Am Rande. Eine Bemerkung. Anna Lohg

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Название Am Rande. Eine Bemerkung
Автор произведения Anna Lohg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742722935



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verloren, wenn er vorher schlicht nach dem Weg gefragt hatte, kannte er sich jetzt nicht mehr aus. Einzig die Kathedrale ragte noch unbeschadet gen Himmel, spendete ihm die Kirche erstmals Trost, weil dies Ding unerschüttert über den Ruinen thronte und ihm Orientierung gab. Aus der Ferne wies ihm dieser alles überragende gotische Dom den Weg zum Fluß.

      An der behelfsmäßig reparierten Brücke fand er schließlich die Amerikaner, hatte er lange nach ihnen gesucht. Diesen geschätzten Feinden wollte er sich bedingungslos ergeben, die weiße Fahne seiner Kapitulation hissen, sollten sie mit einer banalen Formalität seinen Krieg für beendet erklären. Mitten in der zerstörten Stadt, am Fuße der Kathedrale, an dieser schaukelnden Brücke war für Edmund, amtlich beglaubtigt, der Zweite Weltkrieg endgültig aus und vorbei.

      Okay!

      Ohne viel Aufhebens bekam Edmund, der besiegte Feind, einen Stempel, der ihn zugleich als harmlosen Soldaten auswies, einer der bloß Befehle befolgt hatte. So einer konnte doch nichts dafür, wenn er in den Kampf eingezogen worden war, um für ein tausendjähriges Reich zu sterben. Nicht die einfachen Soldaten, die Sieger hatten vielmehr die Nazis besiegt, das waren die erklärten Feinde, sie trügen die Schuld an Krieg und Verbrechen, dabei wusste auch Edmund, dass Nazis Nachbarn waren, Freunde, Verwandte.

      Ihm war es mithin einerlei, sollten sie ihn ruhig zum Zinnsoldaten stempeln, zur willenlosen Marionette, er fühlte sich endlich von allen Fesseln befreit und wollte einfach nur unbehelligt weiter vor sich hin leben. Aber bevor die netten Feinde ihn die Brücke passieren liessen, würden sie ihn noch entlausen, musste er einen endlosen Tag und eine noch längere Nacht warten bis das Mittel seinen Zweck erfülle. So nah am Ziel schaute er voll der unbändigen Sehnsucht über den Fluss auf die andere Seite, war dieses Warten wirklich qualvoll. Deutschland sollte entnazifiziert werden und er hatte sich den ganzen Körper mit Gift einschmieren müssen, als sei Ungeziefer der Urgrund allen Übels und eine Entlausung der erste Schritt zur politischen Läuterung.

      Von Läusen befreit, die er gar nicht hatte, und mit amerikanisch bestempelten Papiere ging Edmund endlich seiner Zukunft entgegen. Von der schwankenden Brücke blickte er auf die Hügel weit vor ihm, zuversichtlich schaute er nach vorne, zurück in sein altes Leben. Versteckt zwischen den Hügeln, hinter dichten Wäldern würde er alsbald sein Zweiburgen wiederfinden, seine Mia und einen Sohn, den er letztlich nicht kannte. Mochte Wunder wer weiß was in Schutt und Asche liegen, er war entschlossen genau dort weiter zu machen, wo er aufgehört hatte, als sei nichts gewesen. Und auch in Zweiburgen, zwischen den Hügeln, konnte er sie von weitem sehen, diese alles überragende Kathedrale, wie stehen gelassen, auf das es die Menschheit an ihre großartigen Taten erinnere. Das Haus Gottes war unbeschadet geblieben, auf dass er nicht erzürne, daneben aber, unter sich selbst begraben, fehlte hier ein Haus, da eine Scheune, dort eine Baracke. Und sonst? Es fehlten einige Männer und zurück war kaum einer gekommen wie er zuvor gegangen war. Und dann noch der eine Bäcker, der nie wieder kommen sollte, der eine Bauer, der Metzger, der Rabbi, ganze Familien einfach ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben, dermaßen spurlos vernichtet, als würden sie nicht einmal fehlen. Zweiburgen war nun ein rein arisches Dorf und auf diesem Abgrund sollten sie ihre Zukunft errichten.

      Ohne irgendeinen Aufschrei, letztlich kleinlaut, suchten vielen den Weg zurück in das alte Leben, noch vor dem tausendjährigen Reich. Doch der Weg dahin schien versperrt, sollte auch Mia nicht zurück zu ihrer Unschuld finden. Ihren Krieg konnte sie so schnell nicht vergessen, die Zeit der Angst und Entbehrung. Der Frieden erschien ihr, wie die Genesung von einer langen schweren Krankheit, nach der sie keineswegs erleichtert aufatmete, sondern in der Befürchtung eines jederzeit möglichen Rückfalls lebte. Sie nahm sich zurück, fügte sich dienend dem Haushalt, lachte nicht, behielt vorsorglich die Schürze und die Holzschuhe an, letztlich beklemmt trat sie ihr neues Leben an. Andere im Dorf fanden ebenso keinen Frieden in der angebrochenen Zukunft, wie Hans, der eifrige Bürgermeister. Nachdem der Feind mal wieder über denselben Hügel gekommen war und als Sieger mitten in den Rabatten stand, entfluste Hans akribisch seine Uniform, zog sie an und hängte sich auf. Seine Witwe Elfriede, die während des Krieges durchaus erhaben ihre Privilegien genossen hatte, zog sich die neuen Schuhe aus, warf sich, wie Mia, demütig eine Schürze über und stolzierte fortan dreimal täglich in Kathedrale, als hätte sie umgehend den Glauben getauscht, gegen einen stets zeitgemäßen. Dagegen ging der Fabrikant hin und verbrannte alle Wimpelchen, dazu die riesengroßen roten Fahnen mit den schwarzen Kreuzen drauf. Damit hatte er noch kürzlich hingebungsvoll die Fabrik dekorieren lassen, auf dass jeder Arbeiter sich an die verordnete Gesinnung erinnere, die nun alle schnell vergessen wollten. Die siegreichen Feinde ließen den Fabrikanten daher unbehelligt, sie fanden ja nur die Asche der Fahnen, auch weit und breit keine Zwangsarbeiter. Und die Frau, welche sich der Fabrikant in seinem stattlichen Haus unter Zwang gehalten hatte, zum putzen, kochen und andere Dienste, hatte er rechtzeitig der Freiheit überlassen, einfach so: "Sieh zu, dass du verschwindest! Komm bloß nicht wieder, du stinkender Schmarotzer, und stell irgendwelche Ansprüche! Dir steht rein gar nichts zu!" Daher konnte der Fabrikant ungestört Fabrikant bleiben, eine gewichtige Persönlichkeit im Getriebe des Dorfes, jederzeit vorbildlich. Als würden sich seine Fahnen nicht mehr im Wind drehen, hielt er in den Tiefen einer Schublade seine Überzeugungen verborgen, ruhte dort, unter einem weißen Taschentuch versteckt, ein kleines Abzeichen mit Hackenkreuz. Manchmal nahm er es raus, tröstete damit sein Heimweh nach einem Ort in vergangener Zeit.

      Kehrte scheinbar einzig der Briefträger wohlgemut in sein altes Leben zurück, wie nach einer langen abenteuerlichen Reise. Und ganz nebenbei hatte er mit dem Stempel einer siegreichen Macht vorschriftsmäßig seinen Krieg besiegt, als hätte er für seinen Frieden eine Erlaubnis. Edmund sollte wieder Post verteilen, nur nicht mehr ganz so sorglos wie einst, jetzt, da er den Irrsinn durchlebt hatte und wusste, dass dieser jederzeit und überall nach der Macht greifen kann.

      

      Dieser Krieg war vorbei. Ordentlich mit einer Bezeichnung und einer Chronologie versehen, ging das Geschehene als Zweiter Weltkrieg in die Geschichtsbücher ein. Archive voll der Gräueltaten, verbrähmt hinter recht unverfänglichen Namen. Benamst und als historische Einmaligkeit abgeheftet, wird das Grauen zum überwundenen Ereignis: hey, das ist Geschichte und kommt so nie wieder vor, während Krieg, Hunger, Not allgegenwärtig und unvergänglich bleiben. Dazu gehört auch das eigentlich Unvorstellbare, so wie Edmund hoffte, es möge ein Arbeitslager sein, um sich nicht ein Konzentrationslager vorzustellen, war er viel zu naiv für diese Realität.

      "Vernichtungslager.", nannte sie es. Sie war dort gewesen, hatte es überlebt, nicht ihre drei Kinder, nicht ihr Ehemann. Sie war zurück gekommen, heimgekehrt in die dürftige Holzhütte, die sie einst mit ihrer Familie bewohnt hatte. Weit ab vom Dorf lebte sie nunmehr ganz alleine mit ihren Erinnerungen. Nur Edmund kam ab und zu vorbei und brachte die Post. Ehedem hatte er sie bedrängt, sie solle gehen, samt ihrer Familie flüchten. Ungefähr als Hans, der Bürgermeister, ihn ins Verderben schicken wollte, hatte er sie gewarnt, auch Zigeuner seien nicht mehr sicher. Sie aber hatte abgewunken, so weit ab könne sich niemand an ihnen stören, und außerdem, wo hätten sie hin sollen, sie waren doch längst weit ab.

      Edmund schätzte sie, auch wegen ihren Marmeladen, die sie großzügig teilte, aber die wenige Post brachte er nun nicht mehr gerne. Vormals hatte er stets ausgiebig mit ihr geplaudert, er war der Briefträger und gleichsam ein Bote mit Neuigkeiten aus dem Dorf. Aber jetzt erzählte sie dem Postboten vom Tod der Lebenden im Vernichtungslager, sie hielten ein Schwätzchen vor der Tür über das erlebte Grauen. Mochte sie ihm längst nicht alles erzählen, doch selbst die spärlichen Einblicke konnte er kaum aushalten. Von dem was Endlösung genannt worden war, hatte Edmund noch keine einzige Fotographie gesehen, geschweige laufende Bilder, allein vor ihren Worten wollte er die Augen schließen.

      Auch sonst im Dorf blieben die Augen fest verschlossen, niemand wollte darüber reden. Schien der Jubel von vor dem Krieg abgeklungen oder wurde mühsam zurück gehalten: "Jupaidei, Menschen als minderwertig ausgemacht, sodann gekennzeichnet, abgeführt und abtransportiert, anschließend millionenfach vergast, das ist eine bürokratische Weltmeisterleistung! Das schafft nur eine Herrenrasse!"

      Die Holocaust ist Geschichte. Der Wahn der Überlegenheit ist lebendig geblieben.