Название | Ein Mann zwei Leben |
---|---|
Автор произведения | Martin Renold |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738078053 |
Endlich kam der Tag, an dem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ich wollte nicht bleiben, bis ich die Prothesen bekommen würde.
Angelika holte mich ab. Sie brachte mich selber im Rollstuhl zu ihrem Auto. Zwei Pfleger halfen ihr, mich auf den Sitz neben ihr zu heben. Auf dem Sitz hinter ihr saß Tilla, schüchtern und mit großen Augen. Die Pfleger klappten den Rollstuhl zusammen und versorgten ihn im Kofferraum.
Mein Haus in St. Gallen, am östlichen Rand der Stadt war voll Blumen.
„Die haben die Nachbarn gebracht, als ich gestern mit Hedwig zusammen das Haus für deine Rückkehr vorbereitete“, sagte Angelika. „Wir haben ein wenig umgestellt. Aus dem Gästezimmer haben wir für dich ein Studierzimmer gemacht.“
„Und mein bisheriges Zimmer?“, fragte ich.
Mein Zimmer war bis jetzt Arbeits- und Schlafzimmer in einem gewesen. Karin hatte allein im oberen Stock geschlafen. Sie war nur in mein Zimmer gekommen, um mein Bett zu machen, und ich hatte ihr Zimmer seit Jahren kaum mehr betreten, oder wenn, dann nur um mir vielleicht ein Buch von ihr auszuleihen oder für ein kurzes Gespräch zwischen Tür und Angel. Ich weiß kaum mehr, wann ich zum letzten Mal mit ihr geschlafen hatte. Ich war froh, dass sie es nicht mehr von mir erwartete. Und doch hatte ich mich Tag für Tag und Nacht für Nacht nach einem Menschen gesehnt, der liebend meinen Alltag, meine Abende mit mir teilen und keine Nacht von meiner Seite weichen würde. Diesen Menschen gab es: Angelika. Doch sie war mit einem andern Mann verheiratet. Aber jetzt stand sie neben mir, und statt eine Antwort auf meine Fragen zu geben, schob sie mich in das Zimmer. Der Schreibtisch war nicht mehr da, dafür stand neben meinem Bett ein zweites, und auf dem Tischchen daneben stand eine Vase mit einem Strauß roter Rosen.
Angelika lächelte. Ihre Nasenflügel bewegten sich, wie ich das oft an ihr erlebt hatte, wenn sie mich mit ihren braunen Augen, die einen Schimmer ins Grünliche zeigten, stumm anschaute, wenn sie ihren Atem anhielt und sie mich zu fragen schien: Ist es tatsächlich wahr, dass du mich liebst? Einen Augenblick lang schien sie dann zu zögern in Erwartung meiner Annäherung, der Berührung unserer Lippen, bis sie ihrerseits die Arme um mich schlang und tief Atem holte. So war es wie jenes erste Mal vor vielen Jahren.
„Du willst also hier bleiben?“, fragte ich.
Sie nickte stumm und erwiderte den Druck meiner Hand. „Und wenn Tillas Schulferien vorüber sind? Was dann?“
„Ich kehre nicht mehr zu Christian zurück“, antwortete sie. „Ich will nicht, und ich kann nicht mehr. Für Tilla habe ich oben Hedwigs Zimmer eingerichtet. Wenn sie dich nicht stört, bleiben wir bei dir, sonst suchen wir uns in der Nähe eine Wohnung.“
Ich sagte nichts. Ich zog sie nur zu mir herab, fasste sie mit beiden Händen um den Halb und küsste sie auf die Wange. Sie verstand meine Antwort, und ich sah, wie ihre Augen leuchteten.
Ich fragte nicht, was dieses „ich will nicht, und ich kann nicht mehr“ zu bedeuten habe. Ich wusste, dass sie das Zusammensein mit Christian schon lange kaum mehr aushielt, obwohl er sie liebte. Aber ihre Liebe gehörte so sehr mir, dass ihr die Ehe mit Christian oft sinnlos vorkam, und hätte ich sie nicht selbst ermuntert, um Tillas willen auszuharren, sie hätte wohl kaum so lange an seiner Seite leben können. Ich wusste, dass dieses „ich kann nicht mehr“, im Wunsch, jetzt bei mir zu sein, und im Wiederwillen mit einem ungeliebten Mann in so enger physischer Nähe zu leben, seinen Grund hatte. Dass vielleicht auch Christian nicht mehr wollte, jetzt, nachdem er ja alles erfahren haben musste, konnte ich nur ahnen.
„Hedwig und Martin sind einverstanden, dass ich bleibe.“
Angelika hatte mit ihnen bereits alles besprochen. Sie wussten schon lange von meiner Liebe zu ihr. Aber jetzt, da ihre Mutter nicht mehr lebte und sie meine Hilflosigkeit sahen, waren sie froh, dass Angelika ihnen die Arbeit, für mich zu sorgen, abnahm.
„Martin hat oben ja noch ein Zimmer, wenn er in den Semesterferien oder am Wochenende heimkommen will“, erklärte Angelika. „Und Hedwig will vorläufig in Karins Zimmer schlafen.“
Von Hedwig hatte ich bereits im Krankenhaus erfahren, dass sie eine eigene Wohnung gemietet hatte, um dort mit ihrem Freund zusammen zu wohnen. In ein paar Wochen wollte sie ausziehen. Ich wusste, dass sie dies schon vor dem Unfall geplant hatte. Angelika berichtete mir, Hedwig wäre vorerst nicht weggezogen und hätte mich mindestens eine Zeit lang gepflegt, sei nun aber doch froh, dass sie, Angelika, sich dazu entschlossen habe, bei mir zu bleiben.
Nachdem Angelika mir am ersten Abend ins Bett geholfen hatte, zog sie sich selber aus. Dann blieb sie in ihrem duftigen Nachtkleid, durch das ihr großer, schlanker Körper hindurchschimmerte, vor ihrem Bett stehen. Ich spürte, dass sie es nicht wagte, unaufgefordert zu mir ins Bett zu kommen. Sie fürchtete wohl, ich könnte glauben, dass sie meine Beinstummel abstoßend finden würde. Erst auf meinen Wink mit den Augen legte sie sich an meine Seite und ließ es geschehen, dass ich sie ganz an mich heranzog.
Angelika
Angelika ist eifrig um mich besorgt. Aber sie ist rücksichtsvoll und lässt mich, so weit dies überhaupt möglich ist, meine Invalidität kaum spüren. Sie tut das, was sie immer schon gerne für mich getan hätte: das Haus schön herrichten, kochen, einkaufen, nähen, waschen. Nur eines kann sie nicht für mich tun, meine Schuhe putzen Ganz diskret hat sie alle meine Schuhe im Abstellraum versorgt. Tagsüber, wenn die häuslichen Arbeiten verrichtet sind, gibt sie sich mit Tilla ab. Und wenn Tilla draußen ist bei den neuen Gespielen aus der Nachbarschaft, kommt Angelika zu mir, setzt sich neben mich, ergreift meine Hände oder legt mir ihren Arm um die Schulter. Und wir reden miteinander. Wir leben wie ein jung verheiratetes Paar. Und wir sind glücklich, dass es so ist. Wenn du willst, gebe ich Tilla bis zum Ende der Sommerferien zu meinen Eltern“, schlug Angelika vor. Aber ich wehrte ab.
„Nein, nein, ich denke, das wäre nicht gut für sie. Sie muss sich an die neue Umgebung gewöhnen und auch an mich. Jetzt wird es ihr leichter fallen, sich einzuleben, als wenn sie wieder zur Schule gehen muss. Und wenn sie von ihren Großeltern zurückkäme, würde sie sich wie ein Fremdling, ein Eindringling bei uns fühlen und spüren, dass du im Erfahren und Einleben unseres Zusammenseins einen Vorsprung hättest. Wir dürfen sie nicht ausschließen aus unserer Gemeinschaft, unserer Familie. Hast du es ihr denn schon gesagt, dass sie in Zukunft hier wohnen und ihren Vater nur noch ab und zu übers Wochenende sehen wird?“
„Ja, ich habe sie darauf vorbereitet“, entgegnete Angelika. Und sie war dankbar, dass ich Tilla hier behalten wollte.
„Glaubst du“, fragte ich, „dass sie sich ein bisschen glücklich fühlen wird bei uns? Sie wusste ja bis vor kurzem noch gar nicht, dass es mich gibt.“
„Ich glaube schon, dass sie sich gut einleben wird. Übrigens stimmt es nicht, dass Tilla nichts von dir wusste. Ich habe es dir nie gesagt, um dich nicht zu beunruhigen. Einmal, als Christian fort war und du mich an einem Abend besuchtest, ist Tilla aufgewacht, und sie ist leise zu uns ins Wohnzimmer heruntergekommen. Wir saßen nebeneinander, und du hattest den Arm um meine Schulter gelegt. Wir hatten jene CD mit dem „Freischütz“ aufgelegt, die du mir einmal geschenkt hast, nachdem wir miteinander die Oper besucht hatten. Wir lauschten stumm der Musik. Darum hörten wir Tilla nicht. Aber ich sah sie hinter der Wand bei der Treppe hervorgucken. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich aufgestanden bin und sagte, ich wolle nachsehen, ob Tilla schlafe. Da ist sie rasch in ihr Zimmer hinaufgehuscht.