Название | Ein Mann zwei Leben |
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Автор произведения | Martin Renold |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738078053 |
„Und wie hat Christian reagiert?“, fragte ich, Schlimmes ahnend.
„Er hat es geflissentlich überhört und ist auch, nachdem Tilla zu Bett gegangen war, nicht darauf zurückgekommen.“
„Und Tilla?“, fragte ich.
„Ich weiß es nicht sicher, ob sie dich wiedererkannt hat. Es ist ja schon einige Zeit her, und sie hat nie mehr davon gesprochen. Vielleicht hat sie es vergessen. Vielleicht aber trägt sie die Erinnerung in sich herum. Wer weiß das schon?“
„Weißt du“, sagte ich zu Angelika ein wenig später, „eigentlich bewundere ich Christian, dass er die Größe und die Kraft aufbringt, euch gehen zu lassen, und dass er in die Scheidung einwilligt.“
„Die Größe ja, aber ob er auch die Kraft besitzt, weiß ich nicht. Er war immer der Schwächere von uns beiden. Aber er hat schon lange gespürt, dass er mich verloren hat. Als ich ihm von deinem Unfall erzählte und von Karins Tod, hat er sofort auch alles andere gewusst. Er hat es mir leicht gemacht. ‚Nun wirst du zu ihm ziehen wollen‘, hat er zu mir gesagt. Jetzt, wo er sicher wisse, dass es so ist, sei es wohl besser, wir zögen die Konsequenzen. Wir haben zuerst gar nicht viel darüber reden müssen. Leicht ist es ihm sicher nicht gefallen. Ich glaube, er wich diesem Thema seit unserem Wiedersehen aus, zu dem er ja damals selbst den Anstoß gegeben hat, weil er meinte, ich würde nach so vielen Jahren, in denen wir uns nicht begegnet sind, von einer Illusion geheilt. Aber dann schloss er die Augen, weil er Angst hatte, die Folgen sehen zu müssen. Hätte er sie gesehen und die Gewissheit bekommen, dass wir uns immer noch lieben, hätte er schon früher die Scheidung gewollt. Aber wir haben nie mehr von dir gesprochen. Ich denke, er tat es bewusst nicht, weil er lieber in der Ungewissheit als ohne mich leben wollte. Jetzt, ein paar Tage nachdem er die Neuigkeit verarbeitet hatte, sprachen wir miteinander offen darüber. Da mussten wir ja über seine und Tillas und auch meine Zukunft reden.“
Draußen regnete es in Bindfäden. Es war einer von Tillas letzten Ferientagen. Wir saßen im Wohnzimmer und hatten die Vorhänge gezogen, um die vom grauen Himmel niederhängenden Striemen nicht sehen zu müssen. Doch das lockere Gewebe machte für uns die Welt da draußen zu einem tristen, grauen Schleier und hüllte uns in ein wehmütig stimmendes Dämmerlicht.
Tilla allerdings schien sich von dieser Stimmung nicht anstecken zu lasen. Wir hatten das „Eile mit Weile“ vor uns ausgebreitet, und Tilla war sichtlich vergnügt und zufrieden, dass ich mitspielte.
„Morgen wird dich Papa holen, und dann darfst du den ganzen Samstag und Sonntag bei ihm bleiben“, hatte ihr Angelika eröffnet.
Das nahm ihr ein wenig die Bangigkeit vor dem Schulanfang in der neuen, unbekannten Schule. Sie jubelte und war glücklich und freute sich auf das Wiedersehen mit ihrem Vater.
Tilla hatte in dieser Ferienwoche einiges Zutrauen zu mir gefasst. Mir schien, sie betrachte mich nicht als den Feind, der ihrem Vater die Frau weggenommen hat und um dessentwillen sie von ihrem Vater getrennt leben muss. Für sie war ich vor allem ein kranker Mann, der die Hilfe und Fürsorge ihrer Mutter brauchte. Alles andere war für sie fremd und ohne Bedeutung.
Tilla war ein kleiner Schalk. Ihre Augen blitzten und leuchteten, und die Haltung ihres Körpers verriet die ganze aufgestaute Spannung, wenn sie einen beim Spielen hinters Licht zu führen versuchte und sie mit spitzbübischer Aufmerksamkeit darauf wartete, dass man es nicht merke. Dann konnte sie in ein befreiendes, fröhliches Lachen ausbrechen. Auch mir gegenüber hatte sie gar keine Scheu. Meine Behinderung schien sie nicht zu stören. Sie gab sich ganz natürlich. Und das gefiel mir. Zugleich entlastete es mein Gewissen, schuld daran zu sein, dass sie ihren Vater, ihr Heim, ihre Kameraden und Freundinnen hatte verlassen müssen
Während ich sie ansah und ihre Freude beobachtete, wenn sie einen meiner Steine ins Haus zurückversetzen konnte, durchzuckte es mich plötzlich wie ein Blitz. Es war, als brause eine Meereswoge durch mein Gehirn. Ich hörte ihr Rauschen in meinen Ohren. Mein Gesichtsfeld zog sich zusammen. Ich sah nur noch Tillas Gesicht und dann eine offene Wunde in ihrer Stirn, aus der Blut herausquoll, das über ihre Wange floss und auf ihre Bluse tropfte. Ich wollte aus dem Rollstuhl aufspringen, Angelika am Arm fassen, aufschreiend auf die Wunde zeigen. Aber ich konnte weder das eine noch das andere tun. Ich war wie gelähmt. Es waren nicht die amputierten Glieder, die mich hinderten, nicht der Schreck, der jeden Laut in mir erstickte. Ich spürte auf einmal, dass ich die Augen geschlossen hatte und sich alles wie ein Traum hinter meinen Lidern abspielte. Und doch hatte ich das Gefühl, wach zu sein, nicht zu schlafen. Ich sah alles so deutlich wie mit offenen Augen. Nur war es jetzt nicht mehr ganz dasselbe Gesicht, das ich sah. Zwei kleine Zöpfchen, die mit rosaroten Haarmaschen geschmückt waren, hingen dem Mädchen über die Ohren herunter. Und ich wusste eigenartigerweise sofort, dass dieses Kind Erna hieß. Es trug ein graues, langes Röckchen mit Spitzen und Rüschen und einem hohen Kragen. Erna griff sich an die Stirne, und das Blut beschmutzte ihre Hände. Ich wusste nicht, schrie das Mädchen so markdurchdringend wegen des Schmerzes oder wegen des Anblicks des niederrinnenden Blutes. Ich selber war ein Junge von vielleicht sieben oder acht Jahren. Wir standen uns auf einer Straße gegenüber. Ich hielt eine Schnur in der Hand, und am Ende der Schnur war eine kleine Schachtel befestigt. Einen Augenblick lang stand ich wie zur Salzsäule erstarrt. Ich wusste, dass ich einen Stein in die Schachtel gesteckt hatte, um sie zu beschweren, und die Schachtel an der Schnur wie wild neben mir senkrecht im Kreise gedreht hatte. Nun war der Boden der Schachtel aufgegangen, und der Stein war weggeflogen wie von einer Schleuder.
„Heinrich, was hast du wieder angestellt?“, hörte ich eine Stimme aus unserem Haus rufen. Da ließ ich die Schnur los und rannte davon. Ach, es war ja nur Erna, eines jener ärmeren Kinder, die oft in unsere Straße kamen und hier spielten. Erna, die ich immer wieder an den Zöpfen zerrte und die doch stets wieder kam. So dumm waren eben die Mädchen.
„Du bist an der Reihe“, hörte ich Tilla, und Angelika fragte ängstlich: „Ist dir nicht wohl?“
Ich schlug die Augen auf, die ich offenbar eine ganze Weile lang geschlossen gehalten hatte. Da saß Tilla mir gegenüber, ihre Augen lachten.
„Nein, mir geht’s gut“, sagte ich rasch, noch ein wenig benommen, wie einer, der aus einem Traum erwacht und sich im anbrechenden Morgen noch nicht zurechtfinden kann.
„Ich glaube, wir hören besser auf, Manfred“, sagte Angelika, „du verlierst ja doch.“
„O nein“, rief Tilla, „jetzt, da ich gerade am Gewinnen bin. Wenn ich nicht richtig gewonnen habe bis zum Schluss, dann ist alles nichts wert.“
„Da hast du recht“, unterstützte ich sie. „Komm, wir machen weiter.“
Und ich würfelte und rückte meinen Stein vor.
Nachdem das Spiel zu Ende war und Tilla nach dem Abendbrot zu mir trat, damit ich ihr einen Gutenachtkuss geben konnte, strich ich ihr Haar aus der Stirne zurück.
„Seit wann hat sie diese kleine Narbe?“, fragte ich Angelika und wies auf ein kleines, kaum sichtbares Mal hin, das wie ein Kreuzchen in der Haut eingeritzt war.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Angelika überrascht. „Das hat sie seit ihrer Geburt. Aber jetzt ist es schon beinahe verschwunden.“
Als wir nebeneinander im Bett lagen, erzählte ich Angelika von meiner plötzlichen Vision. Sie hörte mir aufmerksam zu. Ich hatte ihr einige Tage zuvor auch von meinem „Tod“ beim Unfall und meiner „Geburt“ als Heinrich Otto erzählt.
„Meinst du, der Unfall habe vielleicht etwas in meinem Kopf verrückt?“, fragte ich sie. Ich wählte ganz bewusst dieses Wort „verrückt“, denn ich stellte mir vor, dass es auf diese Weise beginnen könnte, wenn einer verrückt wird, doch so gerade heraus wagte ich nicht zu fragen, ob sie diese Anzeichen für Verrücktheit, eine Art Schizophrenie halten würde.
Angelika lächelte.