Название | Mathildas Buch |
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Автор произведения | Gudrun Elisabeth Bartels |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783748599401 |
Erst als sie endlich am Kai stand, die Fähre zur Insel vor sich sah, den frischen Seewind an ihren Haaren ziehen spürte, fühlte sie sich wacher. Die Zeit an Bord verbrachte sie ganz oben an Deck, obwohl der Wind da besonders zog und zerrte. Marissa blickte nach vorne über das Wasser, spähte zur Insel hin, die langsam immer näher kam und sie anzog wie ein Magnet. Sie kostete das Anlegemanöver bis zum Schluss aus und ging dann als letzte von Bord.
*
Dr. Schmidtmann kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen und schüttelte die ihre kraftvoll. Seine Augen suchten in ihrem Gesicht nach einer Reaktion als er sie herzlich begrüßte: „Schön, dass du gekommen bist.“
Marissa nickte nur leicht, mied den direkten Blickkontakt. Der Arzt ließ sich davon nicht irritieren und sprach weiter. „Du hast dich scheinbar erholt. Ich würde aber gerne noch ein wenig mit dir sprechen, hören wie es dir geht.“
Seine Stimme klang freundlich und ehrlich. Marissa spürte wie sich in ihr etwas löste. „Danke. Mir geht es gut.“
„Ich kenne dich ja gar nicht. Erzähl mir, was du so machst. Ich glaube, du studierst?“ Er ermutigte sie geduldig zur Offenheit. Lehnte sich in seinem Sessel zurück und grinste sie an. „Eine künftige Kollegin vielleicht?“
„Nicht Humanmedizin. Veterinärmedizin – 3.Semester.“
„Also eine Tierfreundin. Schön, spannend. Wie kam es dazu?“ Dr. Schmidtmann fragte nach, wollte immer mehr wissen. Und mit einem Mal hörte sich Marissa reden. Irgendwie öffnete sich ein Ventil in ihr, das Worte herausließ, die sich selbst nachliefen, immer schneller wurden, sich gegenseitig überholten bis sie ganz atemlos waren und drohten sich zu verzetteln. Die Begeisterung riss sie mit sich, schickte eine warmglühende Farbe auf ihr Gesicht und Bewegung in ihren Körper. Der Arzt sah und hörte das Gesagte und hörte und spürte noch viel mehr. „Du bist ja die geborene Rednerin“, warf er ein als Marissa schließlich langsamer wurde und die Worte nur noch vereinzelt hervorquollen. „Und scheinbar mit dem Tiermedizinvirus infiziert. Du wirst sicher eine wundervolle Tierärztin.“ Das sagte er schlicht und überzeugend, sodass es Marissa heiß im Gesicht brannte. „Leider habe ich jetzt nicht mehr Zeit, aber wir können gerne einen weiteren Termin ausmachen, damit ich noch mehr höre. Wie lange wirst du noch hier sein?“
Darüber hatte sich Marissa bisher keine Gedanken gemacht. Sie wollte nur an das Jetzt denken, das Hiersein genießen, mit allen Symptomen, die sich bemerkbar machten. Wollte das Meer inhalieren, die Luft trinken und den Sand schmecken. Die Insel erkunden, mit der Großmutter zusammen sein, reden und schlafen, Teo kraulen, Sonne tanken und frei sein.
„So lange es geht“, sagte sie jetzt und ging dann aus der Praxis mit einem Gefühl etwas gefunden zu haben.
Beim Eis essen mit der Großmutter war sie gelöst und gut gelaunt, lächelte manchmal still vor sich hin, redete dann wieder munter drauflos und löffelte genussvoll die kalte Süße voller Schokoladen-Himbeer-Vanille-Sahne-Seligkeit.
Emilia sah ihr belustig dabei zu: „Ich hoffe nur, dass ich dich nicht als nächstes von einem verdorbenen Magen kurieren muss.“
„Ach, nein, Oma. Jetzt ist es genug mit dem Kranksein. Ich möchte noch viel unternehmen…“ Marissa leckte genießerisch am Schokoladeneis auf ihrem Löffel, „…und“, setzte sie hinzu, „ansonsten gibt es ja Dr. Schmidtmann.“
„Der hat es dir wohl angetan“, mutmaßte Emilia.
„Ja, er ist sehr nett. Ich werde nochmal zu ihm in der Sprechstunde gehen. Er möchte noch einiges wissen.“ Sie tauchte ihren Löffel tief in die Eismasse. Emilia sah sie von der Seite an, wollte nicht denken, was sie dachte. Sie würde wachsam sein. Sehen und lauschen.
*
Eine beschwingte Energie durchfloss mit einem Mal die Tage und belebte den Rhythmus des Hauses. Kater Teo schaute mitunter irritiert der schnellen Marissa hinterher, die mit gesundem Knöchel und heilem Körper durch Räume und Garten lief, über den Dünenweg zum Strand eilte und erst Stunden später sonnendurchwärmt und wassergetaucht wieder erschien. Oft schwang sie sich auf das alte Fahrrad ihres Großvaters und erkundete damit alle Winkel der Insel, die sie ausfindig machen konnte. Erzählte dann abends glühend von den Eindrücken. Den stillen und den ungewöhnlichen. Von Beobachtungen des alltäglichen Lebens auf der Insel. Und manchmal erwähnte sie auch den Arzt, zu dem sie immer wieder in die Praxis ging. Emilia konnte sich nicht klar darüber werden, was sie davon halten sollte. Als sie Marissa fragte, was bei den Terminen so vor sich ging, sagte diese nur: „Wir reden. Ich rede.“
Augenscheinlich tat ihr dieses Reden gut, dennoch bestand Emilia eines Tages darauf, mitzukommen. Marissa fühlte sich sichtbar unbehaglich dabei und wollte keines Falls mit ihr zusammen ins Sprechzimmer gehen.
Timo Schmidtmann war überrascht statt Marissa, Emilia eintreten zu sehen. „Geht es dir nicht gut“, fragte er. „Geht es Marissa nicht gut?“
„Uns geht es beiden gut“, beruhigte Emilia. „Ich möchte nur etwas wissen.“ Die Art, in der sie das sagte, machte den Arzt beklommen, doch er atmete dagegen an. „Marissa ist doch wieder gesund, warum soll sie dann so oft herkommen. Sie sagt, ihr redet. Wie kann ich das verstehen?“
Timo Schmidtmann fühlte sich irgendwie ertappt. Die Frage hatte in ihm das angesprochen, was er sich selber fragte. Die Frage nach der Berechtigung für diese Gespräche. Er war Allgemeinmediziner, kein Psychotherapeut. Er war in erster Linie für die körperlichen Beschwerden seiner Patienten zuständig, für Psyche und Seele waren andere da. Obwohl das eine vom anderen manchmal nicht so einfach zu trennen war. Recht erklären konnte er sich aber nicht, was ihn dazu gebracht hatte, Marissa diese Gesprächstermine vorzuschlagen. Er hatte wohl instinktiv geahnt, dass es für sie wichtig war, sich einiges von der Seele zu reden. Merkte an ihrer fortschreitenden Lockerheit, dass es ihr gut tat. Und merkte auch, dass es ihm gut tat. Dass er sich auf diese Termine freute. Vielleicht zu sehr. Er wusste um die Gefahr, die persönliche Gespräche für beiden Seiten in sich trug, von Gefühlen, die unwillkürlich auftauchen. Soviel hatte er von Psychologie im Studium mitbekommen. Das war aber auch das reizvolle daran und die Entdeckung einer neuen Welt in der Persönlichkeit des anderen. Und damit auch in sich selbst.
Emilia wartete auf eine Antwort. „Ich verstehe auf was deine Frage zielt“, sagte er schließlich. „Und ich muss sagen, ich bin dir dankbar. Wir reden, das ist richtig. Das heißt, meist ist es Marissa, die auf meine Fragen und Anregungen eingeht und dabei Dinge anspricht, die sie bewegen. Ich habe das Gefühl, dass es ihr gut tut, ihr ein Bedürfnis ist. Und doch – natürlich ist es von meiner Seite eine Kompetenzüberschreitung. Ich weiß, dass sie bei einem Therapeuten besser beraten wäre und möchte ihr für die Zukunft auch empfehlen, sich an einen qualifizierten Kollegen oder Kollegin zu wenden. Ich spüre da etwas in deiner Enkelin, dass sich klären muss. Und wahrscheinlich braucht sie dabei Unterstützung. Ich wollte ihr mit meinem Angebot zeigen, dass es möglich ist, dass sie Hilfe haben kann und sie annehmen sollte, wenn sie sich ihr darbietet. Mehr sollte es nicht sein.“
Timo Schmidtmann blickte Emilia offen an. Diese nickte. „Ich weiß, dass du es gut meinst. Und ich denke auch, dass sie Hilfe braucht. Sie ist ein empfindsames Wesen, das schon viel durchlebt hat. In ihrer und somit meiner Familie ist viel Leid und Unglück gewesen. Viele liebe Menschen sind vorzeitig von uns gegangen. In der weit zurückliegenden Vergangenheit aber auch in der jüngsten.“ Emilia hielt inne, schluckte an einem Kloß in ihrem Hals und an einem Brennen hinter den Augen.
„Ich weiß, dein Mann…“
Emilia schüttelte den Kopf. „Nicht nur. Julius ist friedlich eingeschlafen. Meine Trauer um ihn ist ruhig. Nein. Ich hatte noch eine Enkeltochter. Sandrina. Marissas Schwester. Sie ist letztes Jahr gestorben…“ Ihr