Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels

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Название Mathildas Buch
Автор произведения Gudrun Elisabeth Bartels
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748599401



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      Die Stimme der Großmutter, die sie zum Essen rief, holte sie aus ihrem Schwebezustand. Als sie sich aufsetzte, merkte sie, dass ihre Hände die ganze Zeit das Geschichtenbuch gehalten hatten. Der Umschlag war warm und weich geworden durch die intensive Berührung. Behutsam legte sie es beiseite, wickelte sich aus der Decke, in die sie sich eingehüllt hatte und stand auf.

      Lesen würde sie später darin und Bekanntschaft mit der unbekannten Emilia schließen. Und all den anderen.

      *

      Nach dem Mittagessen, das für Marissa mit einer mächtigen Portion Roter Grütze mit Vanillesauce endete, zog sich Emilia für einen ausgiebigen Mittagschlaf zurück in ihr Zimmer. Marissa war nicht müde. Gerne wäre sie hinausgegangen aber er regnete immer noch recht stark. Versuchsweise öffnete sie die Hintertür und blickte über die Terrasse hin in den Garten, der sich unter der Regenmenge duckte. Bäume und Sträucher waren hinter einem großen Tropfenvorhang versteckt. Irgendwie schienen sich die Pflanzen aneinander zu lehnen um sich gegenseitig Schutz zu bieten. Die Luft roch würzig und frisch und es tat gut, davon einen tiefen Atemzug zu nehmen. Am Meer würde es sicher richtig spannend sein. Marissa stellte sich die graue See mit hohen Wellentürmen vor, die sich gegenseitig überschwappten. Sie spürte beinahe die Nässe von Regen und Meeresgischt auf dem Gesicht und war drauf und dran, sich dahin aufzumachen. „Was meinst du Teo“, fragte sie den Kater, der neugierig seine Schnauze durch die offene Tür gesteckte. In dem Moment wehte eine Böe Regen zu ihnen herüber, sodass beide von der Tropfendusche getroffen, zurückwichen. Der Kater maunzte empört, zog den Schwanz ein und verschwand in Richtung Korb, wo er sofort das Wasser von sich leckte. Marissa lachte. „Na – ist wohl doch keine so gute Idee.“ Sie schloss ergeben die Tür und blickte unschlüssig um sich. „Und nun?“ Die Frage galt eher ihr selber als dem Kater und eigentlich wusste sie die Antwort. Es zog sie auf das Sofa – hin zu dem schmutzig-grünen Buch, das dort lag und darauf wartete, gelesen zu werden. Jetzt war die Gelegenheit. Aber sie zögerte. Irgendwie war da eine Scheu in ihr, die Seiten aufzuschlagen und das zu lesen, was ihre Ur-Großmutter vor vielen Jahren ihnen anvertraut hatte.

      Aber natürlich war sie neugierig. Und die Großmutter wollte ihr damit etwas sagen, ihr helfen zu verstehen, wie alles gekommen war, wie es jetzt war und was daraus noch entstehen konnte. Vielleicht, das war die Hoffnung, die sich in ihr regte, würde es ihr helfen, den Weg zu finden, der sie zu sich selber führte. Zu der Marissa, die sie wirklich war.

      Um ihrer Aufregung Herr zu werden, setzte sie Wasser auf und füllte sich aus der Teedose mit dem japanischen Muster grünen Tee in die kleine Teekanne, die sie immer im Gebrauch hatte, wenn sie hier zu Besuch war. Während sie das Wasser abkühlen ließ, stellte sie schon die passende Tasse zur Kanne auf den Tisch neben dem Sofa, goss dann den Tee auf. Zwei Minuten später ging sie mit der Kanne in der Hand in die Wohnstube, schenkte sich Tee ein und ließ sich dann einwickelt in die warme Decke in der Sofaecke nieder.

      Das Geschichtenbuch lag neben ihr und blickte sie auffordern an. Als sie es aufnahm, vergewisserte sie sich mit einem Blick zu den Ahnen auf dem Kaminsims, das es in Ordnung war. Es konnte Einbildung sein, aber sie hatte den Eindruck, Urgroßmutter Mathilda lächelte ihr zu.

      *

      Emilia

      Die kleine Emilia war ein pummeliges Kind, unförmig und irgendwie zu kurz geraten. Anscheinend glaubte die Natur, diesen Mangel dadurch ausgleichen zu müssen, dass sie dem Körper des Mädchens dafür mehr Breite als Höhe zugestand.

      Emilia fand das solange in Ordnung bis sie merkte, dass sie scheinbar von anderen Leuten als komisches Etwas wahrgenommen wurde, über das man lachte und Witze machte. „Da ist sie ja wieder unsere kleine Kugelmamsell“, hieß es da oder auch: „Achtung, die Schussbombe ist im Anmarsch!“

      Anfangs hatte Emilia mitgelacht weil sie nicht verstand, dass man sich auf ihre Kosten lustig machte – bis sie mitbekam, wie ihre Mutter sich mit einer Nachbarin darüber mit mühsam unterdrückten Zorn ausließ. Sie hatte zwar ihre Stimme zurückgenommen, damit Emilia sie nicht hörte, aber Emilia hatte ein überdurchschnittlich gutes Gehör und überdies die Fähigkeit zu erspüren, wann es wichtig war, genau hinzuhören. Das sollte ihr oftmals zum Vorteil gereichen, aber es gab auch Situationen, wo sie sich wünschte, nicht alles so genau mitzubekommen. In denen sie es als Gnade empfunden hätte, wenn ihre Ohren taub gewesen wären oder zumindest weniger empfindsam.

      Doch anfangs war sie sehr glücklich als ihr immer wieder gesagt wurde, welch feines, musikalisches Gehör sie hätte. Das Lob tat ihr gut und die Begeisterung, die ihre Singstimme bei ihren Zuhörern hervorrief, ließ sie innerlich erstrahlen. Es tat ihrer Seele gut bewundert zu werden, nachdem sie so viele Schmähungen aufgrund ihres Äußeren hatte erfahren müssen. Das war wie eine Wiedergutmachung für die bösen Worte vormals.

      Wenn sie sang, war sie der glücklichste Mensch auf der Welt. Dann vergaß sie alles um sich herum, alle Ängste und Sorgen waren verschwunden und sie fühlte sich leicht und frei. Auch in den schlimmsten Zeiten, war es der Gesang, der ihr darüber hinweghalf und sie für eine kleine Weile in eine Welt entführte, wo alles gut war und schön. Und nicht nur ihr half es über die graue Wirklichkeit zu schweben, auch ihren Zuhörern konnte sie so etwas Freiheit vom Leid verschaffen. Dieses Wissen machte sie unendlich dankbar und demütig gegenüber dieser wunderbaren Gabe, die ihr durch die große Macht des Himmels zuteil geworden war.

      Das erste Mal als sie ein Stück von diesem Glück erfuhr, war während einer Schulfeier, bei der sie für die in den Krieg ziehenden Soldaten ein Volkslied singen durfte. Im großen Saal der Schule waren Lehrer, Eltern und Schüler zusammengekommen. Alles war festlich geschmückt mit Fahnen, Girlanden und Blumen. Die Girlanden und Blumen gefielen Emilia sehr, doch die Fahnen mit diesem großen, schwarzen Kreuz darauf, machten ihr Angst. Doch daran dachte sie nicht als sie sich auf das Podium stellte und der Musiklehrer das sehr gebrauchte Klavier mit mächtigen Griffen bespielte. Ihr feines Gehör litt, wenn er daneben griff und die ohnehin verstimmten Tasten verwechselte. Aber er war alt und fast blind und konnte kaum noch seine Finger erkennen, geschweige denn weiße und schwarze Tasten unterscheiden. Aber er spielte mit Enthusiasmus und Herzblut, was sich auf die kleine Sängerin übertrug, die mit kräftiger Stimme ihr Lied sang. Von Nervosität war ihr nichts anzumerken als ihre Töne zu den Menschen im Saal flogen. Sie war schon ruhig als sie wenigen Stufen zur Bühne hinaufsieg und sich neben das Klavier stellte. Sie fühlte sich sehr sicher und wusste, dass alles gut gehen würde. Und sie wusste, dass sie hübsch aussah, trotz ihres Umfanges und der wenigen Körpergröße.

      Ihre Mutter Mathilda hatte am Morgen ihre dichte Haarfülle zu einem festen Zopf geflochten, der ihr auf den Rücken fiel und sie trug das Kleid, das diese ihr zum sechsten Geburtstag genäht hatte. Dafür hatte die Mutter eines ihre alten Kleider geändert und für Emilia ein richtiges Prinzessinnenkleid geschneidert.

      Es war knielang und am Saum und den halblangen Ärmeln mit weißer Spitze verziert, der dunkelblaue Stoff schimmerte samtig und fiel leicht am Körper herab, sodass das Kleid bei jedem Schritt duftig hin und herschwang. Das schönste aber war, fand Emilia, die Schärpe, die auf dem Rücken zusammenlief und dort wie eine kleine Schleppe hinunterfiel. Ihre gebrauchten Schuhe hatten Mutter und Tochter solange geputzt bis sie glänzten und fast wie neu aussahen. Dass sie an den Hacken bereits abgeschabt waren und sich die Sohle unterm rechten Fuß schon leicht zu lösen begann, fiel gar nicht auf.

      Mathilda betrachtete bewundernd ihre Tochter wie sie da so herausgeputzt vor ihr stand und eine Welle von Herzensrührung floss aus ihr heraus hin zu der Tochter, die sie überschwänglich an sich drückte. „Du bist die schönste Prinzessin, die ich kenne und die mit der wundervollsten Stimme.“

      Emilia wurde rot vor Freude und strahlte über das ganze Gesicht. Selbst ihr großer Bruder Nikolas, musste zugeben: „ Ja – sieht ganz gut aus.“ Dann puffte er der Schwester kumpelhaft in die Seite.

      Als er später neben der Mutter im Publikum saß und zur Bühne blickte, wo Emilia auftrat, richtete er sich stolz geschwellt auf und auch Mathilda straffte unwillkürlich den Rücken als sie ihre Tochter nach vorne treten sah. Ihr Herz klopfte laut vor