Название | Mathildas Buch |
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Автор произведения | Gudrun Elisabeth Bartels |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783748599401 |
Marissa hob ihren Kopf und richtete sich auf. „Mit wem sprichst du denn da?“ fragte sie verwundert ihre Großmutter und schaute sich suchend um.
„Oh, habe ich laut gesprochen?“ Emilia lachte verhalten. „Sieh dort auf dem Kaminsims. Unsere Verwandten. Alte und junge. Alles Ahnen der Familie.“
Sie stand auf und trat zu den alten Herrschaften, die auf den Bildern fast durchwegs noch jung und gutaussehend waren. Manche schauten sehr streng, hatten sich für die Fotografie extra steif und gerade in Pose gestellt. Einige lächelten vorsichtig, wirkten aber auch sehr unbeweglich vor der Linse des Fotografen. Irgendwie ähnelten sie sich alle in ihrer Haltung und dem Ausdruck.
Auffallend war eine bemerkenswert hübsche junge Frau mit schwarzen, strengzurückgenommen Haaren, gerader Nase und hohen Wangenknochen. Ihre Augen blitzen vergnügt und ungeniert in diejenigen ihres gegenüber als ob sie sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen konnte. Marissa sah sie sich lange an, nahm die Fotografie dann vorsichtig vom Sims. „Sie war bestimmt nett und lustig. Ich hätte sie gemocht!“
„Ja, sicher“, nickte Emilia. „Das ist meine Mutter, deine Urgroßmutter. Sie hieß Mathilda und war als junges Mädchen sehr lebenslustig. Aber das Foto hast du doch schon mal gesehen und die anderen auch, nicht wahr?“
Marissa zuckte mit den Schultern. „Nur mal so, nicht wirklich.“
„Na ja, was interessiert ein junges Ding wie du auch die Vergangenheit.“ Emilia nahm das Foto ihrer Mutter sanft in die Hände und strich den Staub vom Rahmen. „Ich habe mich früher auch nicht viel darum gekümmert, aber alle diese Personen gehören zu uns. Sie sind ein Teil unserer Identität und haben uns viel von sich in unser Leben mitgegeben. Gutes und weniges Gutes. Schönes und Hässliches. Geschichten und Erinnerungen.“
„Ja, ich weiß.“ Marissa blickte von einem Bild zum nächsten, sah allen Verwandten in die Augen, suchte nach Gemeinsamkeiten und Erkennen. Dabei mied sie ein Foto, versuchte ihm auszuweichen, darüber hinwegzugleiten mit raschen Blick. Doch es haftete in ihren Augenwinkeln und wollte genauso wie die anderen ihre Aufmerksamkeit.
Emilia spürte, wie schwer es ihrer Enkelin fiel, dieses Foto anzusehen. Doch sie würde es irgendwann tun müssen. Also warum nicht gleich. Sie nahm es vom Sims, wo es zwischen den Schwarzweißfotografien als einzige Farbaufnahme wie ein bunter Vogel herumflatterte.
Es zeigte zwei Mädchen von etwa 10 und 12 Jahren. Eine blond, eine etwas dunkelhaariger, die eine etwas größer als die andere, die dafür das weichere, sanftere Gesicht hatte. Sie lächelte wie eine Märchenfee über den Bildrand hinaus, schien gar nichts wahrzunehmen, was um sie war und schwebte scheinbar traumverloren vor sich hin. Ihre langen hellen Engelhaare fielen ihr in weichen Wellen auf die Schulter und kringelten sich anmutig an den Spitzen. Das größere Mädchen neben ihr stand aufrecht da, von der Haltung her ungeduldig, wann sie wieder davonrennen könne. Ihre Haare waren kürzer und wilder als die ihrer Schwester und schienen wahllos drauflos zuwachsen. Ihre Augen blickten unverwandt in die Kamera, geradeaus und direkt. Fordernd.
Dennoch sahen sich beide Mädchen sehr ähnlich. Irgendwie hatte man den Eindruck, dass sich beide bemühten, sich so gut es eben ging, von der anderen zu unterscheiden und abzusetzen. Es war als lebten sie beide in unterschiedlichen Welten, auch wenn sie zweifelsohne aus derselben Quelle entsprungen waren.
„Ihr beide“, sagte Emilia leise. „Issa und Ina…“ Sie hielt das Bild vorsichtig der Enkelin hin, die erst eine abweisende Bewegung machte, doch schließlich nahm sie es entgegen. Hielt es lange wortlos mit angehaltenem Atem und zugeschnürter Kehle. Emilia sah die verkrampften Hände, die das Bild hielten, und den einsamen Tränentropfen, der auf das Glas fiel und schließlich langsam daran hinunterrann. Sie ließ den Schwestern Zeit für sich, wartete ob eine von ihnen sprechen wollte. Doch sie blieben still. Alle. Die beiden auf dem Foto. Die eine alleine hier auf dem Sofa. Sie würden miteinander reden, das spürte sie. Nur nicht jetzt. Nicht hier. Es war gut für den Augenblick, genug für die Enkelin, die nach einer Weile still mit dem Bild in der Hand aufstand und es zurückstellte zu den Ahnen. Ihr Gesicht war ruhig als sie sich zur Großmutter umwandte und ihr leicht entgegenlächelte.
Erleichtert lächelte Emilia zurück. Sie war sich sicher, dass jetzt der richtige Moment war. „Ich würde dir gerne etwas geben“, sagte sie hin zu Marissa, die ihre Großmutter dann neugierig beobachtete, wie diese zum Schrank mit den alten Schätzen ging und dort die Schublade ganz unten aufzog. Sie musste sich tief bücken, was ihr merkbar schwerfiel, aber sie lehnte Marissas Hilfe ab. „Nein – es geht schon. Ich will es dir selber geben.“ Endlich erhob sie sich mühsam. In der Hand hielt sie eine Schachtel mit goldenen Emblemen verziert, die diese als ehemalige Pralinenschachtel enttarnten. Emilia schüttelte gleich den Kopf als sie merkte, dass Marissa etwas Süßes erwartete. „Nichts zum Naschen“, lachte sie. „Etwas für das Erinnern und für das Ich. – Komm, setz dich.“ Sie klopfte auf die Polster neben sich auf dem Sofa, auf das sie sich schwer atmen hatte fallen lassen. „Ich zeig dir jetzt etwas.“ Sie nahm den Deckel von der Schachtel und einen Packen zusammengebundener Briefumschläge heraus. Diese hielte sie sekundenlang fest, bevor sie sie zur Seite legte. „Nein – erst das hier“, meinte sie und griff nach einem dicken, stark abgegriffenen Buch. „Die Aufzeichnungen meiner Mutter“, sagte sie mehr zu sich als zu ihrer Enkelin. „Während des Krieges hat sie darin alles festgehalten, was sie erlebt und bewegt hat. Geschichten von uns allen, unserer Evakuierung… Da drinnen stehen ein paar Dinge, die so niemand weiß. Aber auch Daten und Fakten von Zeiten, die ich nicht gerne erinnere…“ Sie hielt die Luft an bevor sie weitersprach: „…ich möchte, dass du es liest. Vielleicht kann es dir helfen, einiges besser zu verstehen.“
Auch Marissa hielt jetzt die Luft an. “Bist du sicher? Das ist doch sehr persönlich. Du kannst es mir doch auch erzählen.“
Emilia schüttelte den Kopf. „Nein. Erst habe ich es vorgehabt. Aber ich kann das nicht. Ich war noch nie eine große Erzählerin. Nein – lies es nur. Ich möchte es. Und diese hier“, sie zeigte auf den Packen Briefe, „die haben dann noch Zeit bis später.“
Marissa hielt das Buch unsicher in der Hand, fuhr mit den Fingerspitzen leicht über den fleckigen über die Jahre mitgenommenen Einband, versuchte dem nachzuspüren, was darin enthalten war.
Sie schaute zu der alten Frau hinüber, die in die Küche gegangen war um das Mittagessen vorzubereiten und blickte dann wieder auf das Buch. Was hatten dieses und die graugewordene Frau gemeinsam? Für sie war die Großmutter immer Oma gewesen. Natürlich kannte sie ihren Vornamen, wusste, dass Emilia einmal jung gewesen war, ein Kind - aber irgendwie schien es unmöglich die Vorstellung mit der Oma in Verbindung zu bringen. Als wären sie zwei verschiedene Personen. Möglich, dass es tatsächlich so war. Eine junge und eine alte Emilia. Und doch gehörten sie zusammen, die eine konnte nicht ohne die andere existieren. Wie seltsam, dass eine Person so viel sein konnte. Sich äußerlich und innerlich wandeln und dennoch immer dieselbe blieb. Ein Mysterium von unendlicher Weite. Alles war eins und gehörte zusammen. Werden und Vergehen. Blühen und Verwelken. Freude und Trauer. Licht und Dunkel. Tag und Nacht. Vergangenheit und Gegenwart. Ich und Du. Träumen und Wachen. Liebe und Schatten. Ebbe und Flut…
Sie, Marissa, war auch mehr als nur eine Person. Das spürte sie in diesen Tagen nur zu deutlich. Manchmal war es für sie mehr als schwierig damit zu Recht zu kommen, sich auf den Anteil ihres Charakters einzulassen, der gerade in den Vordergrund drängte, beachtet werden wollte, obwohl sie selber diesen in dem Moment nicht gerne begegnen wollte. Aber scheinbar hatten alle ihre Ich-Anteile ein Eigenleben, wollten gelebt und gespürt werden. Vielleicht war es am einfachsten, das hinzunehmen, sich nicht dagegen zu sträuben. Schließlich war letztlich ja alles sie.
Der Gedanke beruhigte sie auf eigentümliche Weise. Befreite sie von einem Druck in ihrem Inneren. Sie lehnte sich tiefer in die Polster des Sofas und spürte wie sich ihre Verspannung löste, die Muskeln locker wurden und ihr Kopf frei. Sie hörte auf das starke Prasseln des Regens, der von draußen gewaltig gegen die Fenster klopfte. Es klang fast wie das Rauschen des Meeres. Und das ewige Kommen und Gehen der Wellen. Das Geräusch lullte sie ein und sie sank in einen Zustand zwischen Schlafen