon?“ „Wer weiß, vielleicht die/den Leser/in hier.“

      Nur wer sich zeigt, wird auch wahrgenommen; ist das der Grund dafür, daß Exhibitionisten ihre Pracht zur Schau stellen? Wer weiß, es geht oft um Aufmerksamkeit, schließlich befriedigt das Gefühl, eine von 6,5 Milliarden Ameisen zu sein, die da auf dieser Erde ziel- und sinnlos vor sich her krabbelt, nicht unbedingt. Genauso wenig erfüllt es einen mit Stolz, einer von 6,5 Millionen Hartz IV-Empfängern zu sein, aber es hilft nichts, wenn Du die Kohle brauchst, um über die Runden zu kommen. Solche Probleme beschäftigten Gernot weniger, seine Klienten vielmehr schon, aber er war einer von den Fallmanagern, die nicht immer mit dem Sozialgesetzbuch in der Tasche herumliefen, sondern durchaus pragmatisch, offen und flexibel waren. Wieder einmal saß ein Drogenabhängiger vor ihm, welcher in der normalen Arbeitsvermittlung nicht geduldet wurde, weil die Leute dort nicht wußten, was sie mit dem Typen anfangen sollten. Gernot dagegen war der Mann für alle Fälle und so legte er sich wieder einmal voll ins Zeug. „Also, Daniel, ich bin sehr stolz auf Dich, daß Du seit zwei Wochen nicht mehr gekifft hast, aber das ist erst der Anfang. Um Dich wieder fit zu machen, brauchen wir noch mehr Anstrengungen von Deiner Seite, sonst ist unser gemeinsames Projekt zum Scheitern verurteilt. Wir würden Dich gerne mal zwei Wochen auf dem Bau arbeiten lassen, um herauszufinden, wie belastbar Du körperlich noch bist.“ Der Angesprochene zuckte merklich zusammen und hätte sich in dem Moment für sein Leben gern einen Joint rein gezogen, um erst mal runter zu kommen und die schreckliche Realität etwas bunter sehen zu können. So aber mußte er sich mit den Worten seines Fallmanagers auseinandersetzen, weshalb er jenen fragend anschaute und forschte: „Und was ist, wenn ich mich weigere?“ „Dann muß ich Dich leider sanktionieren und Dir Dein Hartz IV um 30 Prozent kürzen. Weißt Du, Daniel, es ist nicht so, daß ich das hier zum Spaß mache oder um Dich zu ärgern, aber wir können natürlich nicht dabei zuschauen, wie Du da vor Dich hinsiechst und die nächsten Jahrzehnte sowohl von Deinem Gras als auch von Deinem Staat abhängig bist. Das ist nun wahrlich nicht im Sinne des Erfinders, deshalb müssen wir gemeinsam versuchen, daß Du aus der Scheiße wieder raus kommst und Anschluß findest.“ Gernot schaute sich den jungen Mann etwas genauer an, doch der war ihm zu alt, weshalb er auf seiner professionellen Schiene blieb und jenem keine Avancen machte. Daniel dagegen fühlte sich sichtlich unwohl, denn bislang war es ihm immer gelungen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen und nicht wirklich mit Arbeit behelligt zu werden. Doch allem Anschein nach waren die chilligen Jahre vorbei und so versuchte er das, was er schon immer am besten gekonnt hatte: Er feilschte. „Sagen wir eine Woche, zwei Wochen sind mir viel zu kraß und außerdem reicht eine Woche völlig aus, um meine Leistungsfähigkeit zu beurteilen“, fand er. „Das sehe ich anders. Eine Woche lang könntest Du uns problemlos etwas vorspielen und eine große Show abziehen, erst nach zwei Wochen wissen wir wirklich, was Sache ist“, entgegnete Gernot. Niedergeschlagen blickte der Verlierer zu Boden, da er nun wußte, was die Stunde geschlagen hatte. Die Geduld seines Fallmanagers war offensichtlich aufgebraucht, man konnte ihn nicht länger hinhalten und beschwichtigen. Also fügte sich Daniel in das Unvermeidliche und warf zum Abschluß schnell noch eine letzte Nebelkerze: „Also gut, dann muß es wohl sein, aber wenn ich mich dort verletze und wochenlang krankgeschrieben werden muß, dann ist das Ihre Schuld.“ „Ach was, so ein bißchen körperliche Arbeit hat noch niemandem geschadet“, bemerkte der Fallmanager. Daniel schaute sich den selbstzufriedenen Kerl, der da seine Hände über das Bäuchlein geschlagen hatte, noch einmal genauer an und hätte am liebsten mit „Sie müssen das ja am besten wissen“ gekontert, aber er verkniff sich die spitze Bemerkung, da er wußte, daß Gernot am längeren Hebel saß und so begann für ihn der Eintritt in die Welt der Arbeit.

      Jessica dagegen hatte sich in der Agentur so verhalten, wie man es von einer Bittstellerin, als die das Age-Personal die Kunden gerne ansah, erwartet hatte und so hatte sie eine Eingliederungsvereinbarung unterzeichnet, in der festgelegt worden war, daß sie zwei Bewerbungen pro Monat zu schreiben hatte. Das fiel ihr nicht weiter schwer, denn sie war nicht dumm, doch als sie dann bei ihrem ersten Vorstellungsgespräch saß, da fühlte sie sich schon ein wenig komisch, denn irgendwie hatte sie sich das alles etwas anders vorgestellt gehabt. „Schönen guten Tag, meine Damen und Herren und willkommen zu unserem Assessmentcenter! Sie werden sich jetzt sicherlich fragen, was das alles hier soll, aber keine Sorge, ich erkläre es Ihnen. Wir möchten mit Ihnen einige Tests durchführen, Sie also nicht nur näher kennen lernen, sondern auch herausfinden, wie Sie sich in Streßsituationen, Rollenspielen und anderen Situationen verhalten. Es geht uns darum zu erkennen, welche Fähigkeiten Sie im Umgang mit anderen Menschen besitzen, denn die soft skills sind von entscheidender Bedeutung und wir als Dienstleistungsanbieter sind darauf angewiesen, daß unsere Kunden mit unseren Mitarbeitern hochzufrieden sind, ansonsten gehen sie zur Konkurrenz und wir alle haben das Nachsehen. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie alle über bemerkenswerte Fähigkeiten verfügen, aber leider haben wir nur drei Stellen zur Verfügung und da wir so viele aussagekräftige Bewerbungen erhalten haben, haben wir beschlossen, ein Assessmentcenter zu veranstalten, in dem wir Sie erleben, wie Sie tatsächlich sind. Also dann, lasset die Spiele beginnen!“ verkündete der Mann von der Firma und Jessica war gespannt darauf, was nun kommen würde. Fünf Stunden später saß sie völlig erledigt in einem Café in der Nähe und unterhielt sich mit einer Mitbewerberin über das eben Erlebte. „Also das war wirklich kraß! Was die alles von einem wissen wollten und das für so einen beschissenen Job, in dem nur ein Hungerlohn gezahlt wird!“ ärgerte sich die andere Frau. „Aber wirklich! Dieses Rollenspiel war ja noch relativ unterhaltsam, aber als sie mich dann zu dritt in die Mangel genommen haben, da habe ich mich schon gefragt, was ich hier eigentlich will und soll“, gestand Jessica. „Mir ging es da ganz genauso. Was bilden sich die eigentlich ein? Und dann immer dieses hochgestochene Geschwall mit den ganzen englischen Wörtern, einfach fürchterlich!“ „Absolut. Das war wahrlich eine Zumutung. Aber wenn wir nicht mitmachen, dann gibt es Streß mit dem Amt.“ „Eben. Aber es wird immer schlimmer. Heute habe ich in der Zeitung gelesen, daß sie in einer Stadt im Klinikum die regulären Pflegekräfte durch angelernte Arbeitslose ersetzen wollen.“ „Was! Das geht doch nicht, so etwas kann man doch nicht machen!“ „Oh doch! Man will tolle Spitzenärzte anlocken, die natürlich jede Menge Kohle verdienen und um die bezahlen zu können, wird an anderen Stellen eingespart.“ „Dann gute Nacht, Deutschland! Wenn