Название | Ein Mann zwei Leben |
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Автор произведения | Martin Renold |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738078053 |
„Wer mich liebt, kann auch meine Schrift lesen“, hatte sie oft gesagt, wenn ich mich ab und zu einmal zu ihrer Schrift geäußert hatte, was ich später jedoch wohlweislich unterließ, weil es meist in einem Ehekrach endete. „Nur du kannst sie nicht lesen, weil du mich nicht liebst. Und wer mich nicht liebt, braucht mich auch nicht zu verstehen.“
Ich nahm den alten Brief zur Hand. Jetzt, da dieser Brief das Persönlichste war, das mir von Karin geblieben, kam mir die Schrift lesbarer vor als damals. Ich begann sie zu analysieren und gab mir Mühe, wirklich nur das aus ihr herauszulesen, was in ihr steckte, und mich so wenig als möglich von dem beeinflussen zu lassen, wie ich Karin gekannt und erlebt hatte. Doch bei einem bekannten Menschen lässt es sich nie ganz vermeiden. Ja, ich empfand es sogar als Vorteil, da man doch zum vornherein weiß, wie positiv oder negativ die einen oder anderen Merkmale zu beurteilen sind. In jedem Menschen gibt es positive und negative Seiten, Stärken und Schwächen, und da manche Tugend, extrem überspitzt und verhärtet, zur Untugend wird, können positive und negative Eigenschaften in der Schrift sich oftmals an den gleichen Merkmalen zeigen. Darum muss man zuerst den Gesamteindruck der Schrift beurteilen, intuitiv ihren inneren Wert erfassen, die Persönlichkeit erkennen, die dahintersteht. Erst dann darf man ins Einzelne gehen, so oder so werten. Und auch dann noch muss sich jede Wertung von verschiedenen Anzeichen bestätigen lassen, ehe man sie äußern darf. Da wo der Graphologe bei einem unbekannten Menschen mangels ungenügender Hinweise oft eine Aussage zurückhalten oder vage formulieren muss, darf er doch bei einem bekannten Menschen sich ein Urteil bilden. Mir hat es sehr geholfen, dass ich zuerst nur Schriftproben von Bekannten analysieren konnte. Dadurch bekam ich die nötige Sicherheit, mit der ich später an die Analyse der Schriften von mir fremden Menschen herangehen konnte. Da aber Martin, Hedwig und einige Freunde, die mir ihre Schriften gegeben hatten, die Ergebnisse nachprüfen und mir ihre Richtigkeit bestätigen konnten, kam ich zu Überzeugung, dass ich auf dem richtigen Weg war. Auf jeden Fall braucht es eine gehörige Portion Intuition, um die Schrift eines unbekannten Menschen richtig beurteilen zu können.
Langsam kristallisierte sich aus Karins Schrift ein Bild heraus, das ich schließlich in einem Analysebericht niederschrieb:
„Karin legt Wert darauf, vor ihren Mitmenschen korrekt zu erscheinen und von ihnen möglichst besser beurteilt zu werden, als sie selbst es tut. Auch ihr Äußeres, Kleidung, Erscheinung, sind ihr wichtig. Doch verspürt sie oft den Drang, gegen das Übliche, Herkömmliche zu rebellieren, sich zumindest innerlich dagegen aufzulehnen und sich dort, wo ihr Ruf nicht auf dem Spiele steht, so zu verhalten, wie die Gesellschaft es nicht erwartet.
Karin besitzt ein gesteigertes Exklusivitätsgefühl. Sie ist stolz auf ihre Einzigartigkeit. (Tatsächlich hat sie nichts so sehr geärgert, wie wenn sie mit einem anderen Menschen verwechselt wurde oder wenn ihr jemand berichtete, er sei einem Menschen begegnet, der ihr gleiche.) Sie flieht vor sich selbst, will sich aber auch den andern nicht aufschließen. Sie lässt die Mitmenschen nur schwer an sich heran. (‚Mich kann niemand kennen, außer er liebt mich.‘) Trotzdem besteht ein starkes Bedürfnis nach Kontakt.
Ihr Überlegenheitsgefühl ist Ausdruck einer gewissen Unsicherheit. Dem Wunsch nach Begegnung mit den Mitmenschen steht die Angst, die innere Unsicherheit zu verraten, gegenüber.
Sie ist intelligent, besitzt Bildung, Kultur, ästhetisches Bedürfnis, künstlerische (musikalische) Begabung. Sie ist bewegungs- und reiselustig.
Karin muss sich davor hüten, dass ihr kritischer Sinn nicht in Intoleranz und Unversöhnlichkeit ausartet.
Die Angst, die Zuneigung der anderen zu verlieren, führt zu einem Besitz-ergreifen-Wollen. (Gerade das war es, was mich am meisten von ihr entfernte.) In ihrer Denkweise ist sie ziemlich subjektiv, anderseits aber doch auch nüchtern im Denken, scharfsinnig. Ihre Schrift zeigt, dass die Hand ihren Gedanken kaum zu folgen vermag. Sie ist eigenwillig, oft unberechenbar, lebhaft, spontan, impulsiv.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es sich um einen Menschen mit großen inneren Konflikten handelt, der voller Widerspruch ist. Gefühl und Verstand bekämpfen sich eher, als dass sie sich ergänzen. Depressionen, Lebensangst auf der einen Seite, Beweglichkeit und – allerdings oft aufgestaute – Energie auf der andern Seite, führen nicht zum Ausgleich, sondern eher zum Konflikt.“
Erst gegen Ende der Analyse wurde mir bewusst, dass ich den Bericht schrieb, als wäre Karin noch am Leben. Eigentlich hätte ich in der Vergangenheitsform schreiben müssen. Aber der Brief war ja von der lebenden Karin geschrieben, und obwohl ich den Inhalt des Briefes gar nicht bewusst wahrnahm, versetzte ich mich gleichsam zurück in die Zeit, in der der Brief geschrieben worden war. Trotzdem empfand ich keine anderen Gefühle ihr gegenüber als all die Jahre vor ihrem Tod und die Wochen und Monate seit diesem Ereignis. Mein stärkstes Gefühl ihr gegenüber war schon immer nur das der Schuld gewesen, der Schuld, sie durch die Heirat an mich gebunden zu haben, obwohl mir damals schon bewusst war, dass ich sie nicht so liebte, wie ich mir vorstellte, dass die einzige große und wahre Liebe sein müsste. Jetzt, da mir ihre inneren Konflikte wieder stärker bewusst wurden, kam zu diesem Gefühl der Schuld auch das des Mitleids. Ja, sie tat mir leid. Aber ich fragte mich auch, wie weit ich schuld an ihren Konflikten war. Sie hatte vom ersten Tag unserer Ehe an in einer Art und Weise von mir Besitz ergriffen und mich nie losgelassen, dass ich unsere Ehe als eine Fessel empfand, die es mir trotz anfänglich langem Widerstreben leichter gemacht hatte, mich innerlich Angelika zuzuwenden, die damals noch nicht verheiratet war, und ihre große Liebe in gleichem Masse zu erwidern. Gehörte dieses Besitzergreifen nicht schon zu Karins Wesen, bevor wir uns kennen lernten? Gerne hätte ich nun einen Brief aus unserer Verlobungszeit oder den ersten Ehejahren zur Hand gehabt, um festzustellen, wie ihre Schrift sich geändert hatte. Doch so sehr ich auch suchte, ich fand keinen aus der Zeit, bevor ich sie betrogen hatte. Doch ich glaube, mich zu erinnern, dass ihre Schrift sich kaum von der späteren unterschieden hat, so dass alle Charaktereigenschaften schon damals in ihr steckten und der Grund zu unserem ehelichen Zerwürfnis schon in ihr saß, bevor wir uns begegnet waren.
Wenn dem so war, dann müssten eigentlich die Charaktereigenschaften des Tierkreiszeichens, unter dem Karin geboren war, mehr oder weniger dasselbe aussagen wie meine Schriftanalyse, überlegte ich mir. Dann müsste Karins Schriftbild sich beinahe zwangsläufig auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu den Skorpionen entwickelt haben, ihr also sozusagen in die Wiege gelegt worden sein.
Ich ließ mir von Angelika ein Astrologiebuch aus Karins Bibliothek holen. Hier las ich ein längeres Kapitel über die Eigenschaft der Skorpione und sah darin meine Vermutung bestätigt. In einem kurzen, zusammenfassenden Text fand ich folgenden Passus:
„Skorpion-Menschen können sein wie Herbststürme, heftig, aggressiv, zerstörerisch. Sie zerfleischen sich selbst. In der Liebe sind sie besitzergreifend. Sie können rachsüchtig sein und fühlen sich meist unverstanden, wollen aber auch nicht, dass man sie versteht, dass man in sie hineinblickt. Der Skorpion ist meist ein liebenswürdiger Mensch, der in Gesellschaft sehr umgänglich ist. Er verteilt jedoch Sympathien und Antipathien in einer manchmal recht unverdeckten und verletzenden Art und Weise. Er ist in starkem Maße ichbezogen. Alles muss sich um ihn drehen. Auf die Gefühle anderer nimmt er kaum Rücksicht. Er kann sich manchmal in eine fast dämonische Zerstörungswut hineinsteigern, die auch dann keine Grenzen kennt, wenn er selber dabei zu Schaden kommt. Der Skorpion setzt alles aufs Spiel. Doch er mag sich noch so oft mit seinem eigenen Stachel ins eigene Fleisch stechen, er wird immer wieder wie ein Phönix aus der Asche auferstehen.“
Ich war verblüfft, wie nah doch diese Charakterisierung meiner Analyse kam. Alle ihre Eigenschaften steckten also doch wohl in Karin seit ihrer Geburt und hatten sich durch unser Zusammenleben weder im Guten noch im Bösen wesentlich verändern lassen. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht ganz los, in meiner Ehe manches versäumt zu haben und zu wenig auf Karins Gefühle eingegangen zu sein. Vor allem aber hatte ich durch meine Abwendung von ihr und meine Liebe zu Angelika ihre Gefühle negativ beeinflusst und verstärkt. Eingebettet in meine Liebe, hätten sie sich wohl sanfter geäußert und hätten nie zu diesen Spannungen zwischen uns geführt und sie in die Arme eines anderen getrieben. Jetzt, da Karin tot war, bedauerte ich, dass ich ihr nicht mehr